Als sich der Himmel zuzog und die kühle Herbstsonne hinter dunklen Wolken verschwand, nahmen Mathieu und Lucien die Beine in die Hand, um zu ihrem Lager zurückzukommen. Auf einen Schauer und anschließendes Herumsitzen in feuchten Klamotten hatten sie keine Lust.
»Schnell, du Krüppel«, trieb der Rothaarige den Schulsprecher an, der sich mit den Krücken abkämpfte. »Da wären wir ja schneller, wenn ich dich tragen würde, Mann!«
»Halt’ die Klappe«, knurrte Mathieu. Seine Wangen waren gerötet, sowohl aus Anstrengung als auch aus Verlegenheit. Der Gedanke, noch einmal von Lucien getragen zu werden, berührte ihn sonderbar und er war sich nicht sicher, ob er dieses Gefühl in seiner Brust haben wollte. Entgegen dem, was seine Familie ihm anerzogen hatte, fand er nichts Anstößiges daran, einem anderen Jungen so nahe zu kommen. Mathieus Vater hatte ihm jedoch bereits früh eingebläut, dass es sich nicht gehörte, zu engen Kontakt zum Körper eines anderen Mannes zu haben. Es war unmännlich, diesen zu erbitten, zu suchen oder zu dulden, denn es würde einen Jungen schwul ‚machen’. Der Schulsprecher vertrat eine andere Meinung als sein alter Herr, doch offen mit diesem über solche Themen reden konnte man nicht. Das endete in Krach und im schlimmsten Fall mit Hausarrest, weil man widersprochen hatte.
Mathieu vermutete hinter der homofeindlichen Einstellung seines Vaters irgendein Ereignis in dessen Jugend, das ihn so verbohrt hatte werden lassen. Denn dass Celeste ihre besten Freundinnen vor den Augen von Grantaine Senior zur Begrüßung auf den Mund küsste, nahm dieser kommentarlos hin. Mathieu würde sich schneller eine Ohrfeige fangen als er blinzeln könnte, wenn er das mit einem seiner Kumpels tun würde.
»Mädchen sind nicht lesbisch«, hatte der Vater des Blonden ihm mal geantwortet, als dieser das angesprochen hatte. »Sie sind nur so lange neugierig, bis sie den Mann treffen, den sie heiraten und mit dem sie Kinder bekommen, wie sich das gehört.«
Der Jugendliche hatte diese steinzeitliche Bemerkung so stehen lassen. Es hätte ihm nichts gebracht, seinem Vater zu sagen, dass Frauen in der heutigen Zeit gut ohne Mann auskamen und auch Nachwuchs ohne diesen haben konnten. Grantaine Senior war irgendwo in den 1960ern stecken geblieben und vertrat die Ansicht, eine Frau hatte zu heiraten und ihren Mann zu versorgen. Arbeit, Emanzipation, Gleichberechtigung - das waren Begriffe, die es für den renommierten Juristen nur in seiner Kanzlei gab. Zuhause lebten sie seit jeher nach diesem altmodischen Prinzip, bei dem der Vater Herr über alles war. Mathieu und Celeste verdankten es nur ihrer modernen Schulbildung und den sozialen Medien, dass sie nicht die gleichen veralteten Vorstellungen hatten. Beide besaßen einen eigenen Verstand und nutzten diesen - auf die eine oder andere Art - für sich aus, um sich ihre Meinung über die Welt selbst zu bilden.
Doch während Mathieu, auch wenn er in vielem nicht mit seinem Vater übereinstimmte, dennoch dessen Anerkennung suchte und hart dafür arbeitete, gab Celeste nichts darauf, sondern lebte einfach ihr Leben als ganz normaler französischer Teenager der gehobenen Mittelschicht und forderte für sich jedes Recht der modernen Zeit. Sie als die Prinzessin brauchte sich nicht anzustrengen, um die Liebe des Vaters zu erhalten, da sie ohnehin dessen erklärtes Lieblingskind war.
Der Schulsprecher hingegen, als der älteste und einzige Sohn, hatte seinen alten Herrn stolz zu machen und das, so glaubte Mathieu, war nur schwer möglich. Er kannte die Gedanken seines Vaters diesbezüglich nicht. Nur wenn der Blonde in dessen Augen etwas falsch gemacht hatte, bekam er das zu spüren. Und wenn Mathieu nun diese komischen Gefühle Lucien gegenüber nicht los wurde, würde es ein Donnerwetter geben, von dem er sich so schnell nicht erholen würde.
»Halt’ du doch die Klappe. Wenn wir nass werden und duschen müssen, kannst du das allein machen. Also beeil’ dich.« Der Rothaarige hatte die Hände in die Hüften gestemmt, aber ein neckisches Grinsen um seine vollen Lippen.
»Weil du ja auch so scharf darauf bist ... au ... oder ich. Scheiße«, fluchte Mathieu und schüttelte sich umständlich den Sand von den Schuhen, als er auf dem Rasen neben Lucien angekommen war.
»Klar, nächtliches Duschen mit dir. Ein wahr gewordener Schwulentraum von mir, ich geb’s zu«, schnarrte der Rothaarige und eilte voran, nun, da der Schulsprecher besser Schritt halten konnte.
»Reib’ nur immer schön Salz in die Wunde«, murrte Mathieu, aber so leise, dass Lucien ihn nicht verstehen konnte. Der blonde Jugendliche fragte sich, wann er angefangen hatte, die Meinung des Rothaarigen zu sich selbst so wichtig zu nehmen. Wann hatte er begonnen, sich dafür zu interessieren, ob Lucien ihn attraktiv fand? Vielleicht war es so, weil dieser selbst so gutaussehend war, dass man als Junge nicht hinter ihm zurückstecken wollte. Womöglich war es ein ganz natürliches Empfinden, doch Mathieu hatte sich noch nie so viele Gedanken über seine Erscheinung gemacht wie die letzten Wochen.
Die ersten Tropfen fielen, als die Jugendlichen ihren Lagerplatz erreichten und Lucien hielt dem Schulsprecher die Zeltplane auf, damit dieser ungehindert hineinkam, bevor er selbst eintrat und den Reißverschluss zuzog.
»So viel zum Wäsche waschen. Wir haben die Zeit vertrödelt. Tut mir leid«, brummte Mathieu und ließ sich ächzend auf seinem Bett nieder. Mit verkniffenen Lippen rieb er sich den Knöchel und seufzte.
»Willst du was gegen Schmerzen?« Der Rothaarige warf seine Stiefel in die Ecke und ging vor seiner Tasche in die Hocke.
»Ich nehme eigentlich keine Tabletten.«
»Hast du Angst, dass du abhängig wirst von Aspirin?«
»Das, was du da hast«, entgegnete der Schulsprecher, »sind keine einfachen Schmerzmittel. Vermutlich darf man die ohne Verschreibung gar nicht nehmen.«
Lucien zog eine seiner dunklen Brauen hoch und schmunzelte spöttisch. »Also keins meiner Allheilwundermittel gegen jede Art von Wehwehchen?«
»Nein. Wenn das die gleichen sind, die du das eine Mal dabei hattest, als du auf dem Schulklo gekotzt hast, nicht.« Der Blonde sah skeptisch auf Luciens Rücken, der in seiner Tasche nach dem Kulturbeutel wühlte.
»Dann nicht. Ich brauch’ jedenfalls eine. Das Wetter macht mich fertig«, murmelte der Rothaarige, als er das Täschchen hatte, drückte eine Pille aus der Packung und schluckte sie trocken.
»Hat dich das Schaukeln angestrengt? Meine Mutter bekommt immer Migräne, wenn sie vom Fitness kommt.«
Lucien machte sich auf seinem Lager neben dem Schulsprecher lang und blickte an die Zeltdecke. Das dumpfe Trommeln des Regens war zu hören. Ein einlullendes und gemütliches Geräusch. Der Jugendliche rieb sich das Auge, wie immer, wenn das Ding in seinem Schädel zu rumoren begann und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Ich kenn’ es schon fast gar nicht mehr, keine Kopfschmerzen zu haben. Entweder das oder ich bin high von irgendwelchen Tabletten. Ich hab die volle Breitseite der familiären Veranlagung abbekommen, was die Migräne angeht. Ist chronisch.«
»Kann man das nicht behandeln?« Mathieu hatte sich im Schneidersitz hingesetzt und die Socken ausgezogen. Mit kreisenden Bewegungen massierte er den wunden Knöchel.
»Neee, nicht wirklich. Ich könnte ne OP machen lassen. Das Entfernen der ‚Zornesader’, hier«, der Rothaarige strich mit dem Zeigefinger über seine Stirn, um dem Schulsprecher zu zeigen, was er meinte, »aber die Chancen, dass das hilft, sind nicht hoch. Ärzte sind sich über den Erfolg nich’ einig. Andere nehmen Hormone, weil es manchmal auch davon kommt. Aber nachher wachsen mir noch Brüste.« Lucien lachte und warf Mathieu einen grinsenden Blick zu, der diesen mit zuckenden Lippen erwiderte.
»Also kann man nichts tun? Nur Medikamente nehmen?«
»Am besten geht es über Ernährung. Durch ne spezielle Diät und den Verzicht auf bestimmte Lebensmittel kann’s besser werden. Ich vertrag’ zum Beispiel keinen richtigen Käse und kein Fleisch. Danach hab ich immer Schmerzen. Ich bin nicht laktoseintolerant oder Vegetarier, aber seit meine Maman den veganen Kram kauft, geht’s besser. Schnitzel ess’ ich trotzdem ab und zu. Gibt auch Leute, denen hilft Sport. Ärzte empfehlen auch, das auszuprobieren.«
Mathieu zog eine Braue hoch. »Warum darfst du dann keinen mehr machen?«
»Weil jeder Fall anders ist«, antwortete Lucien knapp und verstummte dann, missmutig an die Decke starrend, die Arme unter dem Kopf verschränkt.
Mathieu seufzte lautlos. Das war eine Frage zu viel gewesen. Der Rothaarige hatte ihm ja gesagt, dass er das lieber lassen sollte, wenn er nicht belogen werden wollte. Doch der Schulsprecher verstand immer noch nicht, worin überhaupt der Grund dafür lag, zu lügen. Was glaubte Lucien denn, was er, Mathieu, tun würde, wenn er sich ihm anvertraute?
Natürlich war der Schulsprecher nicht der beste Freund des Anderen, doch er war Vertrauensschüler. Mathieu würde ohnehin nichts weitersagen dürfen, egal was es war.
»Okay«, murmelte der Blonde also nur und streckte sich auf seinem Schlafsack aus, leise keuchend, als er mit dem Fuß am Stoff hängen blieb. »Au ...«
Lucien schnaubte und setzte sich wieder auf. »Alter, du nervst ... hier.« Er warf dem Schulsprecher einen Alustreifen hin, den dieser verwundert ansah.
»Was ...?«
»Ibuprofen, Mathieu. Niedrig dosiert. Harmlos. Für Babys. Nimm’ einfach eine, bitte. Die helfen gegen Entzündungen.«
Zerknirscht drückte der blonde Junge sich eine der Tabletten heraus und reichte die anderen Lucien zurück, der sie streng guckend in die Tasche zurückbeförderte.
»Du hast da genug Zeug drin, um uns beide umzubringen, oder?«, murmelte Mathieu und schluckte die Pille mit einem Schluck Wasser.
»Nee. Das sind ja keine Schlaftabletten. So welche habe ich auch, aber nur einen Streifen dabei, für den Notfall. Da ich aber mit dem Oberlangweiler im Zelt bin, ist das Schlafmittel genug ...«
Der Blonde stellte die Flasche weg und wandte Lucien den Rücken zu. Wann immer Mathieu glaubte, sie würden miteinander klar kommen, knallte ihm der Rothaarige etwas vor den Latz und gab ihm das Gefühl, ein Trottel zu sein. Der Schulsprecher hasste es, dass das allein ausreichte, um sein so mühsam aufgebautes Selbstbewusstsein zu untergraben.
»Ich hab’ mir das auch nicht ausgesucht ...«, murmelte er gegen die Zeltwand. »Könnte mir auch was Besseres vorstellen, als mit dem selbsternannten Schulrebell zusammenzuwohnen.«
»Wenigstens kann einer von uns den anderen wachhalten«, kicherte Lucien.
»Danke, ich verzichte.«
Der Rothaarige betrachtete Mathieus Rücken eine Zeitlang, bevor er leise brummte. »Bist du beleidigt?«
»Warum sollte ich? Es ist ja nichts neues, dass du dummes Zeug laberst«, antwortete der Blonde leise, drehte sich aber nicht um.
Lucien seufzte zerknirscht. »Okay, sorry, das war ein blöder Scherz ...«
Verkniffen wandte Mathieu sich zu dem Anderen herum. »Weißt du, ich erwarte nicht, dass wir Freunde werden. Aber ich finde ... ich hab ein bisschen mehr Respekt verdient. Du beleidigst mich in einer Tour.«
Der Rothaarige zog die Augenbrauen hoch. »Ach und du mich nicht? Du siehst doch in mir auch nur einen Trottel, der nichts auf die Reihe bringt außer Ärger zu machen.«
»Na stimmt das denn nicht? Ist doch so.«
»Wenn du das so siehst, warum sollte ich mich dann zusammenreißen und nett sein? Wie man’s reinruft, so kommt es raus. Und du siehst nur das, was ich andere sehen lasse. Hast du mal daran gedacht?«
Mathieu setzte sich wieder auf. »Also findest du das cool?«
»Das bin ich! Ich habe keine Lust, mich immer nach allen zu verbiegen. Ich bin jung und ich möchte sein, wie ich bin und nicht, wie andere mich haben wollen. Verstellen und anpassen muss man sich noch lange genug ...« Lucien presste die Lippen zusammen.
»So funktioniert die Welt aber nicht«, murmelte der Schulsprecher und erntete dafür nur ein rotziges Schnauben.
»Und deswegen bist du langweilig. Hast du nie etwas für dich gewollt? Nimm’ mal deine Schwester als Beispiel. Die schert sich einen Dreck darum, was erlaubt ist, sie macht es einfach. Während du wie der Hund deiner Mutter dressiert bist, nur ja keinen Dreck auf dem Teppich zu hinterlassen. Wann willst du leben, wenn nicht jetzt? Wenn du später eine 40-Stunden-Woche schrubbst, damit genug Geld für deine Frau und die schreienden Kinder da ist? Du wirst nie wieder so frei sein wie jetzt als Teenager.«
Mathieu biss auf seiner Unterlippe herum. Es war nicht so falsch, was Lucien sagte. Alle um ihn herum nahmen sich Freiheiten heraus, während er die Unordnung hinter ihnen aufräumte. Doch das war schließlich seine Aufgabe.
»Das ist nicht so leicht ...«
Der Rothaarige seufzte. »Ich will dir nicht raten, alles aufzugeben, was du erreicht hast, Monsieur Schülerratspräsident. Aber du solltest auch mal ... Feierabend machen und einfach ein blöder Teenie sein, der Scheiße baut oder feiert oder vögelt. Dafür ist man doch jung.«
»Wir ticken einfach vollkommen verschieden«, entgegnete Mathieu. »Die Dinge, die dir Spaß machen, finde ich anstrengend. Ich hasse es, auf Partys zu sein und für die andere Sache fehlen mir die entscheidenden Gegenparts.«
Lucien lachte leise. »Dann solltest du erst Recht die Sau rauslassen.«
»Warum sagst du mir das? Du hast es doch selbst noch nicht gemacht, hast du gesagt.«
»Ich arbeite dran ... denk ich ...«, der Rothaarige schürzte die Lippen.
»Mit meiner Schwester?« Mathieu hasste sich dafür, dass es in seiner Brust stach. Es war lächerlich, dass das immer wieder geschah.
»Äh ... sie hat dir davon erzählt?«
»Sie meinte, du hättest ihr auf dem letzten Jahresabschlussball gesagt, dass du auf sie stehst ... und ich zähle Eins und Eins zusammen.«
Lucien verzog das Gesicht, sah Mathieu an und lachte dann. »Oh Gott, nein. Nein, ehrlich nicht, da hat sie was falsch verstanden. Keine Sorge, ich bringe keine Schande über die Prinzessin. Sie ist ...«
»Ja?«
»Ätzend? Sorry, aber doch.«
»Aber warum erzählt sie dann so was? Was habt ihr gemacht?«
Der Rothaarige strich sich mit seinen Fingern durch die Haare und seufzte. »Wir haben geknutscht. Ehrlich, nur das. Obwohl ... sie hat versucht, mich zu befummeln. Also südlich des Äquators, wenn du verstehst, was ich meine ...«
»Oh Mann. Und meine Eltern glauben immer noch, sie würde brav mit Puppen spielen, wenn ihre Freundinnen zu Besuch sind. Dabei geht es da offenbar um ganz andere Sachen. Warum sind Eltern so weltfremd?«
Lucien zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sobald man Dreißig wird oder das erste Kind zur Welt kommt, scheint der Erinnerungsspeicher gelöscht zu werden und die Erwachsenen haben vergessen, wie sie selbst als Jugendliche gewesen waren.«
»Ich hoffe, mir passiert das nicht«, murmelte Mathieu.
»Warum sollte es? Du bist ja nicht mal jetzt ein Teenager, obwohl du einer sein solltest. Was man nicht ist, kann man auch nicht vergessen.«