Lucien war für die ganze folgende Woche krank geschrieben worden und Mathieu wollte es sich zwar nicht eingestehen, aber es war tatsächlich langweilig ohne den Rothaarigen. Auch wenn der Schulsprecher froh war, mit dem Stoff hinterher zu kommen und auch die Klausur am Donnerstag ausgezeichnet überstanden hatte, machte ihm das Arbeiten für die Schule spürbar weniger Spaß als sonst.
Es war inzwischen Freitag und der Vormittag zog sich zäh wie Kaugummi, was selbst Mathieu bemerkte. Er ertappte sich dabei, wie er die Kästchen seines Matheblocks ausmalte, anstatt dem Unterricht zu folgen.
»Mathieu!«
Die Stimme des Lehrers riss ihn aus seinen Träumereien und er zuckte so sichtbar zusammen, dass einige seiner Mitschüler zu lachen anfingen. Es geschah nicht oft, dass der Klassenprimus nicht aufpasste. Er wurde rot unter seinen weizenblonden Haaren und sah Monsieur LeBear an.
»Ja, bitte?«
»Kannst du mir die Lösung für die aktuelle Aufgabe nennen?«
Mathieu sah auf die Tafel und sein Heft und die Hitze in ihm drohte, ihn zu verbrennen. Er hatte nicht eine Zahl geschrieben. Wie lange hatte er denn vor sich hin geträumt?
»Äh ... nein, Monsieur.«
»Na, wenn dein Kopf ein bisschen mehr bei linearer Algebra und etwas weniger in vermutlich rosafarbenen Wolken stecken würde, wüsstest du die Antwort.« Der Mann mit dem Schnauzer schob sich die Brille auf die Nase, über deren Rand er den Schulsprecher gemustert hatte, und wandte sich ab. Er schnaubte leise, missbilligend, bevor er einen anderen Schüler aufforderte.
»Hast du was?«, flüsterte Anais, die neben Mathieu saß, so leise, dass es sonst keiner hörte.
Der Blonde presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Rasch kritzelte er, der sonst immer penibel ordentlich schrieb, die Aufgabe in sein Heft und begann, sie zu lösen. Vermutlich rosafarbene Wolken, hatte LeBear gesagt. Mathieu hatte deutlich das sarkastische Kichern in der Klasse gehört - einfach alle glaubten, dass jemand wie der Schulsprecher ohnehin keine abbekommen würde, selbst wenn er noch so verknallt wäre.
Anais beobachtete ihn von der Seite. Ihr fielen seine geröteten Wangen auf. Es musste ihn verlegen gemacht haben, die Anspielung darauf, dass vielleicht jemand ihm die Konzentration raubte. Sie fragte sich, ob das vielleicht stimmte und wenn ja, für welch ein Mädchen sich Mathieu wohl interessieren würde. Sie hatten so viele wirklich hübsche und aufregende Mädels an der Schule, die echte Hingucker waren - ob es nun an ihrer wunderschönen, kakaofarbenen Haut lag; an langen, silberblonden Haaren oder herausragendem künstlerischem Talent.
Ob Mathieu wohl auf ein solches Mädchen stand? Sicher auf eines, das etwas hermachte, das die Leute faszinierte, nicht auf so ein graues Mäuschen, wie sie selbst, Anais, es war. Sie seufzte leise und richtete den Blick wieder auf ihr eigenes Blatt. Sicherlich würde sie bis zum Sankt Nimmerleinstag darauf warten können, dass der Blonde sein Interesse an ihr entdeckte. Und verübeln konnte sie es ihm nicht. Sie kannten einander seit dem Kindergarten, seit sie beide Windeln getragen hatten, Mathieu hatte miterlebt, wie sie sich am ersten Schultag vor lauter Angst in die Hosen gemacht hatte und auch sonst jedes Fettnäpfchen mitbekommen. Es war klar, dass er in ihr keine Frau sah, in die man sich verlieben konnte. Sie war mehr so etwas wie ein lang vertrautes Haustier, da war sich Anais sicher. Doch böse sein konnte sie ihm deswegen nicht.
Mathieu bemerkte nichts von dem inneren Zwist, den seine Sitznachbarin austrug, sondern kratzte sich am Kopf und versuchte verbissen, sich auf das zu konzentrieren, was Monsieur LeBear zu den Aufgaben erklärte. Zur Hölle mit Lucien, der ihn permanent ablenkte und störte, selbst wenn er gar nicht anwesend war. Bevor es klingelte, verteilte der schnauzbärtige Lehrer eine Handvoll Arbeitsblätter, die er zur Benotung als Hausaufgabe aufgab.
»Grantaine!«, brummte er den Schulsprecher an.
»Ja, Monsieur?«
»Du bringst das hier zu Walace und Legrand, nachdem der heute ebenfalls der Meinung war, dass man nicht zur Schule kommen braucht. Also machst du das eben.« Der Mann drückte Mathieu neben einem für sich noch zwei weitere Blätter in die Hand. »Sag’ ihnen, wenn sie es nicht abgeben, setzt es null Punkte.«
Der Blonde blickte von den Zetteln zu dem Lehrer und wieder zurück und nickte schließlich. Nur weil er der Schulsprecher war, war es eigentlich nicht seine Pflicht, Krankenbesuche zu machen. Wenn ein Schüler mit Attest krankgeschrieben war, war er normalerweise von solchen Dingen befreit. Doch Mathieu hatte keine Lust, sich mit dem bärbeißigen Monsieur LeBear anzulegen, der alle etwas an ein gewaltiges Walross erinnerte.
»Ja, Monsieur«, sagte er deswegen und legte die Blätter in sein Heft.
.
»Na toll. Jetzt darf ich wegen dem quer durch die Stadt, um zu Etiennes Wohnheim zu kommen und dann zu Lucien zurück.«
Der Blonde schulterte draußen auf dem Flur seine Tasche und atmete tief durch. Der Tag war um, doch die Aufgabe, die man ihm aufgebrummt hatte, würde ihn garantiert zwei Stunden seines Nachmittags kosten.
»Gib’ mir das Arbeitsblatt für Etienne. Ich muss doch eh in die Richtung. Ich kann’s ihm geben und du fährst zu Walaces. Das liegt auf deinem Weg.« Anais streckte Mathieu die Hand hin und lächelte leicht.
»Das würdest du machen?«
»Klar, ich bin doch deine Assistentin und ich komme jeden Tag an dem Internat vorbei, wenn ich heim gehe.«
Der Schulsprecher zog die Tasche nach vorn und den Mathehefter heraus, bevor er das Blatt entnahm. »Danke. Du rettest meinen Nachmittag.«
Das Mädchen lächelte und zuckte leicht mit den Schultern, während sie den Zettel ordentlich verstaute. »Vielleicht revanchierst du dich mal.«
»Äh ... ja, okay«, grinste Mathieu und zuckte plötzlich zusammen, als ein spitzes und gehässiges Lachen in seine Ohren drang. Er wandte den Kopf herum und konnte Celeste mit ihren zwei Freundinnen etwas weiter den Gang hinunter stehen sehen. Sie kicherten und lachten und machten obszöne Gesten in die Richtung des Schulsprechers und seiner Assistentin.
»Na, Brüderchen, kommst du vielleicht doch noch zum Schuss? Wen interessiert da die Oma-Unterwäsche, wenn’s auf das ankommt, was drunter ist, ne?«
Anais lief rot an und presste die Tasche etwas enger an ihre Brust, während der Blonde einen zornigen Ausdruck im Gesicht hatte.
»Halt’ ein widerliches Schandmaul und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!«
»Aaahahah, voll ins Schwarze, Bitches«, lachte Celeste nur und ging mit ihren Hofdamen an Mathieu und dem brünetten Mädchen vorbei, jedoch nicht ohne diesem einen Stoß zu versetzen, der beinahe dazu führte, dass Anais ihren Rucksack fallen ließ.
»Na warte, irgendwann fülle ich grünes Haarfärbemittel in ihr Shampoo oder sonst was und dann wird sie sehen, was sie davon hat. Dieses Biest«, knurrte der Schulsprecher und funkelte seiner Schwester hinterher, die laut lästernd von dannen zog.
»Ach, lass’ sie doch. Irgendeinen Grund wird es schon haben, dass sie es so nötig hat, über andere herzuziehen«, murmelte seine Assistentin und lächelte leicht.
»Du solltest das mit dem ‚Die andere Wange hinhalten’ aus der Bibel nicht zu wörtlich nehmen. Wenn sie dich ärgert, gib’ ihr eins auf die Nase. Meinen Segen hast du«, befand Mathieu und warf sich seinen Rucksack über. »Okay, ich mach mich dann mal auf die Socken. Es sind zwar jetzt dann Ferien, aber ich hab so viel nachzuholen und je eher ich anfange, umso früher hab ich frei. Salut, Anais. Und danke noch mal.«
Das Nicken und das fast schon zärtliche Lächeln, das das Mädchen ihm nachwarf, bemerkte er nicht mehr, so eilig hatte er es, aus der Schule zu kommen. Er hatte nun einen Vorwand, um Lucien zu besuchen, ohne wie ein komischer Freak dazustehen, und den ließ sich Mathieu nicht entgehen.
_
Nachdem Lucien fast die ganze Woche faul im Bett gelegen hatte, weil er sich vor schmerzenden Gliedern und verstopfter Nase kaum rühren konnte, war es nun fast wie eine Sünde, zu spüren, wie das heiße Wasser über seinen Rücken lief. Er konnte fühlen, wie sein Körper erschauderte und sich Gänsehaut auf seinen Armen bildete, doch er genoss es. Leise brummend, fast schnurrend, senkte er den Kopf, um auch seine Haare nass zu machen. Am liebsten würde er für Stunden hier unter der Dusche bleiben und alles andere ausblenden. Doch auf seinem Schreibtisch lagen die Hausaufgaben und die Schulsachen, die Etienne ihm zum Abschreiben gebracht hatte und Lucien wusste, seine Mum würde böse werden, wenn er sich nicht sofort darum kümmerte, damit sein bester Freund seine Sachen zurückhaben konnte, am besten noch, bevor der am Samstag in die Provinz fuhr, um die Herbstferien bei seiner Familie zu verbringen.
Großzügig mit dem Duschgel, wusch der Jugendliche sich energisch und war froh, dass sein Tumor ihm abgesehen von dem Piksen, wann immer Lucien hatte niesen müssen, keine großen Schmerzen verursacht hatte. Es ging dem Rothaarigen zur Abwechslung wirklich gut.
Er trocknete sich gerade ab und schlüpfte in seine pechschwarze Jeans, als ein Klopfen an seiner Zimmertür zu hören war.
»Lucien?«, tönte es dumpf durch das Holz.
»Ich bin im Bad, Mum, eine Minute«, rief der Jugendliche zurück.
»Dein Schulfreund ist hier.«
Lucien zuckte. Sein Schulfreund? Wer außer Etienne, den seine Maman beim Namen nannte, sollte ihn denn besuchen? Nur in Jeans und mit einem Handtuch um die Schultern trabte der Rothaarige zur Türe und öffnete sie. Er machte große Augen, als er Mathieu davor stehen sah.
»Äh, hallo«, sagte Lucien verdutzt und verbreiterte den Spalt, damit der Blonde eintreten konnte. Den neugierigen Blick von Muriel ignorierte der Jugendliche und schloss wortlos die Tür hinter sich, bevor er sich umdrehte.
Mathieu, der noch nie bei Lucien zuhause gewesen war, sah sich um und versuchte, dabei nicht zu neugierig zu wirken.
»Na, Grantaine, Sehnsucht nach mir gehabt?« Der Rothaarige rubbelte sich mit dem Handtuch über den Kopf und grinste schelmisch, als der Blonde ihm das Gesicht zuwandte.
»Wohl davon geträumt, hm?«
»Jede Nacht«, schmunzelte Lucien, warf das Tuch über die Badezimmertür und schüttelte die Haare aus.
»Ganz schön lang geworden«, murmelte Mathieu. Es machte ihn sonderbar nervös, dass der Rothaarige nur eine Jeans trug. Der Duft, der im Zimmer lag, tat sein Übriges. Mathieu war vorher nie wirklich aufgefallen, wie gut Lucien immer roch, selbst wenn er rauchte.
»Ja. Und ich schneide die auch nicht mehr. Wofür? Mir gefällt das.« Lässig lehnte der Jugendliche sich an die Kommode und wickelte einen seiner geliebten Big Red-Kaugummis aus. »Auch einen?«
»Nein, danke. Ich ... ich wollte dich eigentlich gar nicht lange stören. Ich hab Schularbeiten dabei.«
»Aha.«
»Ja, ich weiß, die bringt dir Etienne. Es war nicht meine Idee, okay? Außerdem war er heut nicht da. LeBear hat mich dazu verdonnert, euch die Blätter zu bringen. Die sind Hausaufgabe für nach den Ferien und darauf gibt es eine Note.«
Lucien ging auf Mathieu zu, der in seiner Tasche wühlte, und blieb so nahe bei ihm stehen, dass der Blonde erschrak, als er wieder aufblickte.
»Huch. Erschreck’ mich nicht so.«
»Mathieu, ich habe das Gefühl, dass du glaubst, dich rechtfertigen zu müssen, dass du hier bist.«
»Welchen Grund sollte ich auch haben? Sonst?«
»Ich weiß nicht ... vielleicht das, was ich am Anfang gesagt habe?«
Der Schulsprecher presste die Lippen zusammen und blickte Lucien stolz in die dunkelgrauen Augen. »Das wünschst du dir!«
»Vielleicht, ja.«
»Oh Mann, hör’ doch auf«, keuchte Mathieu leise und ließ den Rucksack fallen.
»Am Montag hast du noch meine Hand gehalten und jetzt darf ich nicht mal mehr etwas sagen?« Der Rothaarige flüsterte und der Duft, der ihn umgab, war wie eine Wolke, er roch weich und gemütlich, wie ein Kissen, in das der Blonde seinen Kopf vergraben wollte. Und gleichzeitig aufregend und sexy und maskuliner als es Mathieu selbst je gelingen würde. Lucien hatte für ihn seine sanfte Stimme hervorgeholt, die, die er sonst nur seinen Hund hören ließ und das ließ das Herz des Schulsprechers rasen.
»Sag’ ... sag’ doch, was du willst.«
»Ich möchte, dass du mich küsst«, flüsterte Lucien rau und wich keinen Zentimeter von Mathieu zurück, der schwer schluckte und ihm ins Gesicht sah. Der Blonde wusste, dass seine helle Haut längst verraten hatte, wie aufgewühlt und verlegen er war und wie sehr sein Herz das Blut durch seine Adern jagte. Es berührte ihn peinlich, doch gleichzeitig scherte er sich null darum.
»Warum?«
»Weil ich hoffe, dass du das auch möchtest.«
»Oh Gott, ich kippe gleich um«, murmelte Mathieu.
»Ich hoffe nicht. Das kann ich meiner Maman nicht erklären«, kicherte der Rothaarige und das leicht kratzige Geräusch, was sein von der schlimmen Erkältung noch immer etwas angeschlagener Hals machte, löste etwas die Anspannung in Mathieu. Er stieg mit ein und setzte sich auf die Kante von Luciens Bett.
»Ich wollte dich nicht überfordern«, murmelte dieser und nahm neben ihm Platz. Lucien strich sich durch das feuchte Haar und seufzte. »Irgendwie sind wir beide doch total verkorkst, oder?«
»Kann sein. Aber es fühlt sich gut an. Oder?«
»Irgendwie schon. Aber ...«
»Na, kein Aber. Es kommt immer ein Aber. Darauf hab ich jetzt keine Lust.«
»Sondern?«
»Das andere«, schmunzelte Mathieu, lehnte sich an Lucien und stupste ihn mit seiner Nasenspitze an die Wange. »Du hast ja richtig Bartstoppeln.«
»Schlimm?«
»Nein. Selbst diese Haarfarbe konnte dich nicht entstellen.«
»Mathieu«, kicherte der Rothaarige.
»Was? Ich sehe das so.« Der Blonde fuhr mit den Fingern in die duftige Mähne Luciens und lächelte, bevor er ihm ohne länger zu zögern die Lippen auf den Mund presste. Er schloss die Augen und konnte spüren, wie der Rothaarige sich für ihn öffnete. Der Zimtgeschmack des Kaugummis übertrug sich auf die Zunge des Blonden und er drängte sich enger an Lucien, der seine Arme um ihn legte. Langsam nur sanken sie auf der Matratze nach hinten und Mathieu bemerkte kaum, wie der Andere plötzlich über ihm war.
Ohne die Verbindung zu unterbrechen, streichelten die Finger des Blonden über Luciens nackte Haut und den Rücken. Noch nie zuvor hatte Mathieu so etwas erlebt, geschweige denn einen anderen Menschen berührt. Die Gewissheit, dass es auch für den Rothaarigen völliges Neuland war, berauschte und erregte ihn.
Mathieu keuchte überrascht auf und für einen Moment lösten sie sich voneinander und sahen sich an. Lucien lag fast auf dem Blonden und es erschien so natürlich, dass sich ihre Körpermitten berührten und dabei, trotz des Stoffes ihrer Kleidung, ein Gefühl auslösten, wie ein ganzer Ameisenhaufen unter der Haut, Schauer und Kribbeln und ein Verlangen, noch viel mehr davon zu bekommen. Der Rothaarige küsste den Anderen wieder stürmisch. Sein Schoß strich währenddessen leicht nur, aber sinnlich und lustvoll, über den Mathieus, dessen Fingernägel bereits begonnen hatten, feine Spuren auf dem Rücken Luciens zu hinterlassen.
Wie ein Gewitter, leise, aber intensiv, rollte es über sie. Mathieu bäumte sich auf und biss sich auf die Lippe, während Lucien sein Gesicht am Hals des Blonden vergrub.
»Oh Gott«, nuschelte der Rothaarige.
»Ja«, japste Mathieu nur und atmete schwer.
Mit winzigen saugenden Küssen arbeitete sich Lucien vom Hals zum Kinn des Blonden und lachte ihm schließlich ins Gesicht. »Ich glaube, wir brauchen ein Taschentuch, oder?«
Doch bevor Mathieu etwas sagen konnte, klopfte es an der Zimmertür.