Der Blonde zuckte heftig zusammen und setzte sich auf. Lucien schaffte es gerade noch, aus dem Weg zu gehen, bevor sie mit den Köpfen zusammengestoßen wären und rutschte halb vom Bett.
Madame Walace, ganz entgegen ihrer eigentlichen Art, hatte dieses Mal nicht gewartet, bis ihr Sohn sie hereingebeten hatte, sondern die Türe geöffnet und sah nun zwei Jugendliche in einer seltsamen Situation vor sich.
Lucien, der halb auf dem Teppich hockte und Mathieu, dem Verlegenheit und ein Ausdruck von Schuld ins Gesicht geschrieben stand, ähnlich leuchtend wie seine knallroten Wangen. Feiner Schweiß glitzerte auf der Stirn von beiden.
»Ach, Jungs, ich wollte fragen, ob ihr etwas wollt ... nanu?«
Der Blonde sprang auf, zog das Arbeitsblatt, das aus dem Rucksack lugte, heraus und warf es auf das Bett.
»Also, denk’ dran, du bekommst null Punkte, wenn du das nach den Ferien nicht gemacht hast. Ich ... muss los, salut. Bon soir, Madame Walace.« Beinahe fluchtartig zischte Mathieu an Muriel vorbei und einen Augenblick später konnte man die Wohnungstür ins Schloss fallen hören. Lucien war aufgestanden und hatte sich mit der Schulter an den Rahmen seiner Zimmertür gelehnt. Ein bisschen bedröppelt stand er da, auch enttäuscht, aber vor allem überrascht.
»Was war das denn? Habt ihr euch gestritten?« Madame Walace musterte ihren Sohn und stutzte dann, als sie die feinen roten Streifen auf dem Rücken Luciens sah. Sie strich mit dem Finger darüber und trat vor ihn.
»Was habt ihr hier gemacht? Habt ihr euch geprügelt, oder was?«
»Nichts, Mum. Lass’ mich in Ruhe. Und warte das nächste Mal gefälligst, bis ich sage, dass du reinkommen kannst!« Der Rothaarige, dessen Laune von einem Rekordhoch in ein tiefes Loch gefallen war, knurrte sie an und wollte sie aus dem Zimmer schieben, doch seine Maman war nicht weniger resolut als er.
»Also? Was ist das? Was habt ihr hier gemacht?«
»Nix!«
»Ach, erzähl’ doch nicht. Wegen nichts rennt der Junge doch nicht weg!«
»Okay. Es geht dich absolut nichts an, okay?« Energisch drückte der Rothaarige die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel herum.
»Lucien!«
»Hau’ ab!« Wütend trabte der Jugendliche zu seinem Bett und ergriff den Zettel, den Mathieu gebracht hatte. Fluchend zerknüllte der Rothaarige das Blatt und warf es auf den Schreibtisch, bevor er sich hinsetzte und nach hinten fallen ließ.
Was war da nur zwischen ihnen geschehen? Wie hatte es so weit kommen können, dass das passieren konnte? Wer weiß, wohin es geführt hätte, wenn sie allein in der Wohnung gewesen wären! Zum Glück war seine nervtötende und störende Mutter nicht bereits fünf Minuten früher hereingeplatzt! Warum zum Teufel hatte sie überhaupt kommen müssen?
Schnaubend und absolut unzufrieden rieb Lucien sich die noch immer feuchten Haare aus dem Gesicht, bevor er urplötzlich zu lachen anfing. Oh Gott, er hatte so etwas nicht tatsächlich mit Grantaine, dem Lahmarsch, gemacht!? Das war das Nächste an Sex, was er, Lucien, in seinem bisherigen Leben erlebt hatte und das ausgerechnet mit Mathieu!
Mathieu. Mathieu. Mathieu.
Lucien seufzte und lächelte gen Zimmerdecke. Vielleicht hatte Etienne doch recht und er war tatsächlich in den Schulsprecher verknallt. Zumindest wusste er, dass es schön gewesen war mit ihm und dass nicht nur Mathieus Puls verrückt spielte, wenn sie beide zusammen waren.
Nachdem der Jugendliche sein Haar mit einem Zopfgummi zusammengezwirbelt hatte, warf er sich seine Kapuzenjacke über und öffnete das Fenster zur Feuerleiter. Er brauchte dringend eine Zigarette und etwas kalte Luft, um seine noch immer in Flammen stehende Haut zu kühlen. Die zarten Kratzspuren, die Mathieu hinterlassen hatte, fühlte er deutlich, nicht als Schmerz, aber als feines Kribbeln.
Während Lucien auf der alten Obstkiste saß und die Beine auf das Geländer gelegt hatte, paffte er genüsslich vor sich hin und ließ seiner Fantasie freien Lauf über das, was er noch alles hätte anstellen wollen, wenn er und Mathieu die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Darüber vergaß er die Zeit und bemerkte es erst, als es wieder an der Tür klopfte und seine Maman ihn zum Abendessen rief.
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»Aber wenn ich es dir doch sage, Gregoire! Irgendetwas ist da vorgefallen zwischen Lucien und dem Grantaine-Jungen. Du hättest mal sehen sollen, wie schnell der abgehauen ist, als er mich an der Tür gesehen hat!«
Muriel saß spät abends mit ihrem Ehemann auf dem Sofa, um sich noch etwas Abendunterhaltung im Fernsehen anzusehen. Gregoire Walace hatte ein paar Tage frei und da ihr Sohn sich von seiner Erkältung erholt hatte, hatten sie eventuell einen kleinen Ausflug geplant.
»Vermutlich hatten sie einen kleinen Zwist. Du kennst doch Lucien. Der fand es doch schon immer lustig, die Kinder von diesem aufgeblasenen Winkeladvokaten zu foppen.« Die Walaces kannten die Grantaines noch aus der Zeit, als der kleine Mathieu ihren Sohn im Kindergarten geärgert hatte und später von den Elternabenden in der Schule. Gregoire hatte noch nie viel von Auguste gehalten, den er für einen Eisklotz hielt.
»Aber wie erklärst du dir dann die Kratzer auf Luciens Rücken? Halt mich für verrückt, aber ... na, sie sahen aus wie die, die ich dir ... also ... Ach, Gott, als hätten sie rumgemacht!«
Monsieur Walace zog die Augenbrauen hoch und sah seine Frau an. Erst ernst, doch dann entgleiste ihm das Gesicht und er fing zu lachen an. »Du meinst, Lucien macht einen Ausflug an das andere Ufer?«
Muriel nickte und sah aus, als erhoffte sie sich den gerechten Zorn eines allzu strengen Vaters, der seinem Sohn die Flausen austrieb. Doch da hoffte sie bei Gregoire vergebens, denn der zuckte nur mit den Schultern.
»Für mich zählt sein Glück. Nicht, was die Nachbarn sagen. Nicht, was meine oder deine Eltern sagen. Nicht einmal, was wir dazu sagen würden. Nur das, was er möchte.«
»Ja, schon, aber ... aber ich hatte mir für Lucien immer eine süße kleine Freundin gewünscht und keinen ... keinen anderen Jungen ...«
»Vielleicht interpretierst du da auch viel zu viel hinein. Vielleicht hat Lucien Mathieu auch einfach nur gebeten, ihm den Rücken zu kratzen oder er hat es mit einem Lineal selbst gemacht. Du siehst bestimmt nur Gespenster.« Mit diesen Worten schloss Monsieur Walace das Gespräch und widmete sich dem Fernseher, während seine Frau noch nicht zufrieden war und sich stumm selbst davon zu überzeugen versuchte, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn ihr Lucien Jungs mögen würde.
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Während des ganzen Weges nach Hause schimpfte Mathieu mit sich selbst. Warum war er einfach davongelaufen? Das hatte Madame Walace erst recht stutzig gemacht, dass etwas vorgefallen sein musste. Doch wenn er ihr hätte ins Gesicht sehen müssen, hätte sie an seinem ablesen können, was geschehen war, womöglich hätte er es ihr sogar freiheraus gesagt, denn er konnte nicht lügen, unter Druck schon mal gar nicht.
Seine Wangen glühten bei der Erinnerung daran und das etwas unangenehme Gefühl einer feuchten Unterhose ließ ihn keine Sekunde daran zweifeln, dass es tatsächlich geschehen war. Ein Kribbeln huschte über seinen Rücken und ließ ihn unwillkürlich lächeln, ein dummes Grinsen, das sich hielt, bis er zu Hause die Türe aufschloss und eintrat.
»Na, du Freak. Auch mal da? Hab’ gehört, du musstest Botengänge für das Mathe-Walross machen?« Celeste, die gerade aus der Küche kam und an der Treppe Halt gemacht hatte, feixte spöttisch.
»Nein. Ich war nur bei Lucien«, entgegnete der Blonde, weil er wusste, dass es seine Schwester aufregen würde, dass er ihren Schwarm zu Hause besucht hatte.
»Du warst bei ihm?«
»Jap. In seinem Zimmer. Er hat ein eigenes Bad, das wäre was für dich, da würdest du gar nicht mehr raus kommen.« Mathieu grinste, während Celeste vor Neid rote Wangen bekam.
»Du lügst.«
»Warum sollte ich? Ich hab ihm eine Hausarbeit auf Note gebracht. Ich hab keinen Grund zu lügen. Ich bin ja nicht du.«
Das blonde Mädchen musterte ihn scharf und zog schließlich eine Augenbraue hoch. »Sag mal, hast du dich bepisst, oder was?«
Mathieu errötete und schaute nach unten. Und tatsächlich, seine angefeuchteten Unterhosen begannen allmählich, durch den Stoff seiner Jeans zu nässen.
»Nein! Das ist Spritzwasser von einem der Büsche draußen«, stammelte der Blonde und wollte an Celeste vorbei gehen, die ihn festhielt und anfunkelte.
»Du bist ein mieser Lügner. Also? Was hast du getrieben? Hast du auf Anais’ alte Omaschlüpper einen Abgang gehabt oder was?«
»Halt’ den Mund und lass’ mich vorbei!«
»Was ist das denn für ein verdammtes Theater hier schon wieder?« Auguste Grantaine, bereits wieder ein Whiskyglas in der Hand, erschien an der Tür zum Wohnsalon und musterte seine Kinder streng.
»Papa, Mathieu hat sich einen runtergeholt!«, behauptete Celeste und grinste fies.
»Das habe ich nicht!«
»Klar hast du. Die Flecken da verraten dich doch!«
»Sei’ ruhig!«
»Ihr haltet beide den Mund! Mathieu, es ist nach Fünf, wo kommst du jetzt her, an einem Freitag?!«
Der Jugendliche zuckte unter der strengen Stimme zusammen. »Ich hab einem Mitschüler, der krank ist, Aufgaben gebracht. Ein Lehrer hat mich darum gebeten.«
»Lucien Walace«, ergänzte seine Schwester. Sie nutzte jeden kleinen Fingerzeig, um ihren Papa gegen ihren Bruder aufzubringen. Und ihr Vater reagierte auch wie gewünscht.
»Dieser Taugenichts? Hab ich nicht gesagt, dass du dich von dem fernhalten sollst?«
Mathieu seufzte. »Aber was soll ich denn machen, wenn eine Lehrkraft mich darum bittet? Da kann ich ja schlecht Nein sagen.«
»Doch, genau das kannst du! Du bist Schulsprecher! Nicht der Laufbursche für Versager, die es ohnehin nie zu etwas bringen werden! Dafür hast du doch deine Handlanger!«
»Stellvertreterin, Papa. Anais ist meine Stellvertreterin und Assistentin. Nicht mein Handlanger.«
»Mir vollkommen egal, was die kleine Tussi ist! Du musst diese niederen Arbeiten nicht erledigen.« Auguste leerte sein Glas. Mit seiner Laune stand es nicht zum Besten.
»Na, viel wahrscheinlicher ist’s eh, dass du dir auf Lucien einen runtergeholt hast als auf diese hässliche graue Maus, mit der du immer zusammenhängst. Wahrscheinlich kommen daher die Flecken auf der Hose«, Celeste feixte immer breiter und der Blick ihres Vaters wurde unstet und ungemütlich. Er hasste Homosexuelle, hielt sie für weich und zu schwach, ein ordentliches Leben zu führen und allein die Anspielung darauf, dass sein eigener Sohn ‚einer von denen’ sein könnte, machte Mathieu Angst vor seiner Reaktion.
Der Junge riss sich von seiner Schwester los und versetzte ihr einen Stoß, damit er von ihr wegkommen konnte. »Halt’ nur einmal im Leben dein dummes Mundwerk, du hinterfotziges Lästermaul!«
»MATHIEU!«, brüllte Auguste, doch der Jugendliche packte seinen Rucksack fester, stieg die Stufen hinauf und rief vom oberen Absatz zu dem Mann hinunter: »Das ist die Wahrheit, Papa! Sie ist nicht das unschuldige Prinzesschen, was sie dir vorspielt. Wenn du weniger trinken würdest, würdest du es vielleicht sehen!«
Mathieu verschwand in seinem Zimmer und schlug die Tür laut hinter sich ins Schloss, bevor er sie verriegelte.
Gott, diese Familie war ein Alptraum! Müde und erschöpft zog er die Schuhe aus und tauschte seine Klamotten gegen bequeme und vor allem trockene, bevor er sich auf das Bett setzte.
Es ging seine saudämliche Schwester überhaupt nichts an, was er mit oder wegen Lucien getan hatte. Sie war doch nur neidisch, dass er, Mathieu, bereits mehr von dem Rothaarigen gesehen - und gespürt - hatte, als sie es wahrscheinlich jemals würde. Wenn sie wüsste, was an diesem Nachmittag geschehen war, sie würde sich selbst in der Luft zerfetzen wie einer dieser schreienden roten Briefe aus den Harry Potter-Filmen. Und sein Vater gleich hinterher, nachdem er Mathieu den Kopf abgerissen hatte.
Doch der Jugendliche wollte sich dieses Erlebnis nicht zerstören lassen. Es war wunderschön gewesen, aufregend und allein die Erinnerung versetzte ihn wieder in Aufruhr.
Die Ferien fingen ja toll an, wenn Celeste gleich am ersten Abend wieder für Unfrieden sorgte und es so schaffte, dass ihr Bruder sich die meiste Zeit in seinem Zimmer verschanzte, um der Kritik des Vaters, der Gleichgültigkeit der Mutter und der Gehässigkeit der Schwester zu entfliehen. Mathieu würde zu gern für ein paar Tage raus aufs Land zu seinem Großvater fahren. Der Vater von Auguste hatte im Gegensatz zu diesem längst begriffen, dass Geld, Status und Image nicht alles waren, und der alte Mann hatte alles davon besessen. Er war es immerhin gewesen, der die Villa der Grantaines damals gekauft hatte, als Hochzeitsgeschenk und für das erste Kind, eben Mathieu, der einige Monate nach der Heirat geboren worden war. Der Jugendliche hatte bereits oft das Gefühl gehabt, dass sich sein Großvater mehr aus ihm machte als sein eigener Papa, denn der alte Mann nörgelte nicht andauernd an Mathieu herum und sagte ihm häufig, dass er sich weniger Stress machen und seine Teenagerjahre genießen sollte. Genau wie Lucien es bereits getan hatte.
Entschlossen stand der Blonde auf und ging an seinen Schrank, wo er hinter einigen Büchern eine unscheinbare kleine Schachtel deponiert hatte. Sie enthielt sein gespartes Taschengeld, was er leider verstecken musste, da Celeste keine Scham und kein Verständnis für fremdes Eigentum hatte. Sie hatte ihm schon einmal zwanzig Euro geklaut.
Wenn er sich selbst eine Zugfahrkarte kaufte, konnte sein Vater doch eigentlich nichts dagegen sagen, dass er, Mathieu, für ein paar Tage zum Opa hinaus fuhr. Und der würde ihn sicher willkommen heißen in seinem kleinen Haus am Meer, das um die einhundert Kilometer weiter nördlich in einem hübschen Dörfchen stand. Der Witwer lebte seit dem Tod von Mathieus Großmutter dort und verbrachte die Zeit mit Angeln und Rosenzucht.
Der Jugendliche musste unbedingt mal raus hier und mit jemandem reden, der ihn nicht verspottete und seine Argumente ignorierte, wie es in seiner Familie andauernd geschah. Kurz dachte er, dass er sich bestimmt auch mit Lucien würde austauschen können, der bestimmt nur zu gern über die ach so feinen Grantaines ablästern würde, doch der Blonde wollte ihn nicht damit belasten. Er hatte mit seiner Krankheit schon genug eigene Sorgen und Mathieu war sich nicht sicher, ob sie überhaupt ... etwas waren. Nur weil das zwischen ihnen geschehen war, hieß das noch nichts.
Der Jugendliche zählte sein Gespartes und lächelte. Das war mehr als genug. Es lohnte sich, dass er kaum etwas ausgab und Büromaterial für die Schule immer aus der Kanzlei seines Vaters bekam. Er konnte beinahe jeden Monat die ganzen einhundert Euro Taschengeld weglegen. Celeste war meist schon nach einer Woche pleite und bettelte um noch mehr.
Erleichtert griff Mathieu nach seinem Handy und wählte die Nummer seines Großvaters. Der Junge hoffte, es würde für diesen okay sein, ihn über die Ferien aufzunehmen, denn wenn er zusagen würde, würde Auguste es auch tun, da dieser sonst wiederum von seinem eigenen Vater eins auf den Deckel bekommen würde, weil er Mathieu einen Besuch verweigerte.
Der Junge hockte sich auf die Bettkante, als das Freizeichen ertönte und es schließlich klickte.
»Ja, Grantaine?«, tönte eine freundlich klingende, raue Stimme aus dem Apparat.
»Hallo, Papi.«