Mathieu zuckte, jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er verschränkte seine Finger in denen von Lucien, dessen Hände er noch immer umschlossen hielt und schloss die Augen. Den Regen, der ihm in den Kragen seines Jacketts lief, spürte er nicht und obwohl ein steifer Wind aufgezogen war, machte es ihm nichts aus. Das zählte nicht, nicht in diesem Moment. In dieser Sekunde war ihm warm, er war erfüllt von einem Gefühl, das tief drinnen in seinem Bauch und seiner Brust saß und glühte wie ein Kern aus Magma. Es drang bis in seine Zehen und ließ sein Herz schneller schlagen.
Der Zauber des Augenblicks zerbrach, als Mathieu sich selbst ein Geräusch ausstoßen hören konnte, was dazu führte, dass Lucien leise zu lachen anfing und ihre Verbindung beendete.
»Tut ... tut mir leid«, stammelte der Schulsprecher und beeilte sich, einen Schritt zurück zu machen. Das Regenwasser lief ihm über das Gesicht und kühlte seine glühenden Wangen, während der Rothaarige ihn nur ansah.
»Willst ... willst du mir jetzt wieder sagen, dass du mich doch hasst?«, fragte Mathieu murmelnd und blinzelte sich einige Tropfen von den Wimpern.
»Nein«, brummte Lucien nur und strich sich die klatschnassen langen Haare aus dem Gesicht, bevor er die Lippen zusammenpresste und leise schnaufte. »Okay, das ist total abgefahren ... ich geh’ nach Hause.«
»Was?«, fragte der Blonde perplex.
»Mathieu«, murmelte der Rothaarige nachdenklich, als würde er den Klang des Namens erforschen wollen.
»Ja?«
Lucien rieb sich die Augen und seufzte schwer. »Ich ... Gott, ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Ich muss ... nachdenken.« Er presste erneut den Mund zu einem harten Strich zusammen und zog die Brauen kraus. »Mein Leben ist so beschissen kompliziert geworden«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu dem Schulsprecher, dessen Gesicht wie das eines vernachlässigten Hündchens aussah, das unbedingt auf den Arm genommen werden wollte.
»Tut mir leid ...«
»Wie?«, Lucien hob den Kopf, wobei ihm die nassen Strähnen seiner Haare wie ein Vorhang in die Augen fielen.
»Dass ich es kompliziert mache.«
»Bild’ dir mal nicht so viel ein, Grantaine«, brummte der Rothaarige, lächelte aber. »Ich bin vielleicht der, der in ein paar Monaten abkratzt. Aber du bist der mit dem Vater, der dir den Arsch aufreißt, wenn du ihm sagst, dass du einen Kerl geknutscht hast. Und es wieder tun würdest ...«
»Denkst du das? Du bist ein arroganter Pimmel.«
Lucien lachte auf. »Nicht? Was war das dann gerade? Ein Experiment? Du verletzt meine Gefühle!« Prustend wischte er sich erneut das Haar aus dem Gesicht.
Mathieu schmunzelte und musterte Lucien einen Moment, bevor er antwortete: »Den Tag, an dem du für jemanden Gefühle hast, ich hoffe, dass ich den erlebe. Einfach um zu wissen, dass du ein normaler Mensch bist«, er nagte einen Moment auf seiner Lippe herum, »Und ich hoffe es für dich.«
Der Rothaarige verengte seine grauen Augen zu Schlitzen. »Ich will kein Mitleid von dir!«
»Das ist keins. Es ist nur eine ehrliche Hoffnung für dich. Ich finde ... also, na ist es nicht das, wovon alle reden? Was angeblich das Beste daran ist, erwachsen zu werden? Sich verlieben und der ganze rosarote Herzchenkram ...«
»Und du glaubst, es wäre geil, wenn wir beide das Ganze zusammen erleben, oder was?«, Lucien kräuselte die Lippen spöttisch. Der Schulsprecher seufzte nur und schloss einen Moment die Augen.
»Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur ... ich will nur ...«, Mathieu brach ab, ließ die Schultern hängen und blickte zu Boden. Ihm waren tatsächlich die Worte ausgegangen, um dem Sturkopf zu sagen, was er ihm wünschte. Ganz ohne eigennützigen Hintergedanken.
»Ich will gar nichts für mich«, murmelte er schließlich. »Ich erwarte nichts. Denn ich verstehe das alles hier genauso wenig wie du.«
»Irgendwie glaube ich, da kommt noch ein Aber ...«
Mathieu nickte leicht. »Ja. Aber das sage ich dir ein andermal.«
»Dann warte damit nicht zu lange, Minou.«
»Hör’ auf damit. Bitte.«
»Warum?«
»Weil ...«, der Blonde schluckte und hob den Kopf, um dem spöttisch grinsenden Lucien in die Augen zu sehen. Mathieu wusste, dass der ihn nicht ernst nahm und sich das niemals ändern würde. Er würde nicht verstehen, wie sehr er, Mathieu, sich inzwischen daran gewöhnt hatte, dass Lucien ihn Miezekätzchen nannte und wie sehr es ihm fehlen würde, wenn der Rothaarige eines Tages nicht mehr da sein würde, um das zu tun. »... Vergiss es. Du solltest dich beeilen, wenn du nicht morgen krank sein willst. Du wolltest doch nach Hause. Ich muss wieder hinein ... und mich umziehen.«
»Falls du es vergessen hast, ich bin schon krank.«
Mathieu lachte leise auf und nickte. »Dafür, dass du es mir nicht sagen wolltest, betonst du es ziemlich deutlich. Fühlt sich gut an, nicht immer alles verschweigen zu müssen, oder?«
Der Schulsprecher wandte sich ab und kehrte in die Turnhalle zurück, während Lucien mitten im strömenden Regen stehen blieb und ihm nachsah. Schließlich lächelte er. Mathieu hatte Recht, es fühlte sich viel besser an. Obwohl Grantaine sich dringend abgewöhnen musste, ihn mit diesem Hundeblick anzusehen.
»He, Lucien, warum stehst du da mitten auf dem Hof?« Etienne war an der Tür aufgetaucht und winkte.
»Ich wollte heim. Kommst du mit?«
Der Rothaarige konnte sehen, wie sich alles in dem hochgewachsenen Jungen sträubte, als dieser in den Nachthimmel sah, der unablässig Eimer über Eimer an Wasser auf die Erde goss. Etienne hasste es, nass zu werden, er war wie eine Katze. Eine vornehme. Doch er wäre nicht Etienne, wenn er nicht einen Schirm dabei gehabt hätte, den er nun mit einem Nicken aus der Tasche zog, die er dabei hatte.
Unter diesem kam er schließlich seinem Freund entgegen und musterte ihn. »Du bist lebensmüde. Hier draußen ertrinkt man ja.«
»Es ist herrlich«, grinste Lucien und hob den Kopf. Das Prickeln der Regentropfen auf seiner Haut war wunderbar.
»Na, deine Laune scheint sich gebessert zu haben«, befand der Junge mit den mausgrauen Haaren schmunzelnd.
»Ja, irgendwie ...«, der Rothaarige prustete etwas Wasser von seinen Lippen und zog die Augenbrauen kraus. Konnte dieser kleine Moment mit Mathieu so einen Stimmungsumschwung bewirkt haben? Himmel, er hatte ihn doch nur geküsst, was war denn dabei? Der Schulsprecher bedeutete ihm noch immer nichts. Die kleine warme Kugel in seinem Magen, die hüpfte, ignorierte der Jugendliche beharrlich und drehte sich herum.
»Na los, lass uns lieber gehen. Zuhause hat Maman bestimmt etwas heiße Suppe für uns. Kannst du im Internat anrufen, dass du die Nacht bei mir bleibst? Oder bekommst du dann Ärger?«
»Nein. Ich bin volljährig. Ich muss nur Bescheid sagen.«
Lucien musterte seinen Freund. Etienne hatte im Collége, bevor er zu ihnen nach Biarritz gekommen war, eine Ehrenrunde gedreht und war fast ein Jahr älter als der Rothaarige. Doch das war es nicht, was ihn so viel reifer wirken ließ. Seine in der ganzen Schule bekannte Schusseligkeit war schon beinahe legendär, doch die meisten in ihren Jahrgang hatten instinktiv Respekt vor Etienne. Als würde in seiner vornehm und etwas altmodisch wirkenden Schale ein echter Badass stecken, der ihnen allen den Arsch versohlen konnte.
Lucien schmunzelte über diesen Gedanken. Vermutlich lag es einfach daran, dass sein Kumpel mit über einem Meter Neunzig der Größte von ihnen allen war, sogar größer als fast alle Lehrkräfte. Etienne war ein sanfter Riese, aber es war gut, dass Leute dachten, er könnte auch eine andere Seite haben. Der Rothaarige wusste, dass sein bester Freund extrem sensibel war und es sich viel zu sehr zu Herzen nehmen konnte, wenn man ihn wegen seines ungewöhnlichen Aussehens, seines ungewohnten Kleidungsstils oder seiner Hobbys verspottete. Lucien hatte beinahe zwei Jahre der Bestärkung gebraucht, bis Etienne endlich wirklich anfing, das nach außen zu zeigen, was er innerlich darstellte.
Sein ausgeprägter Schöngeist und sein Gespür für Worte hatten dem Jungen mit den mausgrauen Haaren inzwischen in der Schule den Spitznamen »Shakespeare« eingebracht und er gelernt, dumme Sprüche einfach zu überhören. Die wahrscheinlich am häufigsten gestellte Frage war die, warum ausgerechnet Etienne und Lucien Freunde geworden waren. Sie waren verschieden wie Feuer und Wasser, doch vermutlich war es genau das gewesen, was sie zueinander gezogen hatte.
»Na dann machen wir das, wenn wir daheim sind, mir steigt nämlich die Nässe allmählich die Socken lang hoch«, gluckste der Rothaarige, zog die Kapuze über die ohnehin schon triefend nassen Haare und schob die Hände in die Taschen seines Mantels.
»Hey, deine Sense«, rief Etienne nach ein paar Schritten.
»Ach, egal. Der Klugscheißer wird sie schon irgendwo einschließen. Und wenn nicht ... auch egal. Die würde bei dem Wetter eh nur kaputt gehen.«
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»Hey, Mathieu, hast du Lucien gesehen?« Celeste stoppte ihren Bruder, der im Schulflur gerade das Zimmer der Schülervertretung aufschließen wollte. Seine Kleidung war durch den Regen so durchnässt, dass er Pfützen hinterließ, wo er stand. So konnte er nicht weitermachen.
Das blonde Mädchen kam vor ihm zum Stehen und musterte ihn, bevor sie spöttisch lachte. »Was ist denn mit dir passiert? Haben dich die Jungs der Abschlussklasse unter die Dusche in der Sporthalle gestellt? Du Loser.«
Mathieu drehte den Schlüssel herum und betrat das Zimmer, während er sich das nasse Jackett auszog. »Nein, Schwesterherz. Im Gegensatz zu dir bin ich nicht zum Feiern hier, sondern mache meinen Job.«
»Und rennst durch den Regen, anstatt den Verbindungsflur zu nehmen? Na klar, das glaube ich dir sofort.«
»Ach, was kümmert’s mich«, knurrte der Blonde und öffnete seinen Spind. Die Schülervertreter hatten ihre eigenen Schränke in dem Zimmer anstatt wie alle anderen auf dem Korridor. Murrend schlug der Junge die Tür jedoch wieder zu. Er hatte ganz vergessen, dass er seine Sportkleidung zum Waschen mit nach Hause genommen hatte. Er hatte keine Sachen zum Wechseln.
»Hast du jetzt Lucien gesehen oder nicht?«
»Warum, ist er dir weggelaufen? Erstaunlich, wo du doch angezogen bist wie ein bunter Anglerköder.«
»Besser als du, du spießiger Totengräber.«
Mathieu presste die Spitzen von Daumen und Zeigefinger auf seine Nasenwurzel und drehte sich zu Celeste um. »Hör’ zu: Wenn du deinen Schwarm nicht alleine finden oder halten kannst, dann ist das nicht mein Problem, okay? Vielleicht solltest du aufhören, dich zum Trottel zu machen. Ich weiß ja nicht, was du noch für Ansagen brauchst, bis du kapierst, dass der Typ keinen Bock auf dich hat ...«, er murmelte zu sich selbst, »und da sagt man immer, Jungs wüssten nicht, wo ihre Grenzen sind ...«
Celeste lachte spöttisch. »Wenn dir jemand Tipps geben will, der von all dem keine Ahnung hat ... was weißt du denn schon?«
Die Lippen des Blonden zuckten leicht, als er sich erinnerte, was vor noch nicht einmal einer Viertelstunde zwischen ihm und Lucien auf dem Schulhof passiert war. Überhaupt all die kleinen Momente, die er und der Rothaarige gehabt hatten, ohne jede Romantik dahinter zwar, aber doch persönlicher als alles, was Celeste jemals von Lucien bekommen würde. Wie gern würde Mathieu seiner vorlauten Schwester all diese Dinge ins Gesicht werfen und ordentlich einreiben, damit sie an ihrem Neid ersticken konnte. Doch er tat es nicht. Er wollte diese Momente nicht als Waffe einsetzen, um sich für Celestes Gemeinheiten zu rächen.
»Man braucht nicht mit einem Dutzend Typen geknutscht zu haben, um gesunden Menschenverstand zu haben, Schwesterherz. Und jetzt entschuldige mich. Ich muss mich abmelden gehen. Ich bin nass bis auf die Haut und habe keine Wechselsachen dabei. Ich gehe nach Hause! Was im Grunde bedeutet, du tust es auch. Also hol’ deine Sachen!«
»Was?! Du spinnst! Ich gehe nirgendwo hin!«
»Celeste, ich diskutiere nicht mit dir darüber! Ich habe die Anweisung, dich nach Hause zu bringen. Also kommst du mit, wenn ich es sage. Ich hole mir nicht den Tod hier, damit du noch eine Weile mit deinem notdürftig bedeckten Hintern herumwackeln kannst.«
»Du kannst mich mal, Mathieu. Einen Scheiß werde ich tun!«, fauchte das Mädchen.
»Fein. Dann bleib’. Ich gehe nach Hause und sage Papa Bescheid. Der kommt dich dann abholen und scheißt dich vor all deinen Freunden zusammen, weil du angezogen bist wie eine Hure. Du weißt genau, dass er das hasst. Wenn du das willst, dann bleib. Ich schwöre dir, ich werde zuhause maßlos übertreiben, was du hier treibst und was du die Jungs mit dir machen lässt. Papa wird dich an den Haaren hinauszerren.«
Celeste kräuselte spöttisch die Lippen. »Als ob er dir glauben würde. Ich bin seine süße Maus, schon vergessen?«
Mathieu zog ungerührt sein Handy aus der Tasche und es klickte in der nächsten Sekunde. »Sicher? Ich habe Beweise. Und ich zeige Papa deinen Instagram-Account, der sicher voll von Fotos dieser Party ist. Oder vielmehr von deinen aufgedonnerten und halbnackten Selfies.«
Mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung registrierte der Jugendliche, wie seine Schwester die Hände zu Fäusten ballte.
»Du bist ein Arschloch. Weil du kein Leben hast, ruinierst du meins! Das wirst du mir büßen.«
»Nenn’ mich wie du willst. Ich habe eine Anweisung bekommen und sehe nicht ein, deinetwegen Ärger zu bekommen. Außerdem, wenn du einen Moment aufhören könntest, nur an dich zu denken, würdest du sehen, dass ich klatschnass bin und friere. Aber so weit reicht dein Horizont nicht. Du blendest dich selbst so sehr, dass du selbst deine eigene Familie nicht siehst. Es muss schön sein, so wenig Probleme zu haben, dass das Verlassen einer Party schon der Ruin deines Lebens ist. Du hast keine Ahnung, was wirkliche Probleme sind. Jetzt beweg’ deinen Arsch, oder dein dummes Schminktäschchen bleibt hier!«
Wutschnaubend drehte sich das Mädchen auf den Hacken ihrer High Heels um und stürmte davon. Sie wusste, dass sie verloren hatte, denn sie wollte nicht, dass ihr Vater ihren Instagram-Account fand. Ihr Papa war sehr voreingenommen und nachsichtig, was sie anging, aber die sexy Selfies würden ihr eine Menge Ärger und vielleicht Hausarrest und die Sperrung ihres Taschengeldes einbringen. Ihr Vater war konservativ.
Mathieu folgte ihr mit einigen Schritten Abstand. Die Lehrer, bei denen er sich abmelden musste, waren alle in der Turnhalle und die Musik wurde mit jedem Schritt lauter, den er sich den geöffneten Türen näherte. Es war heiß in der Halle und stickig, roch nach Kürbissen, Parfum und zu vielen Menschen.
Monsieur Dufayel, der als Sportlehrer ein Auge auf sein Habitat haben wollte, war der erste, den der Schulsprecher zu fassen bekam und dem Mann reichte ein Blick auf den Jugendlichen, um ihn von sich aus nach Hause zu schicken.
»Ich wette, die nassen Klamotten sind nicht Teil des Kostüms. Keine Wechselsachen? Dann ab, sonst bist du Montag krank.«
Erleichtert, gehen zu können, begab sich Mathieu wieder in den Flur zurück und blieb vor der geöffneten Tür stehen. Die Wärme in der Turnhalle war nur im ersten Moment angenehm gewesen, dann hatte die Kleidung sich angefühlt, als wäre es nicht Regenwasser, sondern Schweiß und der Junge hatte sich zu ekeln begonnen. Je eher er aus dem Zeug heraus kommen und duschen gehen konnte, desto besser.
Missmutig musste er jedoch feststellen, dass seine Schwester noch immer mit ihren Freundinnen in einer Traube dastand und lachte, als hätte sie es nicht eilig, dort wegzukommen.
Als sie ihm einen dreisten Blick zuwarf, konnte Mathieu spüren, wie ihm der Geduldsfaden riss.