»Bist du doof?«, fragte Mathieu Lucien atemlos, als er ihn eingeholt hatte. Die beiden wurden nun eingerahmt von Sasha auf der einen Seite und dem Fahrrad des Blonden auf der anderen.
»Ich denke nicht«, gluckste der Rothaarige. Er hatte ausnahmslos gute Laune, seit er wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Es hatte auch gereicht, von Samstag bis Freitagnachmittag in dieser Hölle voller Spritzen und röchelnden Menschen zu verbringen. Und das alles wegen einer Ohnmacht. Wenn es nach dem Rothaarigen gegangen wäre, wäre er Dienstag schon wieder abgehauen, als seine bleierne Schwäche endlich nachgelassen hatte.
»Warum sagst du dann so was?«
»Weil ich dachte, dass es dir gefallen hätte. Du bist ja einfach abgehauen. Ich konnte gar nicht fragen, wie ich war«, Lucien lachte schnaubend und aus irgendeinem Grund musste Mathieu grinsen. Dem Anderen schien es gut zu gehen und das freute ihn.
»Und dann warst du verschollen. Nicht mal eine SMS für deinen Liebhaber, schäm’ dich, Grantaine. Das macht man nicht.«
»Also erstens, ich hab deine Nummer nich’. Und zweitens war ich die Woche bei meinem Opa.«
»Cool. Bestimmt geil, mal nicht deine Hackfresse von Schwester ständig zu sehen. Oder wart ihr zusammen da?«
»Na, nu aber«, protestierte Mathieu, nickte dann aber. »Aber nein, nur ich, das war schon richtiger Luxus. Und was hast du getrieben?«
»Nichts Besonderes«, Luciens Stimme klang spröde und auf einmal nicht mehr so happy wie zuvor. »Willst du wieder heim?«
»Ich weiß nicht. Es ist keiner da außer mein Vater und der arbeitet. Wo willst du mit dem Schlachtross denn hin?«
»Normalerweise gehen wir an den Strand, aber heute ist mir nicht danach. Zu windig. Bock, auf den Spielplatz der Grundschule einzubrechen?«
»Du bringst mich in Teufels Küche!«
»Da bist du schon, du hast Unzucht getrieben. Also, was ist?«
Mathieu seufzte und lächelte dann. »Okay. Aber auf deine Verantwortung.«
»Ach, mach’ dir nicht ins Höschen, das ist kein Einbrechen, es ist nicht mal ein richtiger Zaun und ich will nur auf die Schaukel und nichts niederbrennen.«
»Ikarus spielen?«
Lucien schnaubte amüsiert. »Oh Gott, das dumme Gerede hast du noch nicht vergessen? Ist ja peinlich.«
»Finde ich gar nicht. Los, du Schnecke, mach’ hin.«
Grinsend überwanden sie das Stück Weg, das sie von der Grundschule noch trennte. Zwei Straßen weiter nördlich befand sich das Lycee, das über die Ferien geschlossen war.
Mathieu lehnte sein Rad an und stieg über den niedrigen Zaun. Es stimmte, dass der Spielplatz nicht gut gesichert war. Eigentlich gehörte hier, schon wegen der angrenzenden Straße und der Sicherheit der Kinder, mindestens ein Maschendrahtzaun hin, aber das sollte in dieser Sekunde nicht das Problem der Jugendlichen sein. Zwischen den Bäumen hindurch gelangten sie zu den Schaukeln und Lucien machte Sashas Leine an der Stange eines Klettergerüstes fest. Der große, gemütliche Hund ließ sich in den kühlen Sand sinken und hechelte vor sich hin.
»Erstaunlich, dass der so cool bleibt. Andere würden durchdrehen, wenn sie nicht rennen könnten.«
»Sasha ist ordentlich erzogen und auch kein Welpe mehr. Der hat schon ein paar Runden gedreht.«
»Echt?«
»Klar. Ich hab ihn schon, seit ich sechs bin. Er ist elf, also kein junger Hund mehr.«
»Oh, ich dachte echt, er wäre jünger.«
Lucien grinste verschmitzt. »Das macht seine agile Ausstrahlung und die gute Pflege.«
»Wahrscheinlich.«
»Ganz sicher, ich weiß, wovon ich rede. Schaumbäder und gemeinsame Duschen inklusive.« Der Rothaarige setzte sich auf eine der Schaukeln.
Mathieu machte große Augen und starrte den Anderen an. »Echt jetzt? Du und der Hund? Zusammen? Also ...«
Lucien zog eine Braue hoch und warf dem Blonden einen verwunderten Blick zu. »Zwanzig Piepen für deine Gedanken, Grantaine. Was denkst du denn, wie du einen Hund zum Duschen bekommst? Nur, wenn du mit rein gehst. Sonst ist dein Bad unter Wasser. Meinst du, ich geh nackt mit diesem Brummer in diese kleine Kabine? Sicher nicht! Wenn der die Panik bekommt, war ich die längste Zeit ein Mann.«
Mathieu presste die Lippen zusammen und seine Wangen röteten sich, bevor es aus ihm herausplatzte und er laut schallend zu lachen begann. Der Rothaarige schmunzelte und stieß sich ab.
»Freut mich, dass mein potentielles Eunuchentum dich so amüsiert.« Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und zuckte plötzlich, als Mathieu nach seiner Hand griff. Er strich über das Pflaster auf dem Handrücken und Lucien zischte. Er entzog dem Blonden seine Finger wieder und lächelte dann.
»Das tut noch weh.«
»Was hast du denn gemacht?«
»Ne Einstichstelle von ’ner Flexüle. Hatte sich ‘n bisschen entzündet. Wundheilung ist auch mal besser gewesen.«
»Eine Flexüle?« Mathieu sah ihm rundheraus ins Gesicht. »Warst du im Krankenhaus?«
Lucien nickte. »Die ganze letzte Woche. Bin gestern raus.«
»Oh«, der Blonde flüsterte es fast.
»Bitte nicht, Mathieu.«
»Was denn?«
»Nicht dieser Blick. Tu’ das nicht. Mir geht es gut. Ich kann diese Trauermiene nicht mehr ertragen.«
»Okay. Erzählst du mir, was passiert ist?«
»Ich bin abgeklappt, beim Frühstück. Poof, ohnmächtig, Krankenwagen, Blaulicht, meine Maman in Panik, dachte schon, es ist aus mit mir. Mein Vater um zehn Jahre gealtert. Ich hab mich drei Tage wie ein Fisch ohne Gräten gefühlt, völlig stoned und konnte kaum ‘nen Finger rühren. Wenn das Dahinvegetieren ist, dann spring’ ich lieber vom Dach, solange ich es noch selbst entscheiden kann, das sage ich dir.«
Mathieu kniff die Lippen zusammen und setzte seine Schaukel leicht in Bewegung. Er wusste, er brauchte nicht auszusprechen, dass es in Zukunft nur weiter bergab gehen würde mit Lucien. Dieser wusste es von allen am besten.
»Das ist beschissen«, murmelte der Blonde also nur und Lucien nickte zur Bestätigung.
»Ich wünschte, ich könnte wie Etienne an die Existenz eines Gottes glauben, dann könnte ich wenigstens um ein Wunder beten, doch so habe ich gar nichts. Nur die nackte Gewissheit, dass mir vielleicht noch ... was haben wir? November? Vielleicht noch ein Jahr bleibt. Vielleicht weniger. Ich will rennen, aber ich weiß, ich kann dem doch nicht entfliehen. Das ist so, als wäre man von Lava umgeben und es gibt kein Land mehr. Fliegen kann man nicht, also bleibt nur der Tod ...«
»Ich weiß nicht, was ich dir darauf sagen soll«, murmelte Mathieu bedrückt.
»Nichts. Ist schon gut«, lächelte der Rothaarige. Der Schulsprecher betrachtete den Anderen eine Weile. Nein, das war es nicht, das konnte er sehen. Doch dieser Trotzkopf war viel zu stolz, um es einfach rauszulassen.
»Mann, Grantaine, ich hab gesagt, glotz’ nicht so. Das turnt echt ab.«
Mathieu seufzte innerlich. Da war er wieder, der ganz normale Lucien, der alles und jeden wegbeißen konnte, zu cool für Gefühle war und den jeder insgeheim irgendwie bewunderte, weil er so stark wirkte. Doch das war er nicht, da war sich der Blonde sicher. Lucien ließ seine Schwäche bloß nicht zu. Um Hilfe zu bitten, und sei sie nur emotionaler Natur, kam für den stolzen Dickkopf nicht infrage.
»Ich wusste nicht, dass du angeturnt bist«, setzte der Blonde ein Grinsen auf, um die schwermütige Stimmung zu vertreiben.
»Andauernd. Du nicht? Ist das nicht der Fluch der Männlichkeit in unserem Alter?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Lucien lachte schnaubend. »Nein, du nicht. Du hast dich ja noch nicht mal selbst angefasst. Willst du mir weismachen, du bekommst nicht ständig einfach so ‘nen Ständer? Ich schon.«
»Eigentlich nicht«, lachte Mathieu. »Trägst du deswegen diese weiten Hosen?«
»Oder die viel zu engen«, grinste der Rothaarige.
»Aha. Zu viel Information, aber okay. Aber sollte es dann, wenn das so oft und unpassend passiert, nicht gut sein, wenn ich etwas tue oder sage, was dich abturnt?«
Die Lippen zu einem Schmollmund schürzend, warf der Rothaarige dem Anderen einen kecken Blick zu. »Na ja, eigentlich nicht.«
»Du flirtest, Walace.«
»Kann schon sein. Funktioniert es?«
»Schon.«
»Gut«, grinste der Rothaarige und stieß sich stärker ab, um schnell an Höhe zu gewinnen. Mathieu tat es ihm gleich und während der Himmel rasch dunkler wurde, genossen sie den auffrischenden Wind.
Nach einer ganzen Weile ließ Lucien die Schaukel ausschwingen. Die Zeiten, in denen er am höchsten Punkt hatte abspringen können, waren vorbei. Die Erschütterung würde seinen Tumor reizen, zu Kopfschmerzen führen und vielleicht Nasenbluten bringen. Er hopste herunter wie ein Frosch und kam sich auch genauso vor. Lächerlich.
»Oh Mann«, murmelte er enttäuscht und Mathieu konnte an seinem Gesicht erkennen, wie sehr er sein liebstes Spiel bereits jetzt vermisste. Murrend zog Lucien seine Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an, während er zum Sandkasten ging, in dem Klettergerüste eingebaut worden waren. Sasha hob die Ohren, erkannte sein Herrchen und legte seinen schweren Kopf auf die Vorderläufe zurück. Während Mathieu seine Schaukel ausschwingen ließ, rauchte der Rothaarige den Glimmstängel, dessen Minzgeruch bis zu dem Blonden herüberwehte.
Langsam stieg Mathieu ab. Abspringen hatte er sich schon als Kind nicht wirklich getraut. Er trat hinter Lucien und schob die Arme unter dessen Achseln durch, um ihm die Hände auf die Brust zu legen, bevor er seine Wange gegen die Schulter presste und die Augen schloss. Er spürte die kühlen Finger des Rothaarigen auf seinen und so standen sie einfach nur da.
Mathieu drehte das Gesicht zu Luciens Nacken und dessen duftige Haare kitzelten seine Haut, als er einen Kuss unter das Ohrläppchen des Rothaarigen hauchte. Lucien schnurrte leise und legte den Kopf zurück.
»Du riechst so gut«, murmelte der Blonde leise und strich weiter mit seinen Lippen über die Haut des Anderen. Lucien erschauderte, Mathieu konnte es spüren, und das versetzte ihm einen Kick, den er in seinem ganzen Körper spüren konnte. Er ließ die Hand über die Brust des Rothaarigen wandern und der ließ ihn gewähren, auch als Mathieu sein T-Shirt unter der geöffneten Jacke etwas anhob und seine Finger darunter glitten. Luciens Bauch war sehr viel wärmer als seine kalten Hände, samtig und von ein wenig weichem Flaum bedeckt.
Der Jugendliche brummte genüsslich, als der Blonde seine Lippen erneut an seinen Nacken legte und diesen mit feinen knabbernden und saugenden Liebkosungen bedeckte.
»Oh, hoppla«, kicherte er plötzlich. »Ich glaube, das war zu doll.«
»Was hast du gemacht?«, nuschelte Lucien ganz hingerissen.
»Ich glaub, das wird ein Knutschfleck.«
Erschrocken drehte der Rothaarige sich um und fasste sich an den Hals, bevor er zu lachen anfing. »Oops. Da zahlt es sich aus, dass die Haare so lang sind.«
»Auf jeden Fall«, Mathieu packte den Kragen von Luciens Jacke und zog ihn an sich. Mutiger als beim ersten Mal küsste er ihn und der Rothaarige ließ es sich gefallen, schnurrte wieder hörbar und legte dem Blonden seine Hände in den Nacken. Ihr Spiel ließ sie beinahe tanzen in der Dunkelheit und dem nur schemenhaften Licht der Straßenlaternen, die den Gehweg hinter den Bäumen säumten. Auf dem Spielplatz selbst war es dunkel.
So bemerkten sie die Kante des Sandkastens erst, als Lucien mit einem Bein den Halt verlor und mit dem Hintern voran hinein plumpste. Mathieu, der sich an ihm festgehalten hatte, fiel auf die Knie.
Sasha kläffte und die beiden Jungs brachen in Gelächter aus.
»Oops«, grinste der Rothaarige und zog den Anderen wieder an sich, um ihr Spiel fortzusetzen. Mathieu kroch näher und saß schließlich auf Luciens Schoß, eine ungewohnte und nicht weniger aufregende Nähe wie ihre Zusammenkunft eine Woche zuvor im Bett.
»Ngh, shit«, brummte der Rothaarige irgendwann.
»Was ist?« Mathieu, der das Gefühl hatte, dass sein Blut kochte, öffnete seine Jacke und zupfte sich am Kragen für etwas Erfrischung.
»Spürst du’s nicht?«
»Was?«
»Oh Mann, bin ich echt so klein, dass du das selbst dann nicht merkst, wenn du direkt da drauf sitzt?«
Mathieu bekam einen roten Kopf und kicherte. »Oh, das meinst du. Ja, das hab ich gemerkt.«
»Was machen wir nur immer ...« Lucien legte seine Stirn an die Brust des Schulsprechers und schmiegte seine Nase in dessen Shirt.
Mathieu fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare. »Es reicht noch lange nicht«, murmelte der Blonde verlegen und spürte, wie sein Herz einen Hüpfer machte bei diesem Geständnis. Doch es stimmte. Es konnte nie genug sein. Nie nah genug. Nicht mehr, seit er dieses Erlebnis mit Lucien hatte haben dürfen. Er, Mathieu, wollte noch viel mehr als das, was geschehen war.
»Du willst doch nicht ... also, ich meine, hier?« Der Rothaarige hob den Kopf und sah den Anderen überrascht an.
»Ich will schon. Aber nein, nicht hier. Da hängt uns hinterher der Sand sonst wo.«
Lucien prustete. »Ich dachte eher daran, dass es nicht gerade ... förderlich ist, wenn man jeden Moment von einem Nachtwächter erwischt werden könnte, aber deins ist natürlich besser, du hast Recht.«
»Das hab ich ziemlich oft und immer bist du überrascht.«
Der Rothaarige packte Mathieu bei den Hüften und ließ seine Hände etwas nach unten gleiten, bevor er ihn weiter auf seinen Schoß zog. Er keuchte leise und das führte dazu, dass es sich in der Lende des Blonden für einen winzigen Moment lustvoll zusammenzog und er sich auf die Lippe biss.
»Ngh, nein. Geh’ runter von mir, Grantaine. Ich muss sonst mit nassen Hosen heim«, kicherte Lucien, drückte dem Anderen einen letzten innigen Kuss auf und schob ihn dann von sich herunter. Schnaufend und schwer atmend ließ der Rothaarige sich nach hinten fallen und breitete die Arme aus.
»Das wäre ausgleichende Gerechtigkeit. Das letzte Mal musste ich es auch.«
»Und dieses Mal dann wir beide?« Lucien hob die Hand und legte sie provokativ und frech auf Mathieus Schoß, der leicht den Rücken versteifte und erschauderte, als die Finger des Rothaarigen leichten Druck auf seine Körpermitte ausübten.
»Oh ja. Da geht es nicht nur mir so. Gut zu wissen«, grinste Lucien. Der Blonde nahm die Hand und hielt sie fest. So lümmelten sie sich, der eine auf dem Rücken liegend und der andere im Schneidersitz daneben, ihre kochenden Gemüter und Körper herunterkühlend, doch nicht gewillt, sich bereits zu trennen.
»Ich muss wohl langsam heim. Ich sollte ja ein Medikament holen. Inzwischen ist meine Mutter bestimmt auch schon wieder da. Bäh, und Celeste und ihre Schrottmusik.«
»Dito. Nur ohne das mit der Musik. Sasha muss noch ein bisschen laufen und ich ...«, weiter kam Lucien nicht, als sein Magen laut knurrte. »Na, das eben. Medikamente muss ich auch noch nehmen. Damit ich keinen spastischen Aussetzer bekomme und mir versehentlich die Zunge abbeiße.«
»Autsch.«
»Total. Aber wenn ich dann nicht mehr reden kann, hast du etwas Ruhe«, kicherte der Rothaarige und in der nächsten Sekunde war Mathieu über ihm, der ihn frech angrinste.
»Oh, mach’ das nicht, ohne Zunge würde das hier nur halb so viel Spaß machen«, der Blonde senkte den Kopf und seinen Mund wieder auf Luciens Lippen, der nur zu willig darauf einging.