Lucien hatte nicht lange gebraucht, um die letzten seiner Mitschüler zu erreichen und sich wieder der Gruppe anzuschließen. Er schob das komische Gefühl beiseite, dass Mathieu nun ganz allein am Ende, ein ganzes Stück hinter ihnen, herlief. Wenn er zu stolz und stur war, mit Lucien zu gehen, dann war das seine Sache. Er war immerhin alt genug.
Doch als sie nach weiteren zwei Stunden das Ziel, das andere Ende des Camps erreichten, tauchte Mathieu auch nach einer ganzen Weile nicht auf.
Monsieur Dufayel, der eine Strichliste dabei hatte, merkte auf, als der Schulsprecher sich nicht meldete und Lucien, dessen schlechtes Gewissen mit einem Schlag wieder da war, sah sich um, ebenso wie alle anderen.
Die Dämmerung war hereingebrochen und es würde nicht lange dauern, bis es dunkel sein und kalt werden würde. Zu kalt, um die Nacht ohne eine ordentliche Decke mitten im Wald zu verbringen.
»Ich gehe zurück«, rief Lucien dem Lehrer zu. »Ich war als Letzter mit ihm am Ende. Vielleicht macht er nur eine Pause, der Blödmann.«
Der Sportlehrer schaute skeptisch und schüttelte dann streng den Kopf. »Das wirst du nicht, das liegt in meiner Verantwortung und außerdem kannst du nicht...«, der Mann bremste sich, als er den Blick des Rothaarigen sah. Der Trottel hätte sich beinahe noch vor der ganzen Klasse über Luciens Zustand verplappert!
»Ich bestehe darauf«, beharrte der Jugendliche stur und starrte Monsieur Dufayel kühn ins Gesicht. »Egal, was Sie sagen!«
Schließlich nickte der Sportlehrer geschlagen und schloss einen Moment resignierend die Augen. Lucien war trotz aller Risiken nicht bereit, zurückzubleiben und den Erwachsenen gehen zu lassen. Dieser kannte den Jungen, er würde es so oder so machen, egal, was man jetzt zu ihm sagte.
»Hast du dein Handy dabei?«, knurrte der Pädagoge ihm zu und reichte Lucien seine starke Taschenlampe.
»Ja.«
»Gut ... melde dich, wenn du ihn hast. Und wenn du ihn in einer Stunde nicht gefunden hast, rufst du erst recht an, dann lassen wir ein ganzes Team nach ihm suchen. Gott, ich hatte doch gesagt, alle bleiben in Sichtweite ...« Monsieur Dufayel riss sich die Kappe vom Kopf.
»Sollten wir nicht alle nach Mathieu suchen?« Celeste, die sonst immer so arrogant und gleichgültig war, sah ehrlich besorgt aus, immerhin handelte es sich um ihren großen Bruder.
»Nein. Wenn wir alle im Dunkeln suchen, gehen nur noch mehr verloren. Lassen wir es Lucien versuchen und wenn er keinen Erfolg hat, dann ...«
Der Rothaarige hörte diese Unterhaltung schon nicht mehr, sondern hatte sich den Rucksack wieder aufgesetzt und war den Wanderweg zurück gerannt.
Dieser blöde Penner konnte was erleben, dass er alle in Aufruhr versetzte. Mr. Regeltreu sollte nicht glauben, dass er einfach so abhauen konnte.
»Mathieu?«, rief Lucien in die tiefer werdende Dunkelheit und musste schon bald die Lampe einschalten, um den Weg abzuleuchten. Er stutzte, als er an einer Ecke, bestimmt bereits zwei Kilometer vom Ende des Wanderweges entfernt, eine leere Wasserflasche liegen sah. So eine hatte der Schulsprecher dabei gehabt und mit einem kalten Gefühl im Magen leuchtete der Jugendliche den Weg ab.
»Mathieu?!«, brüllte er wieder und spürte, wie eiskalte Finger nach seiner Kehle griffen. Er hatte Angst. Angst vor dem, was geschehen sein mochte. Davor, in welchem Zustand er den Blonden vorfinden mochte. Hoffentlich hatte der Idiot sich nicht irgendwo den Hals gebrochen.
Lucien leuchtete an den Rand des Weges und konnte sehen, dass der ziemlich steil abfiel und der Abhang mit Laub und Büschen bedeckt war. Das Licht der Lampe glitt über das Unterholz und der Junge glaubte, einen hellen Flecken dazwischen zu erkennen.
»Fuck. Mathieu!«, brüllte er wieder und konnte sehen, wie die Äste sich bewegten.
»Lucien?«
Der Rothaarige schloss für eine Sekunde die Augen und wischte sich mit dem Handrücken über die Lider. Erleichterung durchflutete ihn.
Langsam und bedächtig kletterte Lucien den Abhang hinunter und fand den Schulsprecher schließlich zwischen den Büschen sitzend, zerzaust und schmutzig, mit Dreck im Gesicht und Tränenspuren auf den Wangen. Er hielt sich das Bein und fing heftig zu heulen an, als er den Rothaarigen sah, der sich vor ihn hinhockte.
»Was machst du denn für Sachen, du Volltrottel?«
»Ich bin abgerutscht und runtergefallen«, murmelte Mathieu leise und mit verstopfter Nase.
»Die schließen schon Wetten ab, wie du verreckt bist, weißt du das? Mann. Die machen sich alle Sorgen. Hast du denn kein Telefon dabei?«
Kleinlaut schüttelte der Blonde den Kopf und wischte sich verlegen über das Gesicht. Es war ihm peinlich, dass ausgerechnet Lucien ihn gefunden hatte und er nun heulte wie ein kleines Kind.
»Hier. Trink’ erstmal was. Du sitzt hier schon ne Weile, oder?« Der Jugendliche reichte dem Verletzten seine Flasche und schob dann Mathieus Jeans über den Knöchel. Das Gelenk sah geschwollen aus und verfärbte sich bereits blau.
Wieder nickte Mathieu. »Es wurde gerade dunkel ... wie lange ist das her? Eine Stunde? Zwei?«
»Länger. Ich hab ja schon fast ne Stunde gebraucht, um hierher zu kommen. Ah, da fällt mir ein ...« Lucien zog das Handy aus der Tasche und tippte eine SMS an Monsieur Dufayel. »Bescheid sagen, sonst rücken die mit der Polizei und Hunden hier an, um dich zu suchen.«
»So ein Mist ...«
»Das kannst du aber laut sagen. Wie soll ich dich den Hang hoch bekommen, wenn du nicht laufen kannst? Nur Ärger hat man mit dir, Grantaine!«
»Du musst ja nicht ...«, murmelte Mathieu stur.
»Damit dich heute Nacht die Wölfe fressen? Du bist ein Idiot. Komm, versuch mal, aufzustehen.«
Der Schulsprecher stand umständlich auf und stöhnte vor Schmerz, als er den angeknacksten Fuß belastete. Er wackelte einen Moment und fiel wieder ins Gras.
»Scheiße«, schluchzte er und wischte sich genervt über das Gesicht. »Ist ja nicht so, dass ich das nicht die ganze Zeit versucht hätte.«
»Na jetzt bin ich aber da. Ich trag’ dich da hoch, wenn es sein muss.«
»Warum tust du das?«
»Was?«
»Mir helfen. Warum du und nicht irgendein anderer? Warum bist du zurückgekommen?«
Lucien ging in die Hocke und legte seine Arme auf die Knie. »Weil ich es war, der dich allein hat gehen lassen. Wenn ich in deiner Nähe gewesen wäre, wärst du nicht wie ein Idiot vom Weg abgekommen und würdest jetzt hier nicht sitzen und heulen.«
»Aha ...«, murmelte Mathieu.
»Ich will nicht auch noch Schuld sein, dass du heute Nacht hier erfrierst. So einfach.«
»Ist dann wohl deine gute Tat für heute, hm?«
»Du machst es mir wirklich nicht leicht, nett zu dir zu sein ...« Lucien schmunzelte.
»Man sollte es im Leben nie zu bequem haben.«
»Offensichtlich. Okay, da du nicht auftreten kannst, muss ich dich tragen. Sonst hocken wir beide die Nacht hier fest. Komm.« Der Rothaarige nahm seinen Rucksack ab und drehte Mathieu den Rücken zu.
»Was, huckepack?«
»Na wie denn sonst?«
Der Blonde antwortete nicht und setzte sich Luciens Rucksack auf, bevor er seine Arme um dessen Schultern legte und sich von ihm anheben ließ.
»Okay. Ich werde einen meiner Arme brauchen, der Hang ist steil. Also halt dich mit den Schenkeln fest, damit du nicht runterrutscht.«
Mathieu, der noch nie einem anderen Menschen so nahe gewesen war, nickte und spürte, dass sein Puls sich beschleunigte. Er schob es stur auf die Freude darüber, wieder ins Lager zurückzukommen und in seinem Schlafsack statt auf eiskalten Blättern schlafen zu können. Mit ein Grund für seine Tränen war die zunehmende Finsternis gewesen, die ihm noch immer schwer zu schaffen machte.
Lucien schnaufte, als er sich den Abhang hochkämpfte und rutschte ein ums andere Mal, sodass sie beide schließlich erleichtert und schwer atmend oben auf dem Weg lagen.
»Du hast mich gerettet«, murmelte Mathieu matt und Lucien drückte nur einen Moment seine Hand.
»Hab ich. Komm, weiter. Ich will raus aus dem Wald.« Er nahm den Schulsprecher wieder huckepack und trug ihn, während Mathieu mit der Taschenlampe den Weg ausleuchtete.
»Weißt du, vorhin, da dachte ich echt, du schlägst mich. Ich habe mich fast darauf gefreut, mich mit dir zu raufen ...«
»Ich hätte es auch getan. Wollte ich eigentlich. Aber mein Kopf verträgt es nicht so gut, wenn man da drauf haut. Was du sicher getan hättest.«
»Der Grund für die Schmerztabletten?«
Lucien nickte nur. Er wollte Mathieu noch immer nicht erzählen, was Sache war.
»Das ... das andere war nicht weniger ... äh ...«
»Kontrovers. Vergiss’ es. Ich weiß nicht, warum ich’s gemacht hab’.«
»Bin ich wirklich ... steif wie ein Brett?«, der Rothaarige konnte die Stimme des Anderen kaum verstehen, so leise nuschelte er an seinem Nacken.
»Weiß ich nicht. Das war blöd, ich hätte so was nicht sagen sollen. Ich hab keine Ahnung. Dazu war es nicht lang genug. Dazu ich. Und ein Überfall. Bei jemandem, den du magst, ist es bestimmt anders. Ich hätte auch nich’ wild mit dir geknutscht, wenn du mich angefallen hättest ...«
Mathieu lachte leise auf. »Dazu gab es ja auch gar keine Gelegenheit. Du hast mich geschubst, vergessen?«
»Klingt so, als hättest du das gewollt«, Lucien schnaufte etwas. Der Weg war weit, uneben und den Schulsprecher zu tragen, strengte ihn mehr an als er zugeben wollte. Er hatte längst zu schwitzen begonnen.
»Was denkst du denn von mir ...?«, murmelte Mathieu.
»Keine Ahnung. Wäre das denn so schlimm?«
»Was?«
»Wenn du ...«, dem Rothaarigen fiel das Sprechen schwer, er war außer Atem, »... auf Jungs abfahren würdest?«
»Weiß nicht. Mein Vater fände das bestimmt ganz furchtbar.«
»Ja, aber ich rede von dir ... Mathieu, ich brauch’ ne Pause.«
Lucien ließ den Blonden auf einen Baumstamm rutschen und hockte sich schwer atmend neben ihn. Schnaufend wischte er sich den Schweiß von der Stirn und den feuchten Pony aus dem Gesicht.
»Hier.« Der Schulsprecher hielt ihm die Flasche hin, die in Luciens Rucksack gesteckt hatte. Sehr viel war nicht mehr drin. »Entschuldige. Mir ist es unangenehm, dass du dich meinetwegen so anstrengen musst.«
»Geht schon. Wenn du humpeln würdest, würde es länger dauern. Und vielleicht würdest du dich dann nur ernsthafter verletzen. Dann müsstest du nach Hause fahren, stell’ dir das vor. In deinem eigenen Bett schlafen, deine eigene Dusche benutzen, kein blöder Mitbewohner - welch schreckliche Vorstellung.«
Der Jugendliche lachte, doch Mathieu konnte hören, dass seine Stimme leicht pfiff. Offenbar war es schwerer für Lucien, ihn zu tragen, als dieser zugeben wollte. Doch der Blonde wusste auch, wie extrem stolz der Andere war. Er würde ihn tragen, weil er gesagt hatte, dass er es tut und würde sich durch nichts davon abbringen lassen.
Sie blieben noch ein paar Minuten in der völligen Finsternis sitzen - Mathieu hatte die Taschenlampe ausgemacht, um Energie zu sparen - und schwiegen. Die Geräusche des Waldes waren ohrenbetäubend, irgendwo rief eine Eule und es raschelte überall.
»Das ist Folter«, flüsterte der Schulsprecher nach einer Weile.
»Hast du Angst?«
»Ich ... ja«, gestand Mathieu leise. »Das ist nie weggegangen. Und ich schwöre dir, wenn Monsieur Dufayel eine Nachtwanderung machen will, stell’ ich mich krank!«
»Du brauchst eh nirgends mitzulaufen. Du hast einen verstauchten Knöchel. Vor Sonntag lässt der dich eh nix machen außer im Lager den Tisch abwischen.«
»Toll ... morgen wollten wir in den Hochseilgarten und ich kann nicht mitmachen ...«
»Aber zusehen. Macht bestimmt mehr Spaß, als drei Meter über dem Boden nur von einem Strick gehalten zu werden.«
»Ich glaub’ nicht.«
Lucien kicherte leise. Seine Atmung hatte sich wieder normalisiert und pfiff auch nicht mehr. Es verwunderte Mathieu, dass ihn das so schnell erschöpft hatte, immerhin war der Rothaarige ein Sport-Ass, das in der Unterstufe Fußball und Basketball gespielt hatte und der die halbstündigen Ausdauerläufe im Sportunterricht immer ohne Anzeichen von Erschöpfung gemeistert hatte. Andererseits war es ein Unterschied, ob man nur lief oder dabei noch siebzig Kilo Extragewicht trug. Der Schulsprecher wünschte sich gerade inständig, weniger zu wiegen.
»Na los, gehen wir weiter. Ich bin schon zwei Stunden weg. Die suchen bald nach uns beiden und so weit kann es nicht mehr sein.« Lucien hob Mathieu wieder hoch und dieser schaltete die Taschenlampe ein.
Verbissen marschierte der rothaarige Junge voran, während der Blonde seine Wange an dessen Schulter legte und schwieg. Es würde Lucien weniger anstrengen, wenn sie sich nicht unterhielten. Und trotzdem konnte er hören, wie schwer der Junge atmete und wie häufig er leise vor sich hin fluchte, weil der Weg eine Steigung oder eine Neigung hatte.
Sie kamen nur langsam voran und Mathieu spürte, wie viel Wärme Lucien abgab. Er musste total verschwitzt und erledigt sein.
Der Blonde hätte es nie für möglich gehalten, dass Lucien, der seit der Mittelstufe so etwas wie sein Rivale war, so ein Opfer zu bringen für ihn bereit war. Ihn kilometerweit durch die Finsternis zu tragen, sich selbst total zu überanstrengen. Ihm musste doch inzwischen alles weh tun. Sportlich oder nicht, das war eine Herausforderung.
Mathieu hob den Kopf, als der Rothaarige ein aufmerkendes Geräusch machte. Zwischen den Bäumen konnten sie Lichter erkennen und einen hölzernen Torbogen. Sie hatten den Eingang des Camps erreicht.
An den überdachten Sitzgelegenheiten, die dort aufgebaut waren, saßen noch immer eine Handvoll Schüler sowie die beiden Lehrer. Monsieur Dufayel lief wie ein Tiger im Käfig herum und zerfleischte sich vermutlich in dieser Sekunde selbst, dass er es einem Jugendlichen überlassen hatte, den Vermissten zu suchen, anstatt es selbst zu tun, wie es seine Verantwortung gewesen wäre.
Ein Ruf und Lachen ging durch die Gruppe, als Lucien und Mathieu in den Lichtkreis des Tores kamen. Sie wurden bestürmt, der Blonde auf die Bank gehoben und sein Knöchel untersucht. Der Camparzt lief bereits eilig über den Platz.
»Ich wollte schon selbst nachschauen«, sagte Monsieur Dufayel und klopfte Lucien anerkennend auf die Schulter, der nassgeschwitzt und weiß wie die Wand neben ihm stand.
Die Blicke der beiden Jungen trafen sich und der Rothaarige brachte noch ein kleines Lächeln zustande, bevor ihm schwarz vor Augen wurde und er einfach zusammenbrach.