Der Morgen kam für die beiden in Zelt Nr. 2 früher, als ihnen lieb war.
Monsieur Dufayel hatte den grandiosen Gedanken gehabt, sich eine urig laute Tröte als Wecker für seine Schüler einzupacken. Als dieses Ding am Morgen losging, saßen die beiden Jungen und garantiert auch alle anderen aufrecht in ihren Zelten und sahen sich erschrocken an.
»Boah, Alter, was ...?!«, jaulte Lucien und rieb sich die Stirn. So geweckt zu werden war Gift für seinen Kopf und er spürte sofort, wie es bohrte. Genervt rieb er sich das rechte Auge, weil er gemerkt hatte, dass das seinen pulsierenden Tumor etwas besänftigen konnte.
Er ignorierte Mathieus komischen Blick. Er würde nicht auf dessen Frage eingehen. Sollte er doch denken, was er wollte. Es reichte, dass sich Etienne und Luciens Eltern mit dem Wissen herumschlugen. Dass einige Lehrer davon wussten, war dem Rothaarigen schnurzegal.
»Ich dachte, du wärst längst wach? Schulsprecher-Pflichten und so«, knurrte Lucien morgenmuffelig, als Mathieu aufstand und seinen Trainingsanzug gegen eine Jeans und einen dicken Schwedenpullover tauschte.
»Nee. Ab jetzt bin ich nur Schüler. Den Schulsprecher hab’ ich an der Camp-Grenze abgegeben. Ich darf mich mal ausruhen.«
»Na wenn du das sagst«, murrte der andere Junge und machte sich wieder auf seinem Bett lang.
»Hey, nicht wieder einpennen. Zähne putzen und frühstücken. Ich glaub, heute soll gewandert werden.«
»Ich dachte, du bist kein Schulsprecher mehr? Lass mich, Mann. Boah ... kein nächtliches Duschen mehr, okay?«
Mathieu, der ebenfalls noch müde war, nickte. »Wird aber schwierig. Ich dusch’ nicht gern mit anderen zusammen.«
»Hab ich gemerkt ...«
»Du siehst beschissen aus, mal am Rand.«
Lucien kicherte. »Immer noch besser als du. Selbst der Tod würde besser aussehen als du.«
Der Blonde zuckte mit den Schultern. »Gibt doch auch Wichtigeres.«
»Mein Opa hat mal gesagt, Jungen müssen nicht hübsch sein, sondern klug. Und Mädchen müssen nicht klug sein, sondern hübsch. Krass.«
»Mittelalterlich.«
Lucien drehte sich mit einem Murren wieder auf die Seite. »Na, Grantaine ... dann ist es ja gut, dass auf dich beides zutrifft. Kannst dir auf die Schulter klopfen.«
Mathieu schaute den Anderen an, unsicher, was genau er gemeint hatte. »Äh ...«
»Du bist weder hübsch noch klug ... ha ha ... Sorry. War ein Scherz. Ich muss das machen, ich werde sonst nicht wach.«
»Du hast sie nicht alle.«
Lucien setzte sich mühsam wieder auf. »Danke. Sollten wir Dufayel diese Tröte abnehmen?« Matt rutschte er aus seinen Decken und hockte sich vor seine Tasche. »Wandern hast du gesagt? Bäh, keine Lust.« Er schlüpfte in gebückter Haltung und ohne auf Mathieus Anwesenheit zu achten in frische Unterwäsche und zog sich eine schwarze Jeans über den Hintern, bevor er ein dunkles Shirt und eine dicke Sportjacke drüber zog.
Mit der Waschtasche unter dem Arm, die seine Zahnputzsachen enthielt, verließ er das Zelt. Draußen standen noch immer seine Schuhe, die zum Glück trocken waren.
»Fuck, ich hab vergessen, die reinzuholen.«
»Selbst schuld ...«
Aus allen Zelten kamen nun nach und nach mehr oder weniger zerzaust aussehende Schüler und blinzelten in den blassen Sonnenschein, der noch eine angenehme Wärme verbreitete.
Mathieu war, obwohl selbst noch müde, wie immer der Einzige, der trotzdem wach aussah. Lucien fragte sich eine Sekunde lang, woran das liegen mochte. Immerhin hatten sie vielleicht vier Stunden geschlafen. Es war gerade kurz vor Acht.
Nörgelig stapfte der Rothaarige hinter dem Schulsprecher her zum Waschraum, vor sich hin grinsend bei der Erinnerung ihres heimlichen Treffens hier. Er stutzte kurz und verdrängte den Gedanken. Was war daran so besonders? Wenn etwas passiert wäre, etwas Aufregendes, wäre das was anderes. Aber sie hatten doch nur geduscht. Und Mathieu hatte sich wie eine verklemmte Jungfer aufgeführt.
Die Beiden waren offenbar die Einzigen, die bereits angezogen waren, denn als sie den Duschraum betraten, um sich die Zähne zu putzen, standen fast alle ihrer Mitschüler unter den Duschen.
»Siehst du, Mathieu? Nichts dabei. Keiner guckt dem anderen was weg. Sogar Thomas glotzt keinem auf den Schwanz und der steht drauf«, murmelte Lucien leise zu dem Blonden, der eisern den Blick abgewandt hatte und sich das Gesicht wusch. Nur die roten Ohren zeigten an, dass er den Rothaarigen verstanden hatte.
Lucien grinste und putzte sich die Zähne.
»Na, dann kannst du ja munter da mitmachen. Heißt nicht, dass ich das muss. Ich muss mich vor niemandem zeigen, wenn ich das nicht will, okay!« Der Schulsprecher hatte sich, als er fertig war mit Toilette machen, zu dem Rothaarigen umgedreht und funkelte diesen nun an.
Lucien lächelte und zwinkerte ihm zu. »Natürlich. Nur zier’ dich besser nicht so, wenn du mal eine Freundin hast.«
Mathieu zuckte leicht und beinahe unmerklich. Da war es wieder, das komische Gefühl. Wie ein kleiner Stich ins Herz und ein Flattern im Magen. Hitze, die in seinem Bauch anschwoll und sich bis in seine Brust ausbreitete. Ein Gefühl, das ihn zwang, schneller zu atmen. Wann immer Lucien ihm zuzwinkerte.
Was sollte das?
»Wäre auch meine Sache. Ich gehe schon rüber.« Mit verkniffenem Gesicht nahm der Jugendliche seine Sachen und stürmte förmlich aus dem Raum, was einige der Jungs zum Lachen brachte.
»Was hast du nun wieder gesagt, dass er weglaufen musste?« Thomas, der sich gerade in ein Handtuch einwickelte, kam zu Lucien ans Waschbecken hinüber und rubbelte sich über die dunklen Haare, die voller bunter Strähnchen waren.
»Keine Ahnung. Ihn überfordert so viel Nacktheit, glaub ich.«
Der andere Junge grinste und ließ den Blick über seine Mitschüler wandern. »Ja? Kann nicht sagen, dass das auf mich zutrifft.«
Der Rothaarige lachte. »Aber nicht jeder ist ein Homo, der das geil findet, so von Schwänzen umgeben zu sein, Alter. Die meisten hier fänden Möpse besser.«
»Was du wieder denkst. Ich schau’ hier doch niemandem was weg. So ein Klischee.«
Lucien grinste. Thomas war in ihrem Jahrgang so beliebt, sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungs, dass sich niemand ernsthaft daran störte, dass er jede Woche für einen anderen von ihnen schwärmte. Es spielte einfach keine Rolle, dass er war, wie er war.
»Ich weiß. Sollte ein Scherz sein. Ich bin raus. Hier ist es mir zu warm.«
Mit der Tasche unter dem Arm trat der Rothaarige wieder nach draußen in den Vorraum und ging aufs Klo.
Lucien fand Mathieu anschließend im Lager auf einer der Bänke sitzend vor. Er studierte den Plan des Camps und seine Ohren hatten wieder ihre normale Farbe angenommen.
»Na, dich erholt vom Anblick so vieler Fleischpeitschen?«
Der Blonde hob den Kopf und verzog den Mund. »Bildhaft, danke.«
»Ehrlich, was ist los? Bist du wirklich so schamhaft, dass es dich selbst bei anderen stört?«
Mathieu lehnte sich etwas zurück und verengte die Augen zu Schlitzen. »Warum sollte ich dir etwas anvertrauen? Du tust es schließlich auch nicht.«
Autsch. Lucien schluckte und presste einen Augenblick die Lippen zusammen. Er atmete tief durch. »Hast Recht. Warum interessiere ich mich eigentlich für so einen Langweiler wie dich. Hat ja keinen Zweck.«
»Langweiler? Weil ich nicht munter nackend vor anderen herumspringe?«
»Nein, weil du prüde bist und einen Stock im Arsch hast!«
Mathieu stand auf und stemmte die Arme auf die Tischplatte. »Was weißt du denn schon von mir?«
Lucien erhob sich ebenfalls und funkelte dem Blonden entgegen. »Das, was ich sagte. Prüde, verklemmt und spießig!«
»Ach, und du bist anders, weil du jede Woche mit der Zunge in einer anderen Tussi steckst, oder was?«
Ihre ziemlich laute Unterhaltung hatte bereits einige Leute als Zuschauer angelockt, die sich über den erneuten Zank der Beiden amüsierten.
»Ich stecke wenigstens in irgendeiner Tussi, okay?«
»Schön. Viel Spaß. Hoffentlich bekommst du nen Tripper!«
Mathieu wandte sich ab und lief davon, irgendwo hin zwischen die Bäume. Er wusste nicht, warum er so böse auf Lucien war, aber er wollte weg. Dieser schien allerdings in Streitlaune zu sein, denn er ließ nicht locker.
»Tripper bekommt man nicht vom Knutschen, du Oberleuchte!«
Sie ließen das Lager hinter sich und ihre Zuschauer auch.
»Mir doch egal. Du betonst ja, wie aufgeschlossen du bist. Vielleicht fängst du dir bei deiner Reise durch die Betten was ein. Genieß’ es.«
»Soll ich dir dann beschreiben, wie es war, wenn du mit Vierzig noch ungebumst bist und dir mit zwanzig Katzen ein Haus teilst?«
»Spar’s dir. Ich will nichts von dir und deiner Hurerei wissen!«
»Und ich nichts von deiner Prüderie. Irgendwann stirbst du an einem Herzinfarkt, weil du alles so beschissen ernst nimmst!«
»Und dir ist nichts heilig. Für dich ist alles ein Spaß. Dich interessiert es null, wenn du Regeln missachtest, denn du bist Lucien und der darf alles!«
Lucien schnaubte. »Ganz genau! Darum habe ich ein Leben und du bist ein Spießer!«
»Du bist ein Trottel! Spring’ nackt herum oder geh’ ficken, wen du willst und lass’ mich so sein, wie ich will.«
Wutschnaubend machte der Blonde kehrt und rannte weiter, während Lucien schwer atmend auf der Stelle stehen blieb.
»Mathieu!«, schrie er ihm hinterher.
»WAS?!«, wandte dieser sich um und brüllte zurück.
Lucien schloss zu ihm auf, das Dröhnen in den Ohren stammte dieses Mal nicht von dem Tumor oder irgendeiner anderen Nebenwirkung der Erkrankung, sondern war pure und heiße Wut. Er würde den Schulsprecher so gern schlagen, ihn vermöbeln, bis er endlich die Klappe hielt und sich nicht mehr wie eine Marionette benahm, sondern zurückschlug, sich mal wie ein Mensch verhielt und den Zorn in sich zuließ, anstatt perfekt zu funktionieren.
Mathieu blickte ihm ohne den geringsten Funken Furcht entgegen, zuckte nicht einmal zurück, als Lucien ihn am Pullover ergriff und erwartete mit stolzem Gesicht, dass der Rothaarige ihn schlug.
Mit dem, was folgte, hatten allerdings beide nicht gerechnet, denn anstatt ihm den erwarteten Hieb auf die Nase zu geben, packte Lucien Mathieu mit beiden Händen am Kragen seines Pullis, zog ihn näher und drückte ihm fest und fast grob die Lippen auf den Mund.
Als wäre es ein natürlicher Reflex, schlossen beide trotz der in ihnen tobenden Wut die Augen.
Der Moment hielt jedoch nicht lange an. Lucien löste sich von Mathieu und stieß ihn von sich, woraufhin dieser nach hinten stolperte und auf seinem Hintern landete.
Zornig starrte der Rothaarige auf den anderen Jungen hinunter, wischte sich über den Mund und durchbohrte ihn förmlich mit seinen grauen Augen.
»Gott, ich hasse dich«, fauchte er, wandte sich ab und ließ Mathieu mit seiner Verwirrung einfach sitzen.
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Allein gelassen, starrte der Schulsprecher einen Moment lang orientierungslos auf seine Schuhe und die durch den Waldboden beschmutzte Jeans. Die Wut, die eben noch in seiner Brust gekocht hatte, war verpufft und die Anspannung löste sich mit einem unerwarteten Schluchzen. Zitternd und überfordert presste er die Hände auf die Augen, um die heißen Tränen abzuwischen, die so schnell versiegten, wie sie gekommen waren.
Er hatte mit Prügel gerechnet, hatte sich regelrecht auf eine handfeste Rauferei mit Lucien gefreut und der Trottel machte so etwas!
Das hatte den Status Quo zwischen ihnen auf eine Art und Weise verändert, dass man es nie wieder würde rückgängig machen können. Plötzlich war alles anders!
Ächzend stand der Junge wieder auf und putzte sich den Hosenboden ab. Grübelnd ging er ins Lager zurück, wo einige ihrer Mitschüler, die den Zwist mitbekommen hatten, kicherten. Die Streitereien zwischen Mathieu und Lucien waren ein gern gesehenes Unterhaltungsschauspiel, einfach auch, weil nie einer wusste, was davon ernst und was sarkastisch gemeint war.
»Hast du Lucien jetzt verscheucht?« Celeste stellte sich ihrem Bruder in den Weg und stemmte die Hände in die Hüften.
»Was?« Mathieu hob verwirrt den Kopf, er hatte ihr gar nicht zugehört.
»Lucien! Wo hast du ihn gelassen? Das ganze Lager hat euren Streit gehört. Gott, wenn ich nicht wüsste, dass es unmöglich ist, würde ich glauben, ihr habt was miteinander. Aber ich weiß, dass Lucien kein Homo ist.«
»Ach ja?« Der Schulsprecher setzte sich auf die Bank und rieb sich abwesend etwas Schmutz von den Händen.
»Jahaa? Er steht auf mich. Hat er gesagt. Auf der Abschlussfeier letztes Jahr.«
Mathieu verzog einen Moment den Mund, bevor er nickte. Also hatte der Rothaarige auch was mit seiner Schwester gehabt? Irgendetwas bohrte und rumorte in ihm und drückte ihm auf das Herz.
»Schön für dich. Warum seid ihr dann nicht zusammen?«
Celeste kicherte. »Offenbar ist er schüchtern.«
»Ich dachte eher, er redet nicht einmal mit dir. Entschuldige mich bitte. Mir ist nicht gut. Ich will mich vor dem Frühstück noch etwas hinlegen ...«
Das blonde Mädchen versuchte noch, ihren Bruder von der Verbundenheit mit Lucien zu überzeugen, doch der hörte ihr gar nicht mehr zu.
Dieser dämliche Idiot hatte mit nur einer kleinen Geste den ganzen Tag ruiniert. Von einer auf die andere Sekunde fühlte Mathieu sich, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren.
Er hoffte, Lucien hatte nicht denselben Gedanken gehabt und war ins Zelt zurückgekehrt. Er, Mathieu, würde es jetzt nicht ertragen können, ihn zu sehen. Wie sollten sie nach dieser Aktion weiter auf kleinstem Raum miteinander auskommen? Am liebsten hätte der Junge sich den ganzen Tag versteckt, eine Unpässlichkeit vorgeschoben, krank gemacht, alles, um nicht an dem Wanderausflug teilnehmen und Lucien sehen zu müssen.
Er fand das Zelt zu seinem Glück leer vor und kroch erschöpft in seinen Schlafsack. Mit einem unbekannten Gefühl der Trauer und der Unsicherheit rollte er sich in der Fötusstellung zusammen und presste die Hände auf sein Herz.
Was war nur auf einmal los mit ihm? Was war denn schon dabei? Lucien hatte ihn geküsst. Na und? Lag der Kern des ungekannten Schmerzes vielleicht eher in den harschen Worten, die darauf gefolgt waren? Hasste der Rothaarige ihn wirklich?
Als Mathieu eine halbe Stunde später zum Frühstück gerufen wurde, hatte er sich wieder einigermaßen beruhigt und war zu dem Schluss gekommen, dass es nicht sein Problem war, wenn Lucien ihn nicht ausstehen konnte. Wenn er ehrlich war, war es sogar besser so, wenn sie sich nicht wieder anfreundeten.
Sie waren so verschieden und Mathieu wollte sich eigentlich nichts von dem Rothaarigen abschauen, dem alles egal war, solange es ihm nutzte.
So ein Mensch wollte Mathieu nicht sein. Ohne Lucien war er besser dran.