»Überanstrengung. Klarer Fall von akuter Erschöpfung. Da hilft eine gute Mahlzeit, Ruhe und jede Menge Schlaf.«
Lucien wandte leicht den Kopf, als eine unbekannte Stimme in sein Ohr drang. Seine Lider flatterten, doch als er die Augen öffnen wollte, war das Licht so grell, dass er sie wieder zusammenkniff und stöhnte.
»Oh, er kommt zu sich. Na du? Du hast allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Langsam nur hob der Junge seine Lider und spürte, wie die Augen wegen des Lichts zu tränen begannen. Er blinzelte es weg und sah sich um. Er war in einem weiß getünchten Zimmer und lag auf einer gummierten Liege, mit einer leichten Decke zugedeckt. Monsieur Dufayel saß in der Ecke auf einem Stuhl.
Vor Lucien stand ein Mann, den er nicht kannte, der ihm aber vage bekannt vorkam. War das nicht der Arzt des Camps, der sich Mathieus Knöchel angeguckt hatte? Warum war der hier?
»Was ...?«, murmelte der Jugendliche und versuchte, sich aufzusetzen, doch das gelang ihm nicht. Sein Körper war schwer wie ein Stein und auch die Hand des Mannes mit dem Kittel hielt ihn an der Schulter unten.
»Bleib’ liegen. Du brauchst Ruhe. Das war eine große Leistung, deinen Schulfreund den ganzen Weg durch den Wald zu tragen. Er hat es uns erzählt.«
»Geht’s ihm gut?«
»Natürlich. Ihn habe ich schon verarztet. Nur ein bisschen unterkühlt und ein verstauchter Knöchel. Nichts Weltbewegendes. Du allerdings machst mir mehr Sorgen.«
Lucien verzog den Mund. »Kann ich in mein Zelt zurück?«
»Sobald die Kochsalzlösung durch ist. Du bist total dehydriert. Dein Lehrer erzählte mir etwas von einer Erkrankung. Trifft das zu?«
Der Jugendliche hob den Kopf und sah sich um. Er, sein Sportlehrer und der Arzt waren allein im Zimmer. Schließlich nickte er.
»Hirntumor«, murmelte Lucien.
»Umso heldenhafter, was du gemacht hast. Mach’ dir keine Sorgen. Wenn du nachher ordentlich geschlafen hast, geht es dir morgen gleich wieder besser.«
»Okay.«
Ein Klopfen an der Tür ließ sie verstummen und der Arzt öffnete diese. Mathieu stand davor und lehnte sich auf eine vom Camp geliehene Krücke.
»Komm herein. Monsieur, könnten Sie draußen noch rasch die Formulare für mich ausfüllen?«
Der Mediziner, der ein feines Gespür zu haben schien, wann es besser war, zu gehen, bat den Sportlehrer aus dem Zimmer und schloss die Tür des Behandlungsraumes hinter sich.
»Na du?«, murmelte der Schulsprecher dem Rothaarigen zu und zog sich einen Stuhl heran. »Wer macht jetzt Sachen?«
Lucien grinste leicht und schloss die Augen. »Das ist doch alles deine Schuld, Grantaine. Du bist schwer wie ein Sack«, er kicherte und musste husten.
»Ich weiß«, schmunzelte Mathieu. »Musst du über Nacht hier bleiben?«
»Nee ... diese Pritsche ist noch schlimmer als das Bett im Zelt. Ich muss nur das da abwarten«, Lucien deutete auf den Infusionsbeutel. »Und dann will ich essen. Ich könnte ein ganzes Schwein verdrücken.«
»Hmm ... im Speisesaal gibt es Eintopf mit Brot oder Schnitzel mit Pommes. Aber es ist schon Neun. Die haben schon zu ...«
»Schon Neun? Wie lange war ich denn weggetreten?«
»Ne Stunde. Dufayel wollte schon den Notarzt rufen und alles ... offenbar dachte er, es wäre was Ernstes.« Mathieus goldene Augen fixierten Lucien, doch dieser blickte an die Decke.
»Toll. Und wo bekomm ich was zu essen her? Soll ich Süßkram aus dem Automaten nehmen?«
»Wird schon«, lächelte der Blonde.
»Haben wir dann morgen beide langweiligen Lagerdienst?«
»Sieht so aus. Ich glaube kaum, dass du nach dem Auftritt morgen irgendwo hin darfst und ich kann nicht auftreten.«
Lucien brummte. »Warum passiert so was eigentlich immer mir? Kannst du dich erinnern, dass ich mir in der Neunten das Bein gebrochen habe? Auf Klassenfahrt? Und in der Siebten hab ich mir den Kopf aufgeschlagen und musste wegen einer Gehirnerschütterung nach Hause fahren. Es ist wie ein Fluch.«
»Sieben, Neun, Elf. Ist vielleicht ein Muster. Andererseits ist das hier keine Klassenfahrt«, kicherte Mathieu.
»Ist meinem Karma egal, was es ist ...«
»Glaubst du an so was?«
Lucien nickte nur. Er musste es. An eine Art Bestimmung glauben, weil er nicht akzeptieren konnte, dass all diese Dinge, die ihm passierten - die Verletzungen, das Pech und der Hirntumor - einfach nur Zufall waren. Dass er einfach den Schwarzen Peter gezogen hatte.
»Ich nicht«, sprach Mathieu weiter und riss den Jugendlichen so aus seinen Gedanken. »Ich denke, dass jeder bis zu einem bestimmten Punkt selbst für sein Schicksal verantwortlich ist und es auch beeinflussen kann.«
»Ja, das schon. Aber man kann nicht alles kontrollieren. Ich weiß, wovon ich rede.«
Mit einem Ächzen setzte Lucien sich auf und rieb sich den Kopf. Seine roten Haare wirkten strähnig, weil der Schweiß inzwischen getrocknet war. Er fühlte sich dreckig.
»Ich brauch’ ne heiße Dusche«, murmelte er.
»Na ob du das darfst ... wegen dem Kreislauf und so.«
»Hm«, machte Lucien, »dann musst du mich heute stinkend im Zelt ertragen.«
»So schlimm ist’s gar nicht«, entgegnete Mathieu und erntete einen überraschten Blick von dem Rothaarigen.
»Ich bin voller Schweiß und Dreck. Du auch, ganz nebenbei.« Lucien bemerkte, dass der Schulsprecher noch immer die gleichen schmutzigen Klamotten trug. Nur das Gesicht schien er sich gewaschen zu haben. Er wollte wohl nicht, dass jeder daran sehen konnte, dass er geheult hatte.
»Ich weiß. Ich kann nicht ohne Krücke stehen.«
Der rothaarige Jugendliche lachte. »Oh Mann, wir zwei Krüppel.«
Beide wandten den Kopf, als sich die Tür nach einem leisen Pochen wieder öffnete und der Arzt wieder eintrat.
»Oh, Sitzen geht schon wieder? Hm ... ja, die Lösung ist durch.« Er trat an Lucien heran und drückte ihm nach zwei Handgriffen ein ätherisch duftendes Wattebausch auf die Armbeuge, bevor er die Infusionsnadel entfernte. Der Jugendliche zischte leise, da das Desinfektionsmittel auf der kleinen Wunde brannte.
»Halt’ das einen Moment drauf gedrückt, dann bekommst du ein Pflaster. Ich muss dir nicht sagen, dass du dich morgen etwas schonen musst, oder?«
Lucien schüttelte den Kopf. »Aber kann ich duschen gehen? Jetzt? Nachher?«
»Lauwarm. Und nimm’ dir besser jemanden zum Aufpassen mit. Nicht dass dir schwindelig wird und du dann wieder zusammenbrichst.«
»Ich ... kann das schon machen«, murmelte Mathieu und Lucien konnte sehen, dass es ihn etwas Überwindung kostete, das anzubieten. Er und seine Phobie gegen zu viel nackte Haut.
»Gut. So wie ihr ausseht, könnt ihr wohl beide eine vertragen«, schmunzelte der Doktor. »Doch zuerst solltet ihr ordentlich was essen. Die Küche hat schon zu, aber ich hab dafür gesorgt, dass man euch noch etwas gibt. Also könnt ihr jetzt gleich in den Speisesaal gehen.«
Der Arzt verpasste Lucien noch ein kleines Pflaster und geleitete die Beiden dann aus dem winzigen Häuschen, in dem der Behandlungsraum lag.
»Wo müssen wir lang zum Speisesaal?«, murmelte Lucien, als sie auf dem Weg standen.
»Da lang. Schau, man kann das Haus schon sehen.«
Dort angekommen wurden sie von einer matronenhaften Frau in Empfang genommen, die ein bisschen grimmig aussah, dass sie nach Neun noch arbeiten sollte, aber versöhnlich lächelte, als sie die beiden Schmutzfinken sah.
»Na dann kommt mal mit. Der Doktor sagte, von allem etwas. Also gibt es Suppe, Schnitzel und Pommes für euch. Gut, dass was übrig geblieben ist.« Sie schob Lucien und Mathieu auf eine der Bänke und verschwand in der Verbindungstür zur Küche.
»Gott, bei diesem Licht siehst du aus wie das Monster aus dem Sumpf«, kicherte der Blonde und legte die Krücke neben sich.
»Das ist alles deine Schuld«, knurrte der Rothaarige und rieb sich wieder über den Kopf, es wirkte verlegen, als würde es ihm etwas ausmachen, so ungepflegt vor dem Schulsprecher zu sitzen. Selbst unter Luciens Fingernägeln war noch Erde vom Waldboden.
Schief grinsend griff er sich eine Plastikgabel und fing an, diese zu säubern, als die Küchenfrau mit einem Tablett wiederkam, das voll beladen war.
»Hier, Jungs. Haut ordentlich rein.«
Die Beiden bekamen große Augen, als sie den kleinen Schnitzelturm sahen, die große Schüssel mit Pommes Frites und die Terrine mit Suppe.
Die Angestellte stellte alles ab und Mathieu schob Lucien einen Teller und ordentliches Silberbesteck zu, das unter dem Schnitzelteller gelegen hatte.
»Wow«, brummte der Rothaarige und der Schulsprecher konnte sehen, dass ihm das Wasser im Mund zusammenzulaufen schien. Er musste wirklich großen Hunger haben.
Lucien ignorierte die Suppe und die dazu gehörenden Schüsselchen, sondern tat sich gleich Fleisch, Pommes und etwas Soße auf.
»Bon Appetit«, grinste er und schob sich den ersten Bissen zwischen die Zähne.
Mathieu lächelte. Er fühlte sich wie früher, als er und Lucien noch Freunde gewesen waren. Als sie einander noch nicht das Leben schwerzumachen versucht hatten, sondern ganz natürlich miteinander umgegangen waren, Spaß hatten.
Er fragte sich, ob es wohl wieder so werden könnte. Natürlich würde er nie die Stellung einnehmen, die Etienne im Leben des Rothaarigen hatte, dessen war der Blonde sich bewusst. Aber ein weniger aggressives Verhältnis zu Lucien wäre ihm viel lieber als der ewige Zwist und Streit.
»Schau’ nicht so ernst, Minou. Iss, sonst wird es kalt und die Pommes pappig.«
Nickend begann Mathieu mit dem Abendessen.
Lucien rieb sich den Bauch, der leicht gewölbt zu sein schien. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass er allein fünf der Schnitzel verputzt hatte. Er hielt sich die Hand vor den Mund, als er aufstoßen musste und grinste zufrieden.
Mathieu überraschte es, dass der Rothaarige nicht einfach quer über den Tisch gerülpst hatte, denn seine Manieren waren sonst auch nicht die besten.
»Bist du soweit? Ich bin so müde, ich will zwei Tage schlafen. Aber ... ich bin auch so dreckig«, der Jugendliche gähnte und stellte das Geschirr zusammen.
Der Schulsprecher nickte und Lucien, der im Gegensatz zu dem Blonden laufen konnte, schaffte das Tablett auf den Tresen. Sie konnten die Frau in der Küche werkeln hören, sie würde es schon finden.
»Komm, Grantaine. Es ist nach Zehn. Die im Lager haben garantiert schon Nachtruhe. Dufayel ist ein Dödel. Wir brechen uns im Wald beinahe den Hals und kratzen fast ab, aber keiner kümmert sich um uns, wie wir von hier zu den Anderen zurückkommen.«
Der Rothaarige zeigte sich inzwischen wieder von seiner gewohnt rotzigen Art, nörgelte und hatte einen bitterbösen Blick aufgelegt. Man konnte daran deutlich ablesen, dass er sich nicht wohlfühlte und total erledigt war.
»Weißt du, du meckerst wie ein Kleinkind, wenn du müde bist«, gluckste Mathieu und humpelte an Krücken hinter Lucien her, der ihm die Türe aufhielt.
Dieser zuckte nur mit den Schultern und schob die Hände tief in die Taschen seiner dunklen Jacke. Sie hoben beide den Kopf, als sie Schritte auf dem Kiesweg hörten und ihnen der besagte Sportlehrer mit einer Taschenlampe entgegen kam.
»Ah, ihr seid schon fertig. Ich wollte euch gerade abholen kommen, damit ihr in die Betten kommt.«
»Ich bin verdreckt wie ein Schwein. Grantaine auch. Wir stinken nach Moos, Schweiß und allem, was noch eklig ist. So gehen wir bestimmt nicht pennen«, schoss Lucien auf ihn ab und schnaubte, was Monsieur Dufayel kurz zucken ließ.
»Du bist also wieder in Höchstform. Gut zu wissen, dass du keinen bleibenden Schaden von deinem Schwächeanfall davon getragen hast«, die Lippen des Mannes zuckten verräterisch im Licht der Taschenlampe. »Na gut ... schafft ihr das Duschen allein oder soll ich mitgehen?«
»Warum? Wollen Sie zusehen?« Luciens Launen waren bereits legendär und auch seine Sprüche überraschten niemandem mehr wirklich. Mathieu konnte nicht anders und fing zu lachen an. Irgendwie erheiterte es ihn, nach all der Angst, die er an diesem Abend ausgestanden hatte, die frechen Kommentare des Rothaarigen und die ebenso schlagfertigen Antworten des Lehrers zu hören, der sich von Lucien noch nie die Butter vom Brot hatte nehmen lassen.
»Das würde meiner Frau nicht gut gefallen«, konterte der Mann, schmunzelte und wandte sich ab, um den Jungen den Weg zu leuchten.
Lucien blickte zu dem noch immer glucksenden Schulsprecher und zog die Braue hoch. »Witzwasser getrunken, Minou?«
»Nein, Cabot. In mir löst sich nur gerade eine Anspannung.«
Der Rothaarige schaute den anderen Jungen einen Augenblick finster an, weil dieser ihn ‚Hündchen’ genannt hatte, zuckte dann aber leicht mit den Schultern. Das hatte er wahrscheinlich verdient.
»Du solltest versuchen, deinen Druck anders abzubauen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich bin ja nicht du.«
»Da hast du Recht«, Lucien machte ein sonderbares Geräusch, irgendetwas zwischen Schniefen und Auflachen und obwohl Mathieu ihn daraufhin ansah, schwieg der Rothaarige den Rest des Weges, bis sie ihren Zeltplatz zwischen den Bäumen sehen konnten.