Lucien war am Montag nicht ganz auf der Höhe, als er in der Schule ankam. Die Medikamente, die ihm das Schlafen erleichtern sollten, hatten in der vergangenen Nacht weniger gut gewirkt und so hatte er sich, von Kopfschmerzen geplagt, mehr herumgewälzt als wirklich geschlafen. Er war bereits lange wach, bevor sein Wecker losging und hatte kalt geduscht, um die bleierne Müdigkeit loszuwerden.
Natürlich wusste er, dass er auch hätte daheim bleiben können. In der Schule galt er aufgrund des Attests vom Onkologen automatisch als entschuldigt, wenn er nicht erschien, und musste nicht jedes Mal ein neues bringen. Die pro forma-Entschuldigungen, die Mathieu für seine Papiere haben wollte hingegen, die musste er trotzdem ausfüllen.
Und so sehr Lucien es liebte, den Schulsprecher zu ärgern, darauf hatte er keine Lust. Und auch nicht, zuhause allein zu sein, denn seine Mutter ging natürlich ebenfalls arbeiten.
So schlich er mit mörderischer Laune über den Hof, missachtete die um ihn herumtollenden Schüler der jüngeren Jahrgänge und betrat das Gebäude, um mitten hineinzugeraten in eine Menschentraube, die ihn bremste.
Knurrend versuchte er, sich aus dieser zu befreien, um sich noch irgendwo einen Moment hinzusetzen, als er Etiennes Stimme hörte und sich zu diesem umdrehte.
»Oh Schreck, du siehst fürchterlich aus«, war das erste, was der hochgewachsene Junge sagte, als der Rothaarige sich zu ihm durchgeschlagen hatte.
»Danke. Dir auch einen guten Morgen«, knurrte Lucien.
»Geht’ es dir gut? Du siehst nicht so aus ...«
»Bleibt abzuwarten. Ich bin todmüde, voll mit Schmerzmitteln und hab vom Duschen immer noch kalte Füße ...« Der Jugendliche schaute sich um. Sie standen am Rand und vor dem schwarzen Brett der Schule drängten sich ihre Mitschüler.
»Was geht hier eigentlich ab?«, murmelte Lucien und reckte das Kinn in die Richtung.
»Ein Aushang. Für unseren Jahrgang steht ein Zeltausflug an, übers Wochenende, von Donnerstag bis Dienstagfrüh. Mehr hab ich selbst noch nicht lesen können. Aber der Diskussion nach hat die Sache einen Haken.«
Lucien ließ die grauen Augen durch den Flur wandern und brummte, als er den blonden Mathieu ausmachen konnte, der gerade versuchte, sich möglichst unauffällig durchzuschmuggeln. Der rothaarige Junge packte den Schulsprecher rasch am Arm, bevor dieser entschwinden konnte.
»Na, Grantaine. Du wirkst so schuldbewusst. Klär’ uns mal über den Aushang auf«, murmelte Lucien leise und machte einen Schritt auf ihn zu.
Mathieu zog eine Augenbraue hoch und bemerkte, dass der Andere ihm so nah war, dass er dessen Kaugummi riechen konnte. Er duftete nach Zimt. Der Junge räusperte sich und blickte zwischen seinen beiden Mitschülern hin und her.
»Warum sollte ich schuldbewusst sein? Ich will nur nicht alles hundert Mal erklären.«
»Dann erklär’ es einmal. Und zwar uns. Das reicht doch.«
Der Schulsprecher seufzte und rieb sich über den Hinterkopf. »Ich wusste, dass es Zwist geben würde ... also ... die Schulleitung will uns und dem zehnten Jahrgang einen Zeltausflug in die Berge spendieren. Mit Wandern und Survivalkram und so. Aber nicht alle dürfen mit. Die Anzahl der Plätze ist begrenzt. Jeder kann sich anmelden, der mitfahren will, aber die Lehrer suchen aus, wer mit darf. Wer in ihren Augen Stoff nachzuholen hat oder sich nicht leisten kann, ein paar Tage zu fehlen, der bleibt hier und bekommt Förderunterricht.«
Lucien nickte. »Du fährst natürlich als königlicher Aufpasser mit, nicht?«
Mathieu lächelte schief und zuckte mit den Schultern. »Ich will gar nicht ... aber ja, ich muss mit.«
»Ist das dann die Klassenfahrt für dieses Jahr?« Etienne, der zwar vom Land kam, aber null auf Camping stand, sah zweifelnd aus.
Der Schulsprecher schüttelte den Kopf. »Nein. Die ist aber erst zum Ende des zweiten Trimesters geplant, im Frühjahr, wie sonst auch.«
Lucien zuckte salopp mit den Schultern. »Sollen sie sich doch um die Plätze kloppen. Ich hab gar keine Lust auf Wandern und Herumkrauchen. Und auf pennen im Zelt ... pff ... nein, danke. Außerdem wird es wunderbar sein, dich mal drei Tage nicht zu sehen, Grantaine.« Der Rothaarige lachte leise.
»Charmant, wie immer«, fauchte Mathieu, worauf Lucien ihm keck zuzwinkerte und grinste. Er schnappte sich Etiennes Arm und zog mit seinem Kumpel von dannen, während der Schulsprecher einen Moment perplex dastand, ein komisches Gefühl in seiner Brust, von dem er nicht wusste, wo es auf einmal hergekommen war.
Unwirsch schüttelte Mathieu den Kopf und setzte seinen Weg fort, bevor er mit noch mehr Fragen bestürmt werden würde.
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»Maman!«, rief der Rothaarige, als seine Mutter am Abend mit ihm zusammen beim Essen saß. Sie hatte ihm gerade eröffnet, dass sie ihn für den Ausflug angemeldet hatte und dass er, sicher aufgrund seines Zustandes, in die Reihe derer aufgenommen worden war, die mitfahren durften. Wäre er gesund, hätten sie ihn in einen der Förderkurse gesteckt, immerhin waren seine Noten in Mathe nicht gerade rekordverdächtig.
»Erstens wollte ich gar nicht mit und zweitens ... ich hab keinen Bock auf diesen Behindertenbonus. Die hätten mich sonst nie mitfahren lassen ...« Dem Jugendlichen war der Appetit vergangen und er schob den Teller von sich.
»Ist doch ganz egal, warum sie das tun. Du sollst noch ein bisschen was erleben, deswegen hab ich dich angemeldet. Immer nur in der Schule sitzen ist doch auch nichts, oder? So verbringst du ein paar Tage mit deinen Freunden in den Bergen, ist doch nett.«
»Mit meinen Freunden«, schnaubte Lucien, »Etienne wäre letztes Jahr in Deutsch beinahe durchgefallen und seine Noten in Geschichte sind unterirdisch. Er ist zu schusselig, um sich Daten zu merken. Der darf sicher nicht mit. Mal abgesehen davon, dass er so pingelig ist, dass er das gar nicht wollen würde ... meine Freunde ... da ist sonst niemand. Soll ich fünf Tage mit Mathieu rumhängen? Oder schlimmer noch, vor seiner blöden Schwester davon laufen? Die ist nämlich irgendwie immer überall dabei.«
Der Junge seufzte und ließ sich etwas auf dem Stuhl nach unten rutschen. Er wusste, dass seine Mutter es gut gemeint hatte und sicher wäre es anders gewesen, wenn es nicht gerade ein Campingausflug wäre und sein bester Freund vermutlich in der Stadt bleiben würde.
Muriel schmunzelte vor sich hin. Ihr Sohn hatte schon früher immer einen Aufstand gemacht und hinterher die Dinge genossen, auf die er zuvor keine Lust gehabt hatte.
»Ach, ist die Kleine etwa an dir interessiert? Niedlich.«
Lucien schnaubte so sehr, dass er sich hinterher den Mund abwischen musste, und griff trotzig nach dem Löffel, um doch die duftende Gemüsesuppe zu essen, die seine Mutter gemacht hatte. »Die ist die Pest. Als ob ich so eine Barbie wollen würde. Die hat nur Schaumfestiger im Hirn und zu viele Nagellackdämpfe eingeatmet ...«
Madame Walace lachte leise. »Dein Vater hat früher ähnliche Dinge über mich gesagt und sieh, wohin es uns gebracht hat.«
Lucien spürte, wie die Wärme in seine Wangen stieg. »Glaub’ mir, das würde in diesem Fall nicht passieren. Selbst wenn ich nicht den Löffel abgeben würde, wäre sie die Letzte, die ich wollte. Die könntest du mir auf den Bauch binden, wenn du verstehst, was ich meine.«
Muriel machte ein überraschtes Gesicht. Ihren Sohn von solchen Dingen wie Sexualität reden zu hören, war ihr etwas unangenehm, andererseits wusste sie natürlich, dass er kein kleiner Junge mehr war und dass Jugendliche in seinem Alter sich für diese Dinge interessierten und auch oftmals bereits ausprobierten. Sie räusperte sich.
»Also ... hast du ... ähm ...«
Lucien hob den Kopf und zog eine Augenbraue hoch. »Mit ihr? Nein.«
»Mit wem denn sonst?« Madame Walace machte ein verlegenes Geräusch. Sie wusste, dass es sie eigentlich nichts anging, mit wem er sich traf oder mit wem er ... jedoch hatte er noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht und übernachtete auch nie woanders. Wo hätte er die Gelegenheit haben sollen?
»Mit niemandem, Mum. Ich sterb’ als Jungfrau. Traurig ...«
Die Frau konnte nicht anders, sie seufzte erleichtert, was ihrem Sohn nicht entging.
»Ich hätt’s lieber anders«, murmelte er, was seine Mutter nicken ließ. Es war traurig, so jung zu sein, den Tod vor Augen zu haben und all die aufregenden Erfahrungen, die das Erwachsenwerden mit sich brachte, nicht machen zu können. Sie hoffte jedoch, dass ihn das nicht leichtsinnig werden ließ. Sie wollte nicht, dass er auf Biegen und Brechen versuchte, in seinen letzten Monaten etwas nachzuholen und hinterher enttäuscht war. Muriel wünschte sich für ihn, dass er noch die Gelegenheit bekam, die Liebe kennenzulernen, nicht nur die reine körperliche Lust.
»Gibt es denn jemanden, den du magst? Die kleine Grantaine ja offensichtlich nicht ...«
Lucien schüttelte den Kopf. »Nein. Das sind alles doofe oder total uninteressante Hühner. Ich bin wahrscheinlich zu wählerisch.«
»Wie dein Vater«, schmunzelte Madame Walace, die ihren Mann schon gekannt hatte, als sie in Luciens Alter gewesen waren. Sie hatten sich auch am Lycée kennengelernt.
»Papa hatte aber mehr Zeit, nach der Richtigen zu suchen, oder?«, entgegnete der Rothaarige trocken und nahm sich etwas von dem Baguette. »Na wie auch immer. Ich suche nach gar nichts. Ich will keine Verpflichtungen, ich kann sie eh nicht erfüllen. Ich will ... ich ... ich weiß nicht, was ich will ... Am liebsten nicht darüber nachdenken. Ist doch eh nicht wichtig.«
Seine Mutter sah das anders, doch sie sagte nichts. Wenn er für sich entschied, dass es besser so war, wollte sie ihn nicht unter Druck setzen. Sich zu verlieben konnte man ohnehin nicht erzwingen und oft geschah es genau dann, wenn man am wenigsten damit rechnete, mit einer Person, von der man es nicht erwartet hätte.
»Es war lecker. Ich werd’ ins Bett gehen. Ich hab letzte Nacht nicht viel geschlafen«, Lucien verstaute seinen Teller in der Spülmaschine und verließ mit einem leichten Winken die Küche, während seine Mutter ihm nur nickend nachsah.
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Eine Woche später hatten sich die Lehrer für die Schüler entschieden, die an dem Ausflug teilnehmen durften. Die Freude der einen sowie die Enttäuschung der anderen war groß. Nur Lucien konnte sich nicht freuen.
»Keine Chance, da noch herauszukommen?« Etienne saß mit angezogenen Beinen auf der Bank bei den Fahrrädern. Es war Pause und regnete in Strömen. Der Junge mit dem mausgrauen Haar war wie erwartet nicht unter den Teilnehmern, weil er sich von vornherein nicht dafür angemeldet hatte.
Lucien schüttelte den Kopf und beobachtete das Plätschern in einer Pfütze. »Nope. Mum hat es schon bezahlt. Da müsste ich mir schon ein Bein brechen. Dabei wäre ich lieber hier geblieben. Fünf Tage durchs Unterholz kriechen. Und das, obwohl ich keinen Sport machen darf. Ist das logisch?«
»Fünf Tage Mathieu, viel schlimmer«, lachte Etienne, der selbst eigentlich nichts gegen den Blonden hatte.
Sein Kumpel wandte sich zu ihm um. »Ja. Diese Spaßbremse. Und wer sonst noch dabei ist ... etliche aus der Zehnten. Celeste! Was die da will, ist mir schleierhaft. Die macht sich doch schon ins Hemd, wenn sie einen Schlammspritzer auf ihrem Schuh hat. Ich wusste, dass die dabei ist. Boah.«
Lucien funkelte Etienne an, als der zu lachen anfing. Der Rothaarige hatte ihm natürlich erzählt, was seine Mutter vermutet hatte - dass er, Lucien, sich nur so gegen Mathieus Schwester sperrte, weil er sie insgeheim mochte. Seitdem zog sein Freund ihn noch mehr damit auf. Aber musste Lucien das Mädchen erst vor allen abservieren, damit man ihm glaubte, dass er sie nicht ausstehen konnte?
Der Junge knurrte. »Und sonst ... die ganzen Mädels, vor allem diese Nervige von der Schülerzeitung ... Philippe auch, der findet es bestimmt geil, in Tarnkleidung durch den Wald zu stapfen. Die Zwillinge sind auch dabei, hab ich gelesen. Frag mich, wie sie Luca von seinem Computer wegbekommen wollen. Und wer das Zelt mit Thomas bekommt, hat Technobeschallung gratis.«
»Die schlafen vermutlich eh in einem. Die trennt man doch so leicht nicht, die beiden.«
»Und ich lande beim Oberstreber. Wetten wir? Du spendierst mir einen Nachmittag im Arcade, wenn ich Recht habe.«
Etienne nickte und grinste. »Und du mir einen, wenn nicht ... ich würde lachen, wenn sie die Zwillinge trennen und dich zu Thomas stecken. Der mag doch Jungs«, der Jugendliche lachte. Lucien zuckte mit den Schultern.
Es würde ihm null ausmachen, mit dem schwulen Technofan in einem Zelt zu pennen, solange es nur nicht Mr. Oberkorrekt Grantaine war. Vermutlich würden sie beide sich schon darüber in die Flicken kriegen, wer auf welcher Seite des Zeltes schlafen darf.
»Aber vielleicht machst du dir auch ganz umsonst Sorgen und es gibt so große Armeezelte, wo alle Jungen zusammen drin pennen. Dann viel Spaß bei dem Mief nach feuchten Stiefeln und Käsefüßen. Bin ich froh, dass ich nicht mit muss ... Ich fahre da lieber nach Hause und gehe in den Förderkurs.«
»Du bist mir vielleicht eine Hilfe, Alter«, lachte Lucien leise.
»Immer wieder gern. Das hast du gratis.«
Der Rothaarige wandte sich wieder dem Hof zu, auf dessen Asphalt noch immer der Regen fiel. Es waren nur wenige Schüler draußen und standen unter Schirmen und Vorsprüngen, hauptsächlich, um heimlich zu rauchen, was an französischen Schulen eigentlich streng verboten war. Aber auch Lucien tat es hin und wieder. Irgendwie war das etwas, das zum guten Ton dazu gehörte, wenn man sich etwas von der Masse hervorheben wollte.
Es war schwierig, den Lehrern im Unterricht Paroli zu geben oder aufzumucken, da alles sehr straff geregelt war und ein Miteinander von Schüler und Lehrkraft in den Stunden nur selten vorkam. Der eine redete, die anderen schrieben. So lief das. Da blieb nicht viel Zeit, um groß etwas anderes zu tun.
Also verstieß man gegen die eine oder andere Regel, um den Alltag etwas zu lockern. Lucien atmete tief ein. Es war langweilig und vorhersehbar und er hatte nie gemerkt, wie sehr er das liebte.