Monsieur Dufayels abartig laute Tröte riss Mathieu und Lucien in der Morgendämmerung aus dem Schlaf, zusammen mit allen anderen Mitschülern. Man konnte durch die Zeltwände das Murren der anderen hören und der Rothaarige zog sich die bunte Decke über den Kopf, unwillig zappelnd.
»Kann der uns nicht in Ruhe lassen?«, fauchte es unter dem Stoff und Mathieu streckte sich. Sein Knöchel tat noch immer weh und er konnte ihn nicht gut bewegen.
»Vielleicht können wir weiter schlafen, wenn die anderen erst weg sind«, murmelte der Blonde und rieb sich über den Nacken.
Lucien zog sich die Decke vom Kopf und zerwühlte damit sein blutrotes Haar. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Wahrscheinlich dürfen wir Geschirr waschen und den Grill putzen und das Essen machen und solche Chosen.«
»Hoffentlich wird es heute etwas wärmer. Mir ist immer noch kalt.« Wie zur Bestätigung nieste Mathieu heftig und wischte sich über die Nase.
Lucien zog die Braue hoch und grinste. »Gesundheit ...«
»Verzeihung.« Der Schulsprecher schob sich wackelig aus seinem Himalaya-Schlafsack und zischte. Der versehrte Knöchel war dick angeschwollen und hatte eine unschöne lila-blaue Farbe angenommen.
»Das sieht ehrlich nicht gut aus. Vielleicht sollte der Doc hier dir nen Stützverband oder so machen.«
»Wäre vielleicht keine schlechte Idee. Toll. Der Ausflug ist für den Lokus. Das wird nie besser, bis wir wieder heim müssen.«
»Klingt beinahe so, als hättest du echt Bock auf dieses Naturburschenzeug gehabt?«
Mathieu nickte. »Wenn ich mit meinen Eltern verreise, geht es immer in elegante Hotels. Nichts gegen den Komfort, das ist toll, denn ich hasse Camping. Aber Wandern, Klettern und Schnipseljagden gibt es da nicht ...«
»Schnipseljagd?«
Der Schulsprecher versuchte, sich eine Jeans über die Beine zu ziehen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Er blickte zu Lucien, der inzwischen aufrecht saß und unverschämt laut gähnte.
»Ja«, sagte Mathieu. »Monsieur Dufayel wollte am letzten Tag so etwas veranstalten.«
»Mit Gewinn und so?«
»Ne Tüte Süßigkeiten.«
Der Rothaarige brummte. »Und da wolltest du mitmachen? Du magst doch Süßkram eh nicht.«
»Es geht doch um den Spaß an der Suche, Lucien.«
»Als wären wir wieder im Kindergarten.«
Mathieu zog eine Braue hoch und schaute den Anderen an. »Was spricht dagegen? Oder bist du gern Teenager? Mit all den blöden Problemen. Früher war vieles viel einfacher und schöner. Ich find’s gar nicht so toll, erwachsen zu werden.«
Lucien biss sich auf die Zunge. Das langweilige Leben eines Erwachsenen stand für ihn ja nicht zur Debatte. Doch im Gegensatz zu dem Schulsprecher hatte er sich darauf gefreut und fand es eigentlich ganz cool, den Kinderschuhen entwachsen zu sein. Er hatte Pläne gehabt, was er tun wollte nach der Schule, wie sein Leben aussehen sollte. Er hatte reisen wollen, Musik machen in New York, vielleicht mal aus einem Flugzeug springen oder den Jakobsweg in Spanien ablaufen. All diese Dinge, die sich Leben nannten und die das Schicksal ihm genommen hatte.
»Weiß nicht«, entgegnete er so nur auf die Frage des Blonden. Er würde Mathieu mehr erklären müssen, wenn er ihm sagte, dass er anderer Meinung war. Und das wollte Lucien nicht. Er hatte die Frage des Schulsprechers, zwei Nächte zuvor, noch nicht vergessen und wollte nicht, dass dessen Verdacht, mit ihm könnte irgendetwas nicht stimmen, sich erhärtete. So nahe standen sie sich lange nicht mehr, als dass es Mathieu irgendetwas angehen würde!
Und Lucien wollte kein Mitleid! Dass Monsieur Dufayel und der Camp-Arzt ihn so angesehen hatten, hatte ihm gereicht.
»Na jedenfalls kann ich mir das Spiel klemmen. Mit dem Fuß und Krücken bin ich nie und nimmer schnell genug, um bei der Jagd was zu reißen. Das kotzt mich echt an. Ich bin auch vom Pech verfolgt«, knurrte der Schulsprecher in Luciens Gedanken und dieser grinste leicht.
Es war schön, eine wenn auch schmerzhafte Knöchelverstauchung schon als das Höchste an Unglück anzusehen, was einem passieren konnte. Er wünschte sich, ihm ginge es ähnlich und das, was über ihn hereingebrochen war, wäre nach ein paar Tagen ausgestanden.
Der Rothaarige seufzte leise, was die Aufmerksamkeit Mathieus auf sich zog. Der Blick, den der Blonde Lucien zuwarf, war diesem unangenehm. Der Schulsprecher war deswegen so gut in seinem Amt, weil er in der Lage war, Menschen zu lesen, auch wenn diese nichts sagten.
»Glotz’ nich so oder willst du ein Passbild?«, fauchte der rothaarige Jugendliche deswegen barsch und schob sich aus dem Schlafsack. Rasch war er angezogen und schlüpfte aus dem Zelt in seine Boots.
Mathieu folgte ihm langsamer, einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Dass Lucien etwas auf der Seele lag, über das er nicht reden konnte oder wollte, das konnte der Blonde spüren. Doch er würde sich vermutlich eher einen Arm abhacken, als ausgerechnet ihm, Mathieu, davon zu erzählen. Egal wie gut sie sich auf diesem Ausflug bisher verstanden hatten. Sobald sie wieder zurück in Biarritz waren, würde es wieder anders aussehen, dessen war der Jugendliche sich sicher. Dann würden sie wieder wie Hund und Katze miteinander zanken und sich Steine in den Weg legen.
Schade eigentlich, dachte der Schulsprecher und humpelte mehr schlecht als recht auf seinen geliehenen Krücken in den Waschraum, um seine Morgentoilette hinter sich zu bringen.
»Ich hoffe, jeder hat Wasser und ein paar Brote eingepackt. Wenn wir erst da sind, habt ihr keine Gelegenheit mehr, etwas zu kaufen.« Der Sportlehrer Dufayel, an diesem Morgen angezogen wie ein Bergsteiger, hatte seine Schüler versammelt und alle warteten aufgeregt, dass es endlich losging. Sie waren neugierig auf den Klettergarten, denn die wenigsten von ihnen hatten so etwas schon einmal getan.
Nur Lucien und Mathieu saßen gelangweilt auf den Bänken und schauten missmutig drein. Monsieur Dufayel hatte ihnen deutlich gemacht, dass sie im Lager bleiben mussten, da der eine nicht laufen konnte und der andere sich nicht anstrengen durfte.
»Na langweilig wird den beiden dann aber nicht. Entweder, die zanken sich oder ...« Einige ihrer Mitschüler rissen Zoten und warfen mit Anspielungen um sich. Zu viele meinten, dass die anhaltende Ablehnung der beiden zueinander eigentlich nur ein Versuch war, zu verstecken, dass in Wahrheit etwas zwischen ihnen lief.
Lucien, den das Gerede genervt hätte, wären die Umstände anders, achtete nicht weiter darauf. Wäre er gesund und seine Monate nicht gezählt, würde er vehement dagegen vorgehen, dass ihm jemand etwas mit Grantaine anhängen wollte. Jetzt empfand er es als Zeit- und Energieverschwendung. Was machte es schon, wenn die Idioten das dachten?
Es kümmerte ihn nicht, ob ihn jemand anderes für schwul hielt. Das war kein Weltuntergang. Und wenn doch, würde er den nicht mehr erleben.
Mathieu betrachtete das allerdings ganz anders. Seine Wangen waren rot und er versuchte, die anderen von den Anspielungen abzuhalten und sie zu drängen, das Gequatsche sein zu lassen.
»Je mehr du es abstreitest, desto verdächtiger machst du dich«, kicherte Valerie, die auf ihrem obligatorischen Block herumkritzelte, als würde sie Infos für eine neue Story in der Schülerzeitung sammeln.
»Hör’ auf mit dem Mist, okay? Das ist Verleumdung, wenn du so was veröffentlichst! Ich lass’ dich aus der Redaktion werfen, wenn du das machst!« Der Schulsprecher hatte die Hände zu Fäusten geballt und seine goldenen Augen blitzten.
Die Mädchen rund um die Hobby-Reporterin kicherten ungehalten. »Hast du Angst, dass man euch enttarnt?«
Lucien warf einen leeren Pappbecher in die Runde und knurrte: »Haltet doch endlich mal die Schnauze! Habt ihr kein eigenes Leben? Man bekommt ja Pocken, wenn man euch so zuhört. Euer Liebesleben muss ja echt öde sein, wenn euch andere so sehr interessieren.«
»Also gibst du zu, dass ihr eins miteinander habt?« Valeries Augen begannen zu leuchten, doch sie zuckte zurück, als der Rothaarige sie anfunkelte.
»Du verstehst auch nur, was du hören willst, oder? Und jemanden wie dich lassen sie in die Zeitung? Wird da nicht strenger ausgesiebt? Kindergarten ist das mit euch.«
Die Vermutungen und das Geschnatter wurden von der Tröte des Lehrers unterbrochen, die alle zusammenzucken ließ.
»Also dann. Auf mit euch. Wir wollen möglichst früh da sein.«
Die Jugendlichen erhoben und sammelten sich. Lucien verzog das Gesicht, als er Mathieus Schwester Celeste mit Valerie reden sah. Sicher behauptete sie gerade mit dem Brustton der Überzeugung, er, Lucien, wäre ihr fester Freund und sie hätten sich nur noch nicht entschieden, es öffentlich zu machen. So etwas würde er dem blonden Mädchen durchaus zutrauen. Doch bevor er mit Celeste gehen würde, würde er doch noch Mathieu nehmen. Der sabberte beim Küssen nicht wie ein Wischmopp.
Innerlich grinsend und den Gedanken wieder verwerfend, beobachtete der Jugendliche, wie seine Mitschüler im Gänsemarsch abzogen. Er beneidete sie. Er hatte keine Verletzung, die ihm das Laufen und Klettern erschweren würde. Doch sein Schwächeanfall disqualifizierte ihn und verdonnerte ihn zu einem Tag der Langeweile.
»Und was machen wir jetzt?«, murrte er deswegen zu dem Schulsprecher, der den anderen nicht weniger sehnsüchtig hinterher gesehen hatte.
»Äh ... wir haben ein paar Aufgaben.« Mathieu brummte, als er auf den Plan sah. »Wie du gesagt hast: Geschirr waschen und Camp aufräumen. Aber dann ist Freizeit. Tja ... was machen wir ... keine Ahnung ... ähm ... da hinten gibt es einen Spielplatz. Wir ... könnten schaukeln gehen.« Der Blonde bekam rote Wangen und schien diesen Vorschlag in derselben Sekunde bitterlich zu bereuen, denn er wagte kaum, Lucien anzusehen.
Dieser jedoch lachte leise und nickte dann. »Klar. Wenn man dabei in den Himmel sieht, hat man das Gefühl, man könnte fliegen.«
Umständlich machte sich Mathieu schließlich daran, das wenige Keramik- und Plastikgeschirr in einer Schüssel zu spülen, während Lucien herumging, um die ganzen benutzten und kaputten Pappteller und Papierfetzen aufzusammeln, die die Schüler über ihren Zeltplatz verteilt hatten. Er fand Einwegbecher an den unmöglichsten Stellen und wollte gar nicht wissen, wie die dorthin gelangt waren.
»Pfui«, schimpfte er nach einer Weile lautstark und zog Mathieus Aufmerksamkeit damit auf sich.
»Was ist?«
»Die Deppen hier in dem Zelt haben die blöden Becher als Nachttopf benutzt. Die sind voller Pisse. Das ist doch nicht wahr.«
»Zu faul, nachts an einen Baum zu gehen, huh? Geschweige denn zum Waschraum. Lass’ sie stehen. Sollen sie selbst wegräumen.«
»Die hätt’ ich eh nich’ angefasst. Igitt«, Lucien schleifte den Müllsack zum Grillplatz zurück und knotete ihn zu.
Es war gerade erst kurz nach Neun und allmählich klärte sich der Himmel. Der Sommer war lange vorbei und damit auch die Zeiten, in denen zu dieser Uhrzeit bereits die Sonne geschienen hätte. Mathieu hatte eine rote Nase und man konnte sehen, dass ihm kalt war.
»Weißt du, vor dem Ausflug dachte ich mir, wir werden alle nach Hause zurückkommen und total erkältet sein. Und jetzt schau dich an. Deine Nase trieft ja schon fast.«
Wie zur Bestätigung zog der Schulsprecher hoch und seufzte. »Ja. Irgendwie war das nicht gut geplant. Das hätten sie drei Wochen früher machen sollen, nicht erst, wenn der September zu Ende ist. Oder halt nächstes Jahr, nach Ostern oder so. Aber ich bin eh ein ... Weichei. Ich kann Kälte nicht gut vertragen und werde immer krank, wenn ich friere.«
»Du hast aber auch Stunden auf kaltem Waldboden gesessen. Da hätte jeder ’nen Rotz bekommen.«
Mathieu schmunzelte. »Versuchst du gerade, mir Mut zu machen?«
Lucien knurrte. »Bilde dir keine Schwachheiten ein, Grantaine. Ich sage es, wie es ist.«
»Na gut.« Der Blonde lächelte leicht und goss das Wasser weg. Er wusste, dass es dem Rothaarigen nicht leicht fiel, ihm gegenüber etwas Nettes zu sagen. Er würde sonst sein Gesicht verlieren, die Maske, die er trug, damit alle glaubten, er wäre das unnahbare Raubein. Mathieu hingegen kannte Lucien noch aus dem Kindergarten, wo er derjenige gewesen war, der Angst hatte, dass man ihn ausschloss und der Blonde der, der alle geärgert hatte. Damals waren ihre Rollen vertauscht gewesen.
Doch Mathieu war erwachsen geworden. Zumindest ein Stückweit. Er hatte begriffen, dass es ihm nichts bringen würde, für immer der Rebell zu bleiben, sondern dass er sich einzuordnen hatte, wenn er in der Welt anerkannt werden wollte. Wenn sein Vater ihn anerkennen sollte. Manchmal jedoch glaubte Mathieu, dass Lucien es richtig gemacht hatte. Dass es ihn freier sein ließ, nicht jeden Schritt dreimal zu überdenken und auch mal nichts darauf zu geben, ob die Eltern stolz auf einen waren.
Der Schulsprecher beneidete Lucien. Das war dem Jugendlichen schon oft in den Sinn gekommen. Dessen Selbstbewusstsein lag so weit außerhalb einer für Mathieu messbaren Skala, dass es ihn beeindruckte. Egal, was geschah, der Rothaarige blieb immer souverän und selbst wenn er in eine peinliche Situation geriet, ließ er sich davon nicht unterkriegen. Er könnte nackt vor der gesamten Schule stehen und würde wahrscheinlich nicht einmal erröten.
Mathieu hingegen hatte fast ein Jahr gebraucht, um das extreme Lampenfieber abzulegen, das er gehabt hatte, wenn er vor der Schülerschaft oder auf den Lehrerkonferenzen sprechen sollte.
»Okay ... ne Stunde schaukeln? Wir können danach ja mal zum Haupthaus gehen und die verdreckten Klamotten waschen. Das war meine gute Jacke und die steht vor Dreck«, Lucien streckte die langen Beine aus und hob das Gesicht gen Himmel.
Mathieu, dem zum ersten Mal auffiel, wie lang die Haare des Anderen geworden waren, konnte nicht anders, er musste lächeln. Diese kindliche Haltung, die Lucien eingenommen hatte, berührte etwas in dem Blonden, das er nicht erklären konnte. Es ließ den Rothaarigen zerbrechlich wirken, zart. Wie etwas Flüchtiges, das man erhaschen musste, solange es da war, weil es sonst verschwand und nie wieder zurückkehrte.
Ein schmerzhaftes Gefühl, wie ein Stich und ein unbekanntes Sehnen, durchfuhr Mathieu. Wie eine dunkle Vorahnung. Angestrengt presste er für einen Moment die Augen zusammen und schob es beiseite. Er wollte nicht so fühlen und erst recht keine Angst haben vor etwas, das vielleicht niemals geschehen würde. Vermutlich sah er nur Gespenster.
»Ja. Lass’ uns schaukeln gehen.«