Die Sonne kam heraus, als die beiden Jungen den leeren Spielplatz erreichten. Das Lager kam ihnen wirklich verlassen vor. Wenn tatsächlich noch andere Schulklassen oder Reisegruppen hier waren, so hatten sie die noch nicht gesehen. Hin und wieder erhaschte man mal einen Blick auf einzelne Personen, aber es war so unbelebt und still, dass man schnell glauben konnte, sie wären ganz allein hier.
Dufayel hatte wohl Recht mit seiner Vermutung, dass die anderen Gäste genauso an den vielen Sportaktivitäten teilnahmen und nur zum Schlafen ins Lager kamen.
Mathieu war es recht, dass es so still war. Er mochte die ruhigen Töne lieber, mochte keinen Trubel und war meist immer besonders froh, wenn Schulveranstaltungen ihrem Ende zugingen.
Lucien war es zeitweise allerdings zu ruhig. »Draußen könnte die Welt untergegangen sein und wir hocken hier und bekommen nichts mit.«
Der Schulsprecher musste über diese Aussage lachen. »Du meinst, die Zombieapokalypse hat begonnen und wir sind die Einzigen, die nicht infiziert sind?«
»Du hast gestern selbst gesagt, dass das theoretisch möglich wäre.«
»Jaaaa«, stimmte Mathieu zu, »aber eben auch nur theoretisch.« Der Blonde mühte sich mit den Krücken ab, als sie den Spielplatz erreichten, der komplett mit lockerem, hellem Sand bedeckt und sehr weich war.
»Meinst du, die Mächtigen und die Pharmakonzerne würden so etwas öffentlich machen? Dass so eine Seuche irgendwo ausgebrochen ist? Wir merken das doch eh erst, wenn es längst zu spät ist.«
»Wahrscheinlich. Ich hoffe, ich sterbe lange bevor das passiert. Ich will nicht gefressen werden und ich bin viel zu unsportlich, um lange zu fliehen.« Mathieu stellte die Gehhilfen an das Geländer der Schaukel und hopste einbeinig zu einer, um sich zu setzen. Tief durchatmend lächelte er schließlich.
Lucien setzte sich auf die zweite und hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Nein, er glaubte auch nicht daran, dass der Schulsprecher es lange machen würde. Er war klug und seine Intelligenz mochte für ihn ein Vorteil sein, da Stärke allein nicht alles war. Doch wenn er keine Ausdauer hatte, würde ihm das alles nichts nutzen. Und wenn man Veröffentlichungen wie ‚The Walking Dead' als Beispiel nahm, wie es wäre, wenn das wirklich geschehen würde, wüsste man, dass auch ein Auto keine Garantie zum Überleben war.
»Besser wird es sein, Grantaine. Du würdest deine Gruppe nur aufhalten, Intelligenz hin oder her.«
»Du bist immer so aufmunternd«, schmunzelte der Blonde und stieß sich leicht ab, um seine Schaukel in Bewegung zu setzen.
Lucien tat es ihm nach und seine Haare wehten ihm ins Gesicht. »Weißt du, wenn die Zombies wirklich kommen, verspreche ich, dass ich auf dich aufpasse.«
»Würdest du?«
»Klar. Und wenn ich dir nur so viel Zeit verschaffe, dass du abhauen kannst. Ich hab vor dem Tod keine Angst.«
Mathieu sah zu dem Rothaarigen hinüber, der sich schnell höher bewegte und bei jedem Aufschwung den Kopf gen Himmel reckte. Seine Wangen hatten sich gerötet und ein Lächeln lag auf seinen Lippen, so friedlich und gelöst, wie der Schulsprecher es noch nie bei Lucien gesehen hatte. Als wäre dieses einfache Spiel für ihn das höchste Glück der Erde.
Der Jugendliche war sich fast sicher, dass Lucien von der Schaukel springen und davon fliegen würde, wenn er nur könnte.
»Komm schon, Angsthase. Oder traust du dich nicht, höher zu steigen?« Das Lachen des Rothaarigen erinnerte Mathieu an frühere Zeiten, als sie gemeinsam im Kindergarten gewesen waren. Damals war Lucien nach einer Weile, wenn er am höchsten war, immer abgesprungen. Er hatte sich unzählige Male böse das Knie aufgeschrammt, doch nie geweint, sondern immer gelacht, als wäre dieser kurze Moment des Fliegens das Schönste auf der Welt. Mathieu rechnete fest damit, dass er das auch heute wieder tun würde.
»Ich wünschte manchmal, ich wäre Ikarus, um einmal zur Sonne fliegen.«
»Ikarus stürzte ins Meer und kam dabei um«, entgegnete der blonde Jugendliche und sah Lucien von der Seite an. Dessen Augen waren weit offen und gen Himmel gerichtet. Sie glitzerten und wirkten hell und silbern.
»Das wäre es mir wert. Für einen Augenblick der absoluten Freiheit, weit weg von Angst, Verzweiflung und Wut. Danach könnte ich glücklich abtreten. Ich wünschte, so etwas würde tatsächlich funktionieren. Fliegen mit Flügeln aus Wachs, wie ein Engel.«
»Du glaubst also auch an Engel?«
Lucien wandte Mathieu den Kopf zu und grinste schief. »Ungewöhnlich?«
»Für dich? Auf jeden Fall. Du warst immer der Erste, der in Religion eingeschlafen ist.«
»Das bedeutet gar nichts. Religion ist steif, dogmatisch und festgefahren. Das ist nichts für mich. Doch das heißt nicht, dass ich nicht glaube. Vielleicht nicht an Gott als das, was die Kirche uns vorschreibt, doch sehr wohl an Dinge jenseits unseres Verstandes. Wie Karma. Und Engel.«
»Das passt alles so gar nicht zusammen«, kicherte Mathieu.
»Warum? Die Buddhisten glauben an Wiedergeburt und Belohnung für gute Taten in einem früheren Leben. Die Christen glauben an den Himmel, in den man auch nur kommt, wenn man im Leben gut war. So unterschiedlich ist das nicht.«
»Hmmm«, machte der Blonde, »vielleicht nicht.«
»Die Grundsätze aller Religionen überschneiden sich irgendwo. Die Moslems bekommen zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies, die Christen kommen in den Himmel, die Buddhisten steigen auf, bis sie irgendwann das Nirwana erreichen.«
»Bekommen die im Islam ihre Jungfrauen nicht nur, wenn sie einen Märtyrer-Tod sterben und sich für Allah opfern?«
Lucien nickte. »Na, die einen bekommen Sex und die anderen einen Heiligenschein.«
»Wenn man also nach den längst veralteten Regeln und Gesetzen uralter Bücher lebt, von deren Inhalt das meiste nur Märchen sind, ist das gottgefällig? Ich weiß ja nicht«, Mathieu hatte etwas an Höhe verloren. Ihn strengte das an, er war diese Art der körperlichen Betätigung nicht gewöhnt.
»Ich auch nicht. Ich habe die Bibel einmal gelesen, weil meine Mutter es verlangt hat. Danach nie wieder. Ich bin Katholik auch nur auf dem Papier. Das gibt mir alles nichts, so wie Etienne wegen jeder Schularbeit in der Kirche eine Kerze zu entzünden und so. Aber das heißt nicht, dass ich nicht empfänglich bin für einige Mysterien.«
»Unter anderem mit Wachsflügeln zur Sonne zu fliegen?«
Lucien nickte erneut und lächelte Mathieu auf eine Weise an, die diesen sonderbar berührte. »Ja. Um dem Himmel ein Stückchen näher zu kommen.«
Mit einem plötzlichen Satz erhob sich der Rothaarige, ließ die Ketten los und verlor den Halt zu seiner Schaukel, um mit einem eleganten und weiten Bogen durch die Luft zu gleiten und reichlich Sand aufwirbelnd aufzukommen, in die Knie zu sacken und der Länge nach niederzusinken.
Mathieu rief erschrocken nach ihm und humpelte von seiner Schaukel zu Lucien, der inzwischen auf dem Rücken lag, die Augen in den Sonnenschein gerichtet und Tränen auf den Wangen. Doch er lächelte, als der Blonde sich neben ihm hinhockte und auf die Schulter boxte.
»Du bist ein Idiot. Ich dachte, du hättest dir was getan!«
Der Rothaarige wischte sich über die Augen. »Ach was. Hab ich das früher je getan? Mir geht's gut. So gut wie lange nicht mehr. Es war eine super Idee, hier her zu kommen, Mathieu. Danke.«
Mathieu ließ sich auf seinen Hintern fallen und schüttelte den Kopf. »Du benimmst dich wirklich merkwürdig. Dass du unberechenbar bist, weiß ich ja, aber das ... himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.«
»Weißt du, ich glaube einfach, dass wir viel zu viel nachdenken. Wir grübeln alles immer und immer wieder durch und meinen, wir hätten alles im Griff und nichts kann unsere Pläne zerstören. Ohne dabei zu wissen, dass all das, was wir meinen, so sicher festhalten zu können, nicht mehr ist als ein wackeliges Kartenhaus auf einem unruhigen Untergrund, umgeben von starken Winden. Wir können gar nichts kontrollieren. Wir sind ein Spielball inmitten eines großen Nichts. Ich denke einfach, dass es leichter ist, mit dieser Gewissheit zu leben, wenn man hin und wieder einfach das tut, was man möchte. Und sei es, einfach mal so von einer Schaukel zu springen. Meinst du nicht? Ich würde ja sagen, mach es auch. Aber das würde deinem Knöchel nicht gut tun.«
»Wirst du mir irgendwann sagen, wie aus einem Hitzkopf wie dir so ein Philosoph werden konnte?«
Lucien wandte dem Blonden den Blick zu. »Ich bin noch immer ein Hitzkopf. Daran wird sich auch nichts ändern. Ich habe nur ... begonnen, über so manches nachzudenken. Das ist es, was ich tue, seit wir angefangen haben, erwachsen zu werden. Ich denke über unsinniges Zeug nach.«
»Vor den Ferien hättest du über das, was du gesagt hast, gelacht.«
Der Rothaarige nickte. Ja, das hätte er. Damals war er aber auch noch in dem Glauben gewesen, unsterblich zu sein und noch ein langes Leben vor sich zu haben, in dem er mehr als genug Zeit haben würde, sich mit schweren Dingen auseinanderzusetzen, Entscheidungen zu treffen und irgendwann über den Tod nachzudenken. Etwas, das man mit Siebzehn normalerweise eben nicht tat. In dem Alter träumte man von seinem ersten eigenen Auto, oder nicht? Nicht von Flügeln, um zur Sonne zu fliegen, wenn man eh schon sterben musste.
»Ja. Du hast Recht. Aber ... ich sagte ja, das Leben ist ein Kartenhaus.«
»Hmm ...«
Lucien setzte sich wieder auf und rubbelte sich etwas Sand aus den Haaren. »Na los, lass uns weiter machen. Bevor die anderen irgendwann zurückkommen, uns hier sehen und wir den Rest des Ausfluges ausgelacht werden, weil wir so eine alberne Spielerei veranstalten.«
Er zog den Schulsprecher auf die Beine und stützte ihn, um zur Schaukel zurückzukommen. Sie verbrachten den ganzen Nachmittag auf dem Spielplatz und Mathieu fühlte sich danach unglaublich gelöst. Auch wenn Lucien ihm nicht verraten hatte, was ihn so belastete, glaubte der Blonde, einen Schritt weiter durch die harte Schale des Rothaarigen gedrungen zu sein.
Lucien träumte also von Ikarus. Wer hätte das gedacht und erwartet, dass der sonst so uninteressierte Jugendliche einen Hang zur griechischen Mythologie hatte und ihm ausgerechnet diese Tragödie so wichtig war, dass er sich wünschte, sie nacherleben zu können.
Es stimmte Mathieu aber auch traurig, als hätte diese Offenbarung ihm gleichzeitig gesagt, dass Lucien insgeheim einen Todeswunsch hatte. Oder vielleicht war er auch einfach nur überfordert von dem ganzen neuen Zeug, was in der Zukunft auf sie zukommen würde.
Erwachsen zu werden bedeutete, ein eigenes Leben zu haben. Das konnte einem schon Angst machen. Nicht wenige bekamen in ihrem Alter das erste Mal eine leichte Depression. Wichtig war, diese nicht zu stark werden und sich die Freude an der restlichen Zeit als Schüler dadurch ruinieren zu lassen. Ob man es nun liebte oder hasste, diese besonderen Jahre bekam man niemals wieder zurück.
Jeder Erwachsene, den der Schulsprecher kannte, hatte ihm versichert, dass man die Schule oder zumindest die Zeit mit den Freunden irgendwann vermissen würde, wenn das alles erst einmal vorbei war. Und Mathieu glaubte ihnen aufs Wort. Sie alle hatten ihre alten Kontakte aus den Augen verloren, sich in alle Winde zerstreut, egal wie sehr man sich geschworen hatte, die Freundschaft weiterbestehen zu lassen.
Der Blonde wusste, dass ihm und seinen Mitschülern vermutlich das gleiche Schicksal drohte. Umso mehr versuchte er, sich an alles zu klammern, was er jetzt hatte.
Er wandte den Kopf zu Lucien, der schon wieder den Traum vom Fliegen durch hohes Schaukeln auslebte, und lächelte.
Zumindest zu ihm hätte Mathieu gern für immer einen guten Draht, trotz all ihrer oberflächlichen Differenzen. Den Glauben daran, dass der Rothaarige ihm Unglück bringen würde, hatte der Schulsprecher schon lange wieder verworfen.