Mit seinem Klemmbrett in der Hand lief Mathieu am Donnerstagabend durch die Schule. Die Party fand wie jedes Jahr erst am frühen Abend, freitags vor dem Wochenende, statt. Die Lehrer würden ihren Schülern keinen halben Tag frei geben, nur um eine Faschingsfeier zu veranstalten. Die Party, die in der Turnhalle gefeiert werden sollte, begann um halb acht und endete um Mitternacht.
Um die Jugendlichen auf das Ereignis einzustimmen, war der Hauptflur herbstlich geschmückt worden, Girlanden aus bunten Blättern spannten sich über den Gang und einige der Luftballongeister trudelten durch die Luft. Die Plakate, die das Festkomitee gebastelt hatte, waren überall verteilt worden und jede Klasse hatte außerdem Gelegenheit gehabt, die Räume zu gestalten. Auf beinahe jedem Lehrerpult stand mindestens ein duftender und ausgehöhlter Kürbis. Die Schmückerei hatte schon vor Tagen begonnen und nach der Party, wenn es auf Weihnachten zu ging, meist den ganzen Dezember durch, wurde dann dafür dekoriert. Irgendetwas mussten die Bastel- und Zeichen-AGs ja schließlich zu tun haben. Die Theater-AG führte oft einige Tage vor Beginn der Ferien ein kleines Stück zum Thema auf, doch das fiel nicht in Mathieus Zuständigkeit. Er spielte nur den Vermittler zwischen den Schülern und den Lehrern, wenn es Unstimmigkeiten geben sollte.
Mit einem leisen Seufzen, das seine Müdigkeit zeigte, öffnete er die Türe zur Schülervertretung und erschreckte damit seine Assistentin Anais, die gerade dabei war, Ordner in den Schrank einzusortieren. Durch sein Eintreten ließ das brünette Mädchen alles fallen und das Papier verteilte sich gleichmäßig auf dem Fußboden.
»Oh nein!«, jammerte sie und fiel auf die Knie, hochrot im Gesicht. Sie griff hektisch nach allem, was sie zu fassen bekommen konnte und machte auf den Schulsprecher den Eindruck, gern im Boden versinken zu wollen.
»Mach’ langsam«, schmunzelte Mathieu. »Ich hätte anklopfen sollen ...«
»Nein, schon gut. Ich bin einfach so ungeschickt«, stotterte Anais und räumte die losen Blätter auf den Tisch. Seufzend öffnete sie die Ordner und sortierte alles, was herausgefallen war, wieder ein. Mathieu fischte einige übrig gebliebene Zettel unter dem Tisch hervor und reichte sie ihr lächelnd.
»Schon wieder nach Fünf, noch ein langer Tag. Gut, wenn die Hektik morgen dann erstmal wieder vorbei ist.«
»Na, wem sagst du das.« Anais hob den Kopf und betrachtete den blonden Jungen einen Moment. Dieser blätterte auf seinem Klemmbrett herum und bemerkte nicht, dass sich die Wangen des Mädchens etwas röteten.
Sie seufzte erneut. Mathieu und sie waren inzwischen seit der neunten Klasse in der Schülervertretung, seit Beginn der Zehnten war der Blonde Schulsprecher, sie seine Stellvertreterin und sie verbrachten fast jeden Tag während des Unterrichts zusammen, da sie sich für die gleiche Fachrichtung in der Oberstufe entschieden hatten.
Anais würde gern noch viel mehr Zeit mit Mathieu verbringen, privat, außerhalb der Schule, mehr als seine Freundin als seine Klassenkameradin. Doch sie traute sich nicht, diesen Schritt zu machen. Was, wenn er dachte, sie wollte mit ihm ausgehen? Natürlich würde sie das gern, doch vielleicht mochte er nicht, wenn ein Mädchen einen Jungen um ein Date bat. Mathieu wirkte in vielen Dingen altmodisch. Und außerdem wusste Anais, dass sie ohnehin nicht genug Mut dazu aufbringen würde. Wenn er Nein sagte, würde sie das nicht ertragen können. Vielleicht würde er dann nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten wollen und das, was sie an Freundschaft hatten, könnte kaputt gehen.
Jungen begannen, sich komisch zu benehmen, wenn sie erst einmal wussten, dass ein Mädchen sie mochte. Und Anais wollte unter keinen Umständen den Einzigen verlieren, der ihr zutraute, den Posten der stellvertretenden Schulsprecherin auszuführen. Jeder andere hielt sie nämlich nur für ein ungeschicktes graues Mäuschen, das den Mund nicht aufbekam.
Nur wenn Mathieu dabei war, konnte sie über ihren Schatten springen und zeigen, dass sie auch anders sein konnte. Er gab ihr den Mut dazu, allein durch sein feines und bestärkendes Lächeln, das sie bis in ihre Träume verfolgte.
»Also ... hast du vor, dich morgen zu verkleiden? Oder gehst du nicht auf die Party?« Sie sprach leise, versuchte, möglichst gleichmütig zu klingen, aber insgeheim wünschte sie, dass er kam. Denn sie würde es auch tun und hoffte darauf, den Abend mit ihm zu verbringen. Viele andere Kontakte hatte Mathieu an der Schule nämlich nicht, obwohl jeder ihn kannte.
Der Blonde lachte leise. »Das ist wie bei dem Campingausflug. Ich wurde gar nicht erst gefragt. Natürlich werde ich da sein. Damit irgendein Lehrer dafür den Abend zuhause bleiben kann, kennst du doch. Ich bin für die Aufsicht eingeteilt. Und verkleiden ... ich glaube eher nicht. Als was sollte ich gehen? Ich habe kein Kostüm und es ist zu kurzfristig, noch eins zu machen oder zu besorgen.« Mathieu zuckte mit den Schultern. »Ich bin eh nicht so für diesen Zirkus zu haben.«
Anais drehte sich lächelnd zu ihm herum. »Du hast doch bestimmt einen Anzug, oder?«
»Natürlich.«
»Und jede Menge Krawatten ...«, sie schmunzelte und der Blonde senkte den Blick auf seinen schwarzen Schlips, den er zu dem hellblau karierten Hemd trug und sich locker um den Hals gebunden hatte. Es hatte sich irgendwie zu seinem Stil entwickelt.
»Auch das ...«
»Dann zieh’ doch das an. Geh’ als Anwalt. Besser als gar nichts.«
»Ein Anzug ist doch kein Kostüm.«
Anais kicherte. »Für die meisten hier schon, die würden das nicht freiwillig tragen, meinst du nicht?«
Mathieu legte einen Moment den Kopf schief und bevor er es verhindern konnte, fing sein Gehirn schon an, sich Lucien Walace in einem schwarzen Dreiteiler vorzustellen, die dunkelroten Haare fielen ihm auf die Schultern und seine vollen Lippen umspielte dieses für ihn so typische arrogante Lächeln. Dieses Bild vor seinem geistigen Auge gefiel dem Blonden mehr als ihm lieb war und so schüttelte er sich, um es loszuwerden.
»Ah, nein. Eher nicht«, antwortete er dann und heftete die Zettel von seinem Klemmbrett zu denen, die Anais einsortiert hatte.
»Und du ... na, du trägst es eben richtig. Bei dir wirkt es nicht .. falsch.« Das Mädchen stotterte etwas und versuchte, das durch ein leises Lachen zu kaschieren, während Mathieu sie verwundert ansah.
»Hast du mich denn schon mal in einem Anzug gesehen?«
Sie nickte. »Ja. Letztes Schuljahr auf der Abschlussfeier der Abiturienten? Hast du vergessen, dass du da warst? Und ich auch?«
Der Jugendliche hieb sich verlegen die Hand gegen die Stirn. »Entschuldige. Ich hab das total verdrängt.«
Der Abschlussball war eigentlich für die Schüler gedacht, die mit der Schule fertig geworden waren, doch es wurde immer ein kleines Kontingent an zusätzlichen Eintrittskarten verkauft. Wenn man mindestens in der zehnten Klasse war, konnte man diese kaufen und ebenfalls den Ball besuchen. So verdiente sich die Abschlussklasse vor der eigentlichen Party noch etwas Geld dazu, um das in die Feierlichkeiten zu investieren.
Es gab Jugendliche, besonders Mädchen, an ihrer Schule, die sich jedes Jahr Karten dafür besorgten, jedes Mal ein neues Kleid kauften und den Ball besuchten, bis es schließlich ihr eigener war. Celeste war so eine Kandidatin. Obwohl sie im letzten Schuljahr noch gar nicht hätte dort sein dürfen, hatte sie ein älterer Junge gefragt, ob sie sein Date sein wollte.
Seine Schwester hatte an demselben Abend mit Lucien herumgemacht, wie sie ihrem Bruder selbst stolz berichtet hatte. Ihre Verabredung war demnach nicht so verlaufen, wie sie das gern gehabt hätte. Andererseits war es ein offenes Geheimnis für Mathieu, dass Celeste scharf auf Lucien war. Sie stand schon auf ihn, als sie noch in der Grundschule gewesen war und hatte immer mit dem Brustton der Überzeugung gesagt, dass sie ihn mal heiraten würde. Zum Glück hatte das ihr Vater nie mitbekommen, denn der hätte ihr den Kopf zurecht gerückt. Das hätte jedoch vermutlich nur dazu geführt, dass sie den Rothaarigen noch heftiger begehrte, denn man wusste ja, wie es hieß: Den Mann, den der Vater für unangemessen hielt, den wollte man umso mehr. Je wilder, je ungezähmter, desto besser. Und je mehr Lucien wiederum klar machte, dass er kein Interesse an ihr hatte, umso heftiger würde ihre Leidenschaft brodeln.
Mathieu hielt dieses Verhalten für armselig - jemandem hinterher zu laufen, der einen nicht wollte und das dadurch zeigte, dass er fies zu einem war. Das war doch unwürdig. Und gemein von Lucien, der lieber reinen Tisch machen sollte anstatt sich darüber zu amüsieren. Aber so war der Rothaarige nun einmal. Ihm machte es Spaß, also würde er es so lange weiter spielen, bis es eben kein Vergnügen mehr machte oder sie von der Schule abgingen.
»Mathieu?« Anais’ Stimme drang in seine Gedanken und der Junge blinzelte.
»Verzeihung. Ja?«
Das Mädchen lächelte ein wenig verloren. »Was beschäftigt dich so, dass du so versunken warst? Hast du an etwas Bestimmtes gedacht? Oder jemanden?« Sie versuchte, neckisch zu zwinkern, doch das gelang nicht so wirklich.
Mathieus Augenbrauen zuckten kurz, bevor er den Kopf schüttelte. Dass er mehr über den verdammten Lucien Walace nachdachte, als es sich für einen Jungen gehörte, musste aufhören. Was interessierte ihn nur so an diesem eingebildeten Pinkel, der selbst die einfachsten Regeln nicht einhalten konnte?
»Ich ... weiß nicht«, murmelte der Schulsprecher schließlich. »Kennst du das, wenn man manchmal einfach eine Weile lang nur Stille und Weißes Rauschen im Kopf hat? Das hatte ich gerade, schätze ich.«
Anais verneinte leise und stellte den letzten Ordner in den Schrank zurück. »Vielleicht sollten wir dann auch nach Hause gehen. Es ist spät genug und wir haben noch so viele Hausaufgaben.«
»Du kannst gern schon vor gehen, wenn du möchtest.« Mathieu lächelte und das Mädchen machte ein enttäuschtes Gesicht. Der Junge bemerkte den Unterschied nicht. Ihm würde man die Tatsache, dass Anais auf ihn stand, vermutlich mit einer Schaufel ins Gesicht einhämmern müssen.
»Okay, dann«, murmelte sie und nahm ihre Tasche. Bevor sie durch die Tür ging, warf sie ihm noch einen letzten Blick zu und seufzte. Sie wandte sich um und prallte versehentlich, aber hart, gegen Celeste, die in derselben Sekunde in den Raum gehen wollte.
»Aua, pass’ doch auf, du fette Planschkuh«, keifte das blonde Mädchen und stieß Anais grob von sich. Es war unmöglich für Mathieu, das Gekeif nicht zu hören und er überwand mit wenigen Schritten die Distanz zwischen sich und den beiden Mädchen.
»Entschuldige dich gefälligst!«, herrschte er Celeste an, die ihm aufsässig ins Gesicht sah. Anais rieb sich den Arm und schüttelte nur den Kopf.
»Nein, schon gut. Ich hab nicht aufgepasst ... bis morgen, Mathieu.«
»Ha, so eine traurige Tussi. Die endet irgendwann ungebumst als Cat Lady mit zwanzig Katzen. Schrecklich, wie die sich anzieht.« Die Schwester des Schulsprechers blickte dem brünetten Mädchen nach und kicherte unverschämt über ihre Worte.
»Willst du was?«, knurrte der Blonde sie an und wandte sich wieder ab. Ungerührt räumte er weiter das Zimmer auf, während Celeste ihm genervt dabei zusah.
»Ja. Monsieur Mauriac hat mir in Französisch das Handy weggenommen und im Lehrerzimmer eingeschlossen. Wenn ich es wieder haben will, soll ich zu dir gehen, hat er gesagt. Du hättest einen Schlüssel und sollst es mir wiedergeben.«
Mathieu schnaubte laut. »Handys sind in der Schule verboten und, wenn man sich doch nicht trennen kann, während des Unterrichts im Spind aufzubewahren. Das weißt du selbst. Eigentlich sollte ich es dir nicht geben.«
»Dann sag’ ich’s Papa und du kannst was erleben!«
Seufzend packte der Jugendliche seinen Rucksack, warf seiner Schwester einen bösen Blick zu und scheuchte sie aus dem Raum, damit er abschließen konnte.
»Warum bist du eigentlich noch hier? Der Unterricht ist seit über ner halben Stunde aus.«
»Mein Handy? Du warst die ganze Zeit irgendwo anders. Gott, bist du dumm?«
»Ich bin vor allem der mit dem Schlüssel, Fräulein. Wenn du also nachher dein Essen auf Instagram stellen willst, solltest du dich lieber benehmen!«
Murrend marschierte der Schulsprecher durch den Gang und hielt vor der Tür des Lehrerzimmers, das wie erwartet verschlossen war. Nach 17 Uhr war hier normalerweise keine Lehrkraft mehr anzutreffen und wenn jemand einem Schüler zur Strafe etwas wegnahm und voraussetzte, dass nur er, Mathieu, es zurückgeben konnte, dann würde kein anderer Lehrer das Gewünschte aushändigen. Irgendwie hatte sich das als Strafmaßnahme so eingebürgert. Sehr zum Missfallen des blonden Jugendlichen, weil er deswegen immer den Zorn seiner Mitschüler abbekam, obwohl er gar nichts dafür konnte.
»Bleib’ hier. Du hast hier drin nichts zu suchen«, bestimmte Mathieu und durchquerte das Zimmer. Er zog die Kiste unter einem der Tische hervor, in der alle konfiszierten Mobiltelefone gesammelt wurden und griff sich das rosé-goldene und mit Glitzer verzierte iPhone-Ungetüm, das Celeste gehörte.
Gestresst wandte er den Kopf herum, als er das Geräusch eines geöffneten Aktenschrankes hörte. Da das Sekretariat, das an das Lehrerzimmer angrenzte, ziemlich klein war, wurden die Schränke mit den Schülerakten im größeren Raum aufbewahrt und nahmen einen Teil der Wand ein. Die Unterlagen waren vertraulich, weswegen Schülern der Zutritt auch nicht gestattet war.
»Hey! Nimm’ deine Pfoten da weg!«, herrschte Mathieu Celeste an, die sich gerade mit flinken Fingern durch das Fach mit dem Buchstaben W wühlte und schließlich eine Akte herauszog.
»Mach’ dich doch mal locker, Mann. Ich will doch nur mal gucken ...«, kicherte das blonde Mädchen und schlug die Mappe auf, auf der Luciens Name stand. Doch bevor sie etwas lesen konnte, war ihr Bruder bei ihr und packte ihr Handgelenk.
»Das geht dich nichts an!« Er drückte fest zu und wollte nach den Papieren greifen, als Celeste die Mappe aus den Fingern rutschte und einige der nur lose eingeschobenen Blätter sich über den schmuddeligen grauen Teppich verteilten.
»Boah, danke, Mann. Verpiss’ dich. Hier, nimm’ dein dummes Handy und hau’ ab. Ich komm’ in Teufels Küche, weil du dich nicht an Regeln hältst. Du solltest draußen warten!« Mathieu schubste seine Schwester in Richtung der Tür und sie zuckte nur mit den Schultern. Ungerührt begann sie, auf ihrem Telefon herumzutippen und verkrümelte sich, während der Schulsprecher auf die Knie ging und die Blätter an sich heranzog. Er achtete nicht auf das, was darauf stand, doch als er die Mappe wieder in das Fach stecken wollte, fiel ihm ein Schreiben auf, dessen Briefkopf den Namen eines Krankenhauses enthielt.
Mathieu stutzte leicht. »Das geht dich nichts an«, murmelte er leise zu sich selbst, seine Neugier siegte aber schließlich und er überflog den Brief, der sich als ein Attest herausstellte.
Als er eine Minute später die Tür des Lehrerzimmers abschloss, wünschte er sich, er hätte dem Drang nicht nachgegeben und das Schreiben nicht gelesen. Er hätte alles gegeben, nicht zu wissen, was er nun wusste.