Es war mitten in der Nacht, als Lucien hochschreckte. Er sprang auf und verließ auf Socken das Zelt, um sich am Rand der Lichtung zwischen den Bäumen zu erbrechen. Schwitzend und keuchend lehnte er sich anschließend an einen von ihnen und rieb sich über das Gesicht.
Dahin das gute Grillfleisch vom Abend. So ein verdammter Mist.
Er spürte unangenehm, wie die Feuchtigkeit des Untergrundes durch seine Strümpfe sickerte und ging zum Zelt zurück. Er hatte Grantaine sicher geweckt.
Sich die nassen Socken ausziehend trat er wieder ins Zelt, doch niemand sprach ihn an. Er konnte auch niemanden atmen hören. Verwundert schaltete er die kleine Funzel an und fand Mathieus Schlafsack leer vor.
War der aufgestanden? Er, der sich auf die Einhaltung von Regeln nahezu einen herunterholte, war aufgestanden und hatte das Lager verlassen? Oder ging er vielleicht mit einer Taschenlampe Patrouille?
Ach, lachte Lucien über sich selbst, wir sind doch nicht im Knast. Vermutlich war er auf dem Klo. Mathieu war viel zu brav, um zum Pinkeln einfach zwischen die Bäume zu gehen.
Im matten Licht der Lampe griff Lucien sich seine Waschtasche, ein großes Handtuch und frische Sachen. Er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und sein Shirt war nassgeschwitzt. So würde er weder selbst schlafen können noch besonders angenehm für seinen Mitbewohner sein.
Nicht dass es ihn sonderlich interessierte, was andere empfanden, doch er hasste es, zu stinken. Und so, wie er geschwitzt hatte, konnte er sich inzwischen sogar selbst riechen.
Barfuß schob er sich in seine Schuhe und marschierte leise zu den Waschräumen. Durch die Oberlichter konnte er sehen, dass Licht darin brannte und er hörte das Wasser laufen, als er eintrat.
Leise öffnete er die Tür zum Duschraum und konnte Mathieu unter der Brause stehen sehen. Er glaubte sich offensichtlich allein, sonst hätte er garantiert in einer der Kabinen geduscht.
»Nicht übel. Du bist gewachsen, wie ich sehe«, riss Lucien den Blonden aus seiner Ruhe. Dieser schrak zusammen und rutschte beinahe aus, als er sich hektisch zu dem Eindringling umdrehte.
Lucien legte seine Sachen an den Rand des Waschbeckens und machte einen Schritt auf Mathieu zu, der sich glücklicherweise fangen konnte, bevor er hinfiel.
»Mann! Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, schnauzte der Schulsprecher und atmete schwer. Er war rot angelaufen, ob vor Wut, Schreck oder Verlegenheit konnte Lucien nicht sagen.
»Nope.«
»Was machst du hier?«
Der Rothaarige grinste. »Wieder sind wir in einem Klo und du fragst mich, was ich hier mache ... Ich will mir die Zähne putzen und mich abduschen. Oder siehst du nicht, wie nass mein Shirt ist?«
Mathieu stand noch immer wie vom Donner gerührt da und das Wasser perlte über seine Haut. Lucien ließ unverhohlen den Blick über ihn wandern und fing zu grinsen an.
»Was?!«
»Nichts. Ich sagte es schon. Du bist gewachsen.«
Mathieu wandte sich wieder ab. »Du bist ein Idiot.«
»Wenn du das sagst.« Der rothaarige Junge fing ungerührt an, sich die Zähne zu schrubben und seufzte, als der bittere Geschmack in seinem Mund einem besseren, sauberen wich. Dabei beobachtete er den Schulsprecher durch den Spiegel. Der Blonde fühlte sich offenbar so gestört, weil er nicht mehr allein war, dass er sich nicht rührte.
War es wirklich so peinlich für ihn, hier nackt vor Lucien zu stehen? War ja nicht so, dass der Rothaarige nicht wusste, was sich unter Mathieus Klamotten verbarg. Als hätte er nicht dasselbe ...
»Willst du da festwachsen oder wartest du, dass ich wieder abhaue?«
»Schnauze.«
Lucien kicherte, legte die Zahnputzsachen in die Tasche zurück und drehte sich zu dem Schulsprecher um.
»Hör’ auf zu glotzen, Mann!«
»Ich glotze nich’, Minou.« Mit einem Lachen stieg der Rothaarige aus seinen Schuhen und zog sich das verschwitzte Shirt über den Kopf. Ungerührt zog er auch die Hose aus und griff nach seinem Duschgel.
Im Gegensatz zu Mathieu hatte er keine Schwierigkeiten damit, sich nackt zu zeigen. Schon gar nicht vor Jungs. Was war denn schon dabei, er hatte doch nichts zu verstecken.
»Wenn du nicht fertig wirst, stehst du noch die ganze Nacht hier und dann kommen morgen früh die fetten alten Säcke rein und gucken dir was weg«, kicherte er und seufzte, als er das Wasser einschaltete und es heiß über seinen Rücken lief. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus.
Mathieu hatte rote Wangen, als er zu Lucien hinüber sah. Eigentlich hatte der Junge gehofft, in der Nacht in Ruhe und allein duschen zu können. Es war ihm auf Klassenfahrten schon immer schwergefallen, die Gemeinschaftsräume zu nutzen. Er tat es auch nie nach dem Sportunterricht. Er mochte es einfach nicht, dass ihn jemand ansah, wenn er nackt war.
»Was ist denn, Mathieu? Ich guck’ dir nix weg und ich komm’ dir auch nicht zu nah«, Lucien verdrehte die Augen, »du stellst dich vielleicht an. Was meinst du denn, was du zu verstecken hast? Oder wofür du dich schämen musst?«
»Hm?«
»Na ich könnte verstehen, dass du dich zierst, wenn du fett wärst. Oder nen Minischwanz hättest ... aber so ist’s ja nich’. Also bleib’ mal cool, Mann. Wasch’ dich, mach hin. Sonst werden wir noch erwischt und dann reden wieder alle ...«
»Es ist mehr ... irgendwie zittere ich immer noch. Du hast mich echt erschreckt«, versuchte der Schulsprecher, sich herauszureden. Dass Lucien etwas über seine Maße gesagt hatte, machte ihn nervös.
»Sorry. Ich dachte, du wärst vielleicht nur pinkeln. Ich wurde wach und du warst weg.«
Mathieu erwachte allmählich aus seiner Körperstarre und griff wieder nach seinem Duschgel. »Und warum kommst du mitten in der Nacht her? Nur weil du geschwitzt hast?«
»Äh ... hm ... na ja nicht nur. Ich hab gekotzt. Ich glaub’, irgendwas war da nicht so gut für meinen Magen.«
»Dir scheint es öfter nicht gut zu gehen ...«
Lucien presste die Lippen zusammen und wusch sich mit schaumigen Fingern das Gesicht, um einen Moment Zeit zu gewinnen. Was sollte er dem Anderen sagen? Niemals würde er ihm von dem Tumor und dessen Begleiterscheinungen erzählen. Das ging Mathieu nichts an.
»Passiert doch jedem mal, oder nicht? Außer dir, du bist ja Ironman«, grinste der Rothaarige.
»Hm ... das schon. Aber ... auch, dass du keinen Sport mehr machst. Von jetzt auf gleich. Ich wundere mich nur. Und die starken Schmerzmittel ...«
»Migräne, sagte ich doch. Und Sport ist schlecht für meinen Rücken im Moment. Hab’ mich in den Ferien verletzt.«
»Aber du bist hier ...«
»Und? War die Idee meiner Maman.«
Mathieu seufzte und spülte sich den Schaum aus den Haaren. »Keine Ahnung. Ist das mit einem kaputten Rücken vereinbar, zu wandern und zu klettern?«
Lucien merkte allmählich, wie er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Natürlich wäre es leichter, einfach die Wahrheit zu sagen, um den Blonden vom Grübeln abzuhalten, aber er wollte einfach nicht. Es ging Mathieu nichts an und je weniger Leute es wussten, umso besser und umso leichter würden seine letzten Monate werden. Er wollte einfach nicht, dass alle es wussten und ihn mit diesen schrecklichen, mitleidigen Blicken ansahen, wie seine Mutter es tat. Lucien hasste das. Er war kein Krüppel, kein Pflegefall und noch war er am Leben, verdammt!
Der Rothaarige knurrte und wandte sich zu dem Schulsprecher um. Ohne darauf zu achten, dass dieser zusammenzuckte, machte er einen Schritt an ihn heran. Sie standen nun nur wenige Zentimeter auseinander und eine kleine Bewegung mit dem Arm hätte für Lucien genügt, um Mathieus Haut zu berühren.
»Ich sag’ dir was: Stell’ mir keine Fragen! Nimm’ hin, was ich dir sage und wir kommen klar. Nerv’ mich weiter und ich geb’ dir eins auf die Nase.«
»Aber ... was hab ich denn gemacht?« Der blonde Jugendliche hob leicht den Kopf, da Lucien größer war als er.
»Du nervst mich. Bohrst und gräbst nach Dingen, die dich nichts angehen. Ich hab’ dir gesagt, was Sache ist. Wenn du das nicht glaubst, ist das nicht mein Problem. Stell’ mir keine Fragen und ich erzähle dir keine Lügen. Es gibt Dinge, die du nicht verstehst!«
Die silbernen Augen Luciens bohrten sich in Mathieus goldene und dieser nickte schließlich.
»Gut. Ich bin fertig. Ich lass’ dich in Ruhe fertig machen und warte draußen. Dann kann ich eine rauchen ...«
Der Rothaarige ging zum Waschbecken und trocknete sich ab, bevor er in seine Klamotten stieg und die Dusche verließ.
Seine Hände zitterten, als er sich draußen vor dem Haus eine Zigarette ansteckte und den mit Menthol versetzten Rauch einatmete. Dieser kleine Pisser hatte ihn fast so weit, ihm alles zu erzählen. Woher kam der plötzliche Wunsch, es einfach zu tun? Er hatte es Etienne erzählt, weil der sein allerbester Freund war und ein Recht darauf hatte, zu wissen, wie es um Lucien stand. Doch wer war denn Mathieu?
Der Jugendliche ging in die Hocke und stützte die Stirn auf seine Hand. War es das, wovon manche sprachen? Dass es schwierig war, etwas, das einen belastete, für sich zu behalten? Dass man den Drang hatte, es anderen zu erzählen, sei es auch nur darum, für einen kleinen Moment etwas von der Last zu lindern, die auf einem lag? Lucien seufzte und bekam so das Geräusch der Tür nicht mit, als Mathieu den Waschraum verließ.
»Du hättest nicht warten müssen.«
»Was soll’s.«
Der Jugendliche erhob sich, trat die Zigarette aus und klemmte sich die Waschtasche unter den Arm.
»Los. Bevor Dufayel mitbekommt, dass wir weg waren. Noch so einen Spruch wie heute Abend kann ich nicht gebrauchen ...«
Schweigend gingen sie durch die Nacht, über den Pfad, der mit matt leuchtenden Laternen erhellt war. Es war unheimlich, wie der Mond durch die Bäume schien und die Strahlen wie Geister zwischen den Blättern wirkten. Mathieu, der feuchte Haare hatte, erschauderte so sehr, dass Lucien das mitbekam und kicherte.
»Toll, Grantaine. Morgen sind wir beide krank ...«
»Ach was ... mir ist nicht kalt. Ich find’s ... gruselig«, murmelte der blonde Junge und konnte spüren, wie die Spitzen seiner Ohren warm wurden. Es war ihm peinlich, zu sagen, dass er sich im Dunkeln unwohl fühlte. Obwohl es besser war, dass Lucien bei ihm war. Wäre er allein, würde er nicht so langsam gehen, sondern rennen, dessen war Mathieu sich sicher.
»Immer noch Angst vorm schwarzen Mann?«
Der Schulsprecher schnaubte. »Damals war ich noch ein Kind, Mann!«
»Natürlich ...«, gluckste der Rothaarige leise.
Mathieu war in der Unterstufe auf jeder Klassenfahrt das Opfer böser Streiche gewesen, wann immer die Lehrer eine nächtliche Wanderung angesetzt hatten. Jeder hatte gewusst, dass er Angst im Dunkeln hatte und es brach ein regelrechter Wettstreit aus, wer ihn am besten erschreckte. Das hatte so weit geführt, dass Mathieu vor versammelter Klasse lauthals zu weinen angefangen und sich in die Hosen gemacht hatte. Zur Strafe hatten sie alle wochenlang nachsitzen müssen und das Mobbing, was sie damals gar nicht als das erkannt hatten, hörte auf. Doch Lucien verstand schon, dass das bei dem Anderen trotzdem Spuren hinterlassen hatte und glaubte ihn kein Wort, wenn er sagte, dass ihm Dunkelheit heute nichts mehr ausmachte.
Er hörte, wie Mathieu leise und erleichtert aufatmete, als ihr Lager in Sicht kam.
»Los, schnell. Langsam wird’s kalt«, Lucien schlüpfte aus den Schuhen und stieg durch die Öffnung ins Zelt, der Schulsprecher folgte ihm in den matt erleuchteten winzigen Raum.
Mit ein paar dicken Socken in der Hand hockte sich der Rothaarige auf seinen Schlafsack, bevor er sich wieder unter die Decken schob.
»Ah ... um Welten besser. Sauber, trocken, minzig ...«, er murmelte bereits. Das vermaledeite Licht der Funzel war besser als jedes Schlafmittel.
»Du hast geraucht. Wie kannst du da von minzig sprechen?« Mathieu löschte das Licht und Lucien konnte am Rascheln hören, dass er sich hingelegt hatte.
»Mentholkippen, Alter.«
Der Schulsprecher lachte leise. »Aha ... na dann, gute Nacht.«
»Nacht, Minou.«
Eine Weile war Ruhe und nur das Rauschen der Bäume, das Zirpen unzähliger Grillen und das Rufen einiger Vögel war zu hören. Der Rothaarige blickte mit weit offenen Augen an die dunkle Decke und lauschte dem Blonden, der leise und gleichmäßig atmete. Der Jugendliche dachte bereits, dieser wäre eingeschlafen, als er sich noch einmal räusperte.
»Lucien?«
»Ja?«
»Du bist krank, oder? Also ich meine richtig krank ...«
Dem Rothaarigen stiegen heiße Tränen in die Augen und er biss sich auf die Lippen, um kein Geräusch zu machen. Wortlos drehte er dem Schulsprecher den Rücken zu und presste sich ein Stück des Kissens auf den Mund. Er schwieg so lange, bis Mathieu glaubten musste, dass er eingeschlafen war. Er konnte hören, wie der Junge neben ihm leise seufzte und sich raschelnd in seinem Schlafsack umdrehte.
Lucien hingegen starrte weiter in die Finsternis und dieses Mal verhinderte er es nicht, sondern ließ die Tränen einfach zu.