Lucien presste die Lippen zusammen und schluckte, als Mathieu nach seinen Fingern griff. Auch er fühlte das Kribbeln und die Wärme in seinem Bauch, hatte es schon vor Wochen gespürt. Bereits vor ihrem kleinen Zusammenstoß im Camp und ihrem hitzigen Streit, der in einem für sie beide total unerwarteten Kuss geendet hatte.
Doch der Rothaarige hätte nicht damit gerechnet, dass Mathieu das ebenfalls spüren würde. Lucien hatte es für eine Macke seines beschädigten Gehirns gehalten, denn in seinen siebzehn Lebensjahren zuvor hatte er noch nie Interesse an einem Jungen gehabt. Und dann ausgerechnet Mathieu, der ihn manchmal an ein hilfloses Kätzchen erinnerte. Sollte ausgerechnet er Luciens Typ sein?
Überfordert mit der Situation und weil er nicht damit gerechnet hatte, tat der Rothaarige das einzige, worin er wirklich gut war. »Kleiner Ausflug ans andere Ufer, Grantaine?«, feixte er sarkastisch. Es tat ihm in derselben Sekunde leid, als Mathieu beschämt seine Hand losließ und sich mit hochrotem Kopf abwandte.
»Tut mir leid. Ich bin total müde und laber’ Dünnes«, murmelte der Schulsprecher und schob Lucien einen Schritt von sich weg, achtete jedoch darauf, dass seine Hände dessen Körper nicht direkt berührten. »Wahrscheinlich sind einfach nur meine Nerven runter.«
Ohne den Rothaarigen anzusehen, ging Mathieu zu dem Stuhl hinüber, auf dem er gesessen hatte, und beugte sich zu seiner Tasche herunter. Verbissen packte er sein Mäppchen und seine Sachen zusammen und stopfte sie unordentlich in den Rucksack.
Lucien beobachtete ihn und biss auf seiner Unterlippe herum. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass er das unmöglich so stehen lassen konnte. Es war doch eigentlich ganz leicht, oder? Wenn sie einander mochten ...
Der Rothaarige seufzte innerlich. Es war eben nicht so einfach. Es war unfair. Was hatte er mit seiner Bombe im Kopf schon jemandem zu bieten?
»Besser, wir gehen jetzt. Ich bekomme sonst noch Ärger, weil die Schule so lange offen steht«, murmelte Mathieu und schulterte seine Tasche. Mit einem argwöhnischen Blick ging er an dem gemächlich hechelnden Sasha vorbei, den Lucien an die Leine nahm, damit er im Gebäude nicht doch noch auf die Idee kam, stiften zu gehen.
Der Schulsprecher schaltete das Licht in dem Raum aus und schloss die Tür hinter ihnen ab. Nun war ihnen nur noch die Notbeleuchtung geblieben, die ein gespenstisches, diffuses Licht auf ihrer beider Gesichter warf. Zwischen den einzelnen Lichtquellen gab es ganze Meter, die in völliger Dunkelheit lagen. Tiefe Schatten regten die Fantasie an und Lucien spürte wieder die angespannte Unruhe in sich, die er schon fühlen konnte, als er das Gebäude betreten hatte.
»Erinnerst du dich an das Gerede von der Zombieapokalypse? Das hier ist die perfekte Szenerie.«
»Hm«, entgegnete Mathieu nur und Lucien seufzte.
»Redest du jetzt nicht mehr mit mir?«
»Ich weiß es nicht, Lucien. Da ich nicht einschätzen kann, wann du etwas ernst meinst und wann nicht ... ich habe dafür jetzt keine Energie mehr. Ich bin seit heute früh um Sieben wach und echt müde. Ich will nicht noch mehr ... Unsinn reden. Ich hatte nur ... für einen Moment das Gefühl, als wäre da so was wie eine Verbindung. Zwischen uns. Und nachdem, was du im Camp gemacht hast ...«
Der Rothaarige presste die Lippen aufeinander und packte Mathieu grob an der Schulter. Die Leine fallenlassend drückte er den Schulsprecher an eine Wand zwischen einer Reihe Spinde und starrte im schummrigen Licht auf diesen herunter.
»Sehe ich für dich aus wie ein Schwuler?«, knurrte er ihm leise entgegen und Mathieu, der keine Chance hatte, nach hinten zu weichen, sah ihm stur in die Augen.
»Ich weiß nicht. Wie sieht denn ein Schwuler aus? Bist es nicht du gewesen, der so groß getönt hat, dass das doch total egal ist? Wohl doch nicht, wenn es dich betrifft. Oder mich. Oder was weiß ich.«
»Lass’ es einfach, Grantaine.«
»Was genau?«
»Das hier. Das ... dieses ... ich hab’ keinen Nerv dafür, mich auch noch damit zu befassen. Es ist kompliziert genug. Gott, schau’ mich nicht so an, Mann!«
»Du hast angefangen! Im Camp.«
»Sind wir im Kindergarten? Ich hab angefangen, du hast angefangen?«
»Das fragst du mich? Du bist das größte Kind von allen. Wenn du nicht weiter weißt, wirst du sarkastisch und haust um dich.«
»Und du bist siebzehn und benimmst dich wie vierzig. Spießer!«
»Taugenichts!«
Wie hypnotisiert sahen sie einander in die Augen, keiner von beiden wollte der Erste sein, der zurückwich, keiner wollte der Verlierer sein. Gleichzeitig wären sie kaum in der Lage gewesen, etwas an ihrer Position zu ändern, denn auch wenn keiner von beiden es zugeben würde, so genossen sie doch die Nähe des anderen. Keiner wollte einen Schritt nach vorn machen, etwas tun, um die Spannung abzubauen. Denn solange sie in dieser Schwebe hängen blieben, brauchte keiner von beiden zu befürchten, mehr von sich preiszugeben, als ihnen lieb war. Sobald sie jedoch nachgaben, würden sie fallen. Das wussten sie beide. Dann würde es keinen Weg zurück mehr geben und sie mussten sich einer Situation stellen, der sie womöglich nicht gewachsen waren.
Sashas bestimmtes und in den leeren Fluren sehr laut widerhallendes Bellen war es, was den hypnotischen Zauber brach, der auf Lucien und Mathieu lag.
Der Rothaarige zuckte zurück und brachte zwei Schritte Abstand zwischen sich und den Schulsprecher, der auf seiner Lippe herumkaute. Die Bilder, die in Mathieus Kopf herumkreisten, verwirrten ihn und machten ihn verlegen. Sie entsprachen so gar nicht dem, was sein Vater ihm beigebracht hatte, aber sie fühlten sich auch nicht falsch an. Sich vorzustellen, Lucien würde ihn erneut küssen, diesmal etwas weniger grob und überfallartig, weniger aggressiv, das fühlte sich im Gegenteil ungemein aufregend an. Mathieu fragte sich unbewusst, ob der Rothaarige auch nach Zimt schmeckte, wo sein Atem doch fast permanent nach diesen Kaugummis roch.
Indes hob Lucien Sashas Leine wieder hoch und streichelte ihn. »Braver Junge. Nett von dir, dass du nicht abgehauen bist«, murmelte er dem Rüden ins Ohr. »Komm schon, Grantaine. Ich muss vor Zwölf zuhause sein!« Seine Stimme hatte den üblichen rauen Ton, den sie immer hatte. Das Sanfte und Leise, das er für seinen Hund reserviert hatte, reichte nicht mehr für Mathieu.
Sich merkwürdig ausgebrannt fühlend folgte der blonde Jugendliche Lucien, der den großen Rottweiler aus dem Gebäude herausführte. Gewissenhaft verriegelte Mathieu die Tür zur Schule und musste zu seinem Unmut feststellen, dass der Rothaarige nicht auf ihn gewartet hatte. Dabei hatte der Blonde gedacht, sie würden zumindest das kurze Stück, dass sie gemeinsamen Weg hatten, zusammen gehen. Lucien stattdessen war bereits beim Tor angekommen. Mit einem Blick auf Mathieu blieb er stehen und fischte seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche.
Was war das für ein Hin und Her mit ihm und Grantaine? Das Schicksal war echt ein Arschloch. Nicht nur, dass er an einer tickenden Zeitbombe in seinem Hirn sterben würde, auf seine letzten Monate spielte es ihm auch noch so einen Streich. Mit einem Schmunzeln musste Lucien sich eingestehen, dass er es schlechter hätte treffen können, denn so gering sein Selbstbewusstsein im Bezug auf seine Person auch sein mochte, Mathieu war ein hübscher Kerl. Und trotzdem! Als würden die Götter oder wer auch immer noch einmal alle Register ziehen, um es ihm, Lucien, so schwierig wie möglich zu machen, einfach in Ruhe abzutreten.
»Ich dachte schon, du lässt mich stehen«, murrte der Schulsprecher, als er zu ihm aufgeschlossen war.
»Brauchst du denn jemanden, der dich nach Hause bringt, Prinzessin?«
»Nein! Aber es ist unhöflich, zu gehen, ohne Tschüß zu sagen.«
»Weil ich mich ja so darum schere, was höflich ist«, brummte Lucien und blies den Rauch in den Himmel.
»Nein. Du nicht ...«
»Los, wachs’ hier nicht fest. Es ist gleich halb elf. Deine Eltern reißen dir den Arsch auf.«
»Ich sagte doch, die ...«, fing Mathieu an, doch verstummte, als der Rothaarige ihm einen Blick zuwarf.
»Ich glaub’ dir kein Wort, Grantaine. Wenn deine Alten sich nicht um dich scheren, sollten sie sich dafür schämen und nicht du. So viel zu den perfekten und feinen Leuten. Aber mir sagt man nach, keinen Anstand zu haben.«
»Du hast auch keinen ...«
»Aber immerhin genug, um mal nachzufragen, ob alles okay ist. Um diese Uhrzeit. Wenn mein Kind noch nicht zuhause ist. Das bisschen Empathie, das dafür nötig ist, habe sogar ich.«
Mathieu lachte leise und kassierte einen Seitenblick. »Das ist bei dir aber auch ein Glücksspiel. So wie du dich manchmal benimmst, kommt keiner auf die Idee, dass du dich in irgendjemanden hineinversetzen könntest. Du bist manchmal so rücksichtslos wie ein Psychopath.«
Lucien zuckte mit den Schultern. »Was soll’s. Ich kann am Tag nicht zu jedem nett sein und sehe auch keinen Sinn mehr darin, es zu versuchen. Die Netten bekommen am Ende den Arschtritt. Schau’ doch nur dich an. Du reibst dich auf für diese dämliche Party und am Ende dankt es dir keiner.«
»Das ist egal. Alles was zählt, ist die lobende Erwähnung in den Abschlusszeugnissen und die Nachweise über meine außerschulischen Tätigkeiten. Oder meinst du, ich bin nur so völlig zum Spaß Schulsprecher geworden?«
»Nein«, entgegnete der Rothaarige. »In zwanzig Jahren bist du der neue Präsident Frankreichs. Der jüngste in der Geschichte oder so. Ich wünsch’ viel Glück. Ich würde mir so einen Stress nicht antun.«
»Nein. Du hängst in zwanzig Jahren irgendwo in einer Spelunke in New York oder Paris herum, spielst Bassgitarre und lebst von den Trinkgeldern der Gäste. Oder irgendwie so was ...«
»Ja«, gab Lucien sehr leise zurück, »irgendwie so was.« Er rieb sich die Lider und tat so, als würde er husten müssen und hätte Rauch in die Augen bekommen. Unter keinen Umständen sollte Mathieu irgendetwas anderes denken. Solche beiläufigen Bemerkungen über Zukunftspläne waren ein Schlag in den Magen Luciens, der es ansonsten immer schaffte, seine rotzige Fassade aufrecht zu erhalten.
In all der Zeit, in der er jetzt wusste, dass das Glioblastom in seinem Kopf ihn unweigerlich töten würde, hatte er sich noch kein einziges Mal wirklich erlaubt, um sich selbst zu trauern, geschweige denn zu weinen. Die paar einsamen Tränen, die sich hin und wieder aus seinen Augen stahlen, nachts, wenn er allein war, zählten kaum.
»Wenn du dann Präsident bist, lachst du darüber, mal einen heruntergekommenen Kneipenmusiker gekannt zu haben«, versuchte Lucien, seine aufkommende Melancholie durch einen Scherz zu vertreiben.
»Jeder Mensch ist aus einem guten Grund in deinem Leben. Der eine ist eine Bereicherung, der andere ist eine Lehre und wieder ein anderer ist eine Strafe.«
»Fragt sich, was ich bin.«
»Strafe. Zweifellos. Oder auch eine Lehre. Durch dich hab’ ich gelernt, mich durchzusetzen. Zwar nicht gegenüber dir, aber gegenüber anderen.«
»Gern geschehen«, knurrte der Rothaarige.
»Willst du jetzt die beleidigte Leberwurst spielen?«
»Nö. Ich bin ja gern behilflich.« Sie hielten an einer der vielen Bushaltestellen. Es nutzte nichts, auf den Plan zu schauen, denn nach 22 Uhr fuhr keine Linie mehr, außer man wollte zum Flughafen. Doch von dieser Stelle aus mussten sie in zwei verschiedene Richtungen weiter.
»Tja dann«, murmelte Mathieu seltsam verlegen.
»No homo, Minou! Bis Montag. Salut!« Lucien hob mit einem Grinsen die Hand und ging die Straße hinunter, die ihn, wenn er ihr nur lange genug folgen würde, an den Strand führen würde. Der blonde Jugendliche schaute ihm noch einen Moment lang nach, bevor er lächeln musste. Mit einem Seufzen drehte er sich um und legte die Strecke bis in die Siedlung zurück, in der er lebte.
Die Häuser waren längst dunkel. In dieser schicken Gegend voller Workaholics und gelangweilter Hausfrauen gab es keine Nachtschwärmer. Pünktlich um Zehn gingen überall die Lichter aus. Ausnahme waren die Haushalte mit Kindern im Teenageralter. So wie die Grantaines. Mathieu konnte sehen, dass im Zimmer seiner Schwester noch Licht brannte. Doch auch in dem Raum, den sein Vater zum Arbeiten nutzte, war es noch hell.
Der Jugendliche glaubte nicht, dass Auguste auf ihn gewartet hatte, sondern vermutete viel eher, dass der Jurist in seinem Sessel eingeschlafen war. Das geschah oft nach ein, zwei Gläsern zu viel. Meist schaffte ihn dann Madame Grantaine mühsam ins Schlafzimmer und tat vor ihren Kindern so, als wäre das vollkommen normal. Als wären Mathieu und Celeste dumm.
Leise den Schlüssel im Schloss herumdrehend betrat der Jugendliche das Haus und schob die Schuhe in den dafür vorgesehenen Schrank. Er gelangte unbehelligt in sein Zimmer, wo er die Sachen ablegte, den Rucksack in die Ecke stellte und gleich in bequeme Schlafsachen stieg. Er war so müde, dass er kaum noch lange aushalten würde, bevor er beim fernsehen einschlief.
Beim Weg auf die Toilette konnte er hören, dass bei seiner Schwester ebenfalls der Fernseher lief. Vermutlich sah sie sich irgendeine dumme Trash-Sendung wie Big Brother an oder diese hirnrissigen Shows auf MTV. Mathieu konnte solchen Vorführungen menschlicher Einfältigkeit nichts abgewinnen, für ihn waren das moderne Freakshows.
Die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters, das an das Badezimmer angrenzte, war nur angelehnt und als der Jugendliche durch den Spalt hindurch linste, bestätigte sich sein Gedanke.
Auguste Grantaine saß lang ausgestreckt in seinem eleganten Sessel, eine halbe Flasche Whiskey auf dem Schreibtisch. Er schlief und schnarchte dabei vernehmlich. Mathieu verzog den Mund.
Der Junge wusste nicht, ob er seinen Vater für dieses Verhalten, diese chronische Alltagstrinkerei, verachten oder bemitleiden sollte. Eigentlich stimmte ihn das nur traurig, denn er hatte schon bei etlichen seiner Mitschüler, die ihn in seiner Funktion als Vertrauensschüler aufgesucht hatten, mitbekommen, was ein Alkoholiker in der Familie anrichten konnte. Besonders einer, der sich seines Problems nicht bewusst war.
Als Mathieu schließlich wieder in seinem Zimmer auf dem Bett saß, war ihm die Lust, noch etwas fernzusehen, vergangen. Stattdessen schaltete er das Licht aus und machte sich unter seiner kühlen Bettdecke lang.
Wärme stieg in seinem Körper hoch und ließ ihn glühen, als er sich an diesen furchtbaren Moment mit Lucien erinnerte. Warum hatte er, Mathieu, das nur gesagt? Den Rothaarigen gefragt, ob er das komische Gefühl auch spüren konnte. Das war so dumm gewesen. Und obwohl Lucien ihn bis auf seinen dummen Spruch nicht damit aufgezogen hatte, wusste der Blonde trotzdem, dass er es früher oder später tun würde.
Denn Lucien sammelte Gelegenheiten, um einem etwas unter die Nase zu reiben, je peinlicher, desto besser. Das würde Mathieu wiederkriegen, er rechnete fest damit.
Doch der Gedanke war dem Jugendlichen nicht unangenehm. Im Gegenteil. Seufzend drehte er sich auf die Seite und knüllte das Kissen unter seinem Kopf zusammen. So weit war es schon mit ihm gekommen, dass er sich auf eine der dummen Aktionen Lucien Walaces freute, einfach nur, um für einen Moment in seiner Nähe sein zu können. Wann war das passiert? Wann war dieses Gefühl der absoluten Inkompatibilität etwas so Absurdem gewichen? Das musste aufhören, und zwar bevor Mathieu dafür in Teufels Küche kam!