Ein hektisches Hupen irgendwo auf der Straße und das darauffolgende Kläffen Sashas, dem nun endgültig die Lust vergangen zu sein schien, auf sein Herrchen zu warten, riss die beiden Schmusenden erneut auseinander und murrend fiel Mathieu neben Lucien auf den kühlen Sand.
»Mann ey«, seufzte der Blonde und der Andere lachte leise.
»Wer hätte gedacht, dass ich den Tag noch erlebe, an dem Mathieu Grantaine einmal nicht genug von mir kriegen kann, anstatt mir die Pest an den Hals zu wünschen.«
»Dinge ändern sich, Quatschkopf«, grinste der Schulsprecher und setzte sich auf. Sand rieselte aus seiner Kapuze an seiner Schulter entlang und nachdem er aufgestanden war, zog er den Anorak aus und schüttelte ihn. Er hatte dennoch das Gefühl, dass das feine Material überall zu sein schien und das sogar ohne, dass die beiden Jugendlichen ihre Klamotten ausgezogen hatten. Der Sand war trotzdem überall.
Lucien tat es Mathieu nach und ging sogar so weit, trotz der durch die hereingebrochene Nacht abgefallenen Temperaturen, nicht nur seine Jacke auszuziehen und zu schütteln, sondern auch sein Shirt über den Kopf zu ziehen und sich vornüber gebeugt durch die Haare zu rubbeln.
Mathieu konnte nicht anders, er starrte den Rothaarigen an, sich kaum bewusst, wie dumm er dabei aussah, weil er nicht zu grinsen aufhören konnte.
»Mach’n Foto, Grantaine, dann hast du was, worauf du dir heute Abend einen runterholen kannst.«
»Nicht nötig«, gluckste der Blonde verschmitzt. Lucien zog sich wieder an und ging mit einem Lausbubengrinsen auf ihn zu. Ungerührt und nicht mit der Wimper zuckend legte er Mathieu die Hand auf den Schoß und drückte leicht zu.
»Sicher?«
Der Schulsprecher presste ein Keuchen hervor und schloss für einen Moment die Augen.
»Genieß’ es, Mathieu. Versuch’s. Ich tu’s auch«, flüsterte der Rothaarige ihm ins Ohr, was den Anderen noch mehr erschaudern ließ.
»Du bringst mich auf Abwege«.
»Und das mit Vergnügen. Hab’ Spaß, solange du kannst.«
Der Blonde nahm Luciens Hand und lachte leise und trocken, es klang freudlos. »Du bist vielleicht ein Stimmungskiller.«
»Das war nicht meine Absicht.« Mit einem Gesicht, das Bedauern auszudrücken schien, zog Rothaarige ein Päckchen Kaugummis aus der Tasche und bat Mathieu gewohnheitsgemäß eins an, der es zum ersten Mal annahm.
»Agh, die sind ja richtig scharf«, keuchte er leise, als er die ersten Bisse getan hatte und Lucien lachte.
»Weichflöte. Das vergeht gleich, kommt vom Gewürz.«
»Wie kommt man von normalen Kaugummis auf die hier?«
Schulterzuckend schloss der Rothaarige seine Jacke und strich sich die vom Ausschütteln aufgebauschten Haare glatt. »Keine Ahnung. Ich finde Fruchtkaugummis eklig, davon bekommt man nur Mundgeruch. Ich mag einfach den Geschmack von denen hier.«
Mathieu lächelte. »Meine Mutter hat irgendwann neulich Milchreis gemacht und als sie den Zimt auf den Tisch gestellt hat, dachte ich, du wärst im Raum, ich war total verpeilt. Ich kann nie wieder diesen Duft riechen, ohne an dich zu denken.«
Lucien lächelte sanft, ein Ausdruck, den der Blonde in seinem Gesicht nur selten je gesehen hatte.
»Das ist gut. Gerüche speichern Erinnerungen im Gehirn besser als es ein Bild je könnte. Hab ich mal in ner Doku gesehen, als ich krank war.«
»Ha, du hast etwas gelernt und das ganz unfreiwillig.«
Der Rothaarige schürzte die Lippen und wandte sich ab. »Ich bin kein Trottel, okay?«
»Das hab ich auch nicht gesagt.«
Brummend ging Lucien zu seinem Hund, der bereits saß und mit dem Schwanz wedelte und Mathieu wurde das Gefühl nicht los, dass ihr zärtliches Rendezvous durch den Stimmungsumschwung des Anderen offiziell beendet wurde. Ob das an dem Tumor lag, dass Lucien so schnell von einem ins andere Extrem kippte? Eben noch verschmust und jetzt wieder so abweisend und bockig wie immer? Oder lag es ganz einfach an Mathieu selbst und den Rothaarigen trat bereits wieder das Bedauern darüber, was sie hier getan und nicht getan hatten? Innerlich seufzend musste sich der Blonde jedoch eingestehen, dass Lucien eigentlich schon vor seiner Erkrankung so sprunghaft und unberechenbar gewesen war.
»Mein Guthaben für deine Nettigkeit ist aufgebraucht, hm?«, fragte Mathieu murmelnd und schlug den Kragen hoch. Es wurde allmählich wirklich frisch und ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es fast halb Neun war. Wie lange waren sie hier zugange gewesen?
Verwundert drehte der Rothaarige sich zu ihm herum. »Wie? Oh. Nein, ich ...«, Lucien hickste und schlug sich die Hand vor den Mund. Er war selbst im diffusen Licht deutlich blasser geworden und wankte.
Mathieu ging zu ihm und stützte ihn, nur leicht, damit sich der Andere nicht dumm vorkam. »Alles okay?«
Lucien schob ihn weg, machte ein paar Schritte und erbrach sich auf einen Grünstreifen. »Oh Gott«, keuchte er hinterher und schnaufte. Er spuckte aus und rieb sich über das Gesicht, bevor er sich wieder zu dem Blonden herumdrehte, der ihn besorgt ansah.
»Der Kaugummi ist hin«, versuchte sich Lucien an einem Scherz, doch Mathieu war nicht danach, auf diesen einzugehen. Es traf ihn noch immer wie ein Hammerschlag, wann immer er die Anzeichen der Krankheit live miterleben musste. Lucien sah doch nicht krank aus. Warum geschah das mit ihm? Welches böse Schicksal hatte er auf sich geladen, um das zu verdienen? War das alles bereits vor seiner Geburt in seiner DNA eingespeichert gewesen und er hatte von vornherein keine Chance gehabt?
Auch Mathieu glaubte nicht an Gott und dass der Rothaarige von ihm den Tumor bekommen hatte. Genauso wenig glaubte der Blonde an Wunder. Das alles war nichts weiter als ein krankes biologisches Russisch-Roulette und Lucien hatte verloren.
Der spuckte ein weiteres Mal und schob sich ein neues Kaugummi in den Mund. »Pfui, also der Hunger ist mir vergangen«, nuschelte er.
»Iss’ trotzdem etwas, wenn du zuhause bist.«
»Ja, Mami.«
»Ich mein’s ernst, okay?«
Lucien lächelte. »Ich versprech’s. Ach ja, da fällt mir ein ...«, er zog sein Handy aus der Hosentasche und wischte brummend etwas Sand davon ab. »Mann, der ist echt überall. Mum wird bestimmt fragen, wo der herkommt. Hier.« Der Rothaarige reichte Mathieu das Smartphone.
»Und was soll ich jetzt ...?«
»Grantaine, du Eierkopp, das ist doch nicht schwer. Gib’ mir deine Nummer.«
»Oh«, machte der Blonde verlegen und Lucien lachte.
»Du bist eine Blitzbirne. Du hast doch selbst gesagt, du hast meine Handynummer nich’, also tauschen wir die jetzt aus. Damit du, wenn du nach dem nächsten Treffen mit meiner Maman einfach abhaust, hinterher wenigstens um Verzeihung bitten kannst.« Der Jugendliche kicherte. Sein Unwohlsein schien sich durch das Erbrechen gebessert zu haben, doch Mathieu war sich nicht sicher, ob das nicht alles nur Fassade war. Er wusste nicht, woran es lag - vielleicht war Luciens Lachen einen Ticken zu laut oder er ein bisschen zu sorglos.
Der Blonde wollte ihm versichern, dass er auch Schwäche zeigen konnte bei ihm, dass er schreien und heulen und fluchen konnte, wenn er das einmal brauchen sollte. Doch Mathieu wusste nicht, wie er das dem Rothaarigen sagen sollte, ohne dass der ihn dafür biss. Lucien war zu stolz, um zuzugeben, dass er traurig war und seit dem Kindergarten hatte der Blonde ihn nicht mehr weinen sehen. Die zwei Tränen, als er damals in der Jungentoilette nicht mehr hochkam, zählten für Mathieu nicht.
»Hat ... hat sie eigentlich irgendwas deswegen gesagt? Ich war sehr unhöflich, das tut mir leid«, murmelte er, während er auf dem Handy herumtippte. Lucien hatte ein gemalt wirkendes Bild eines stimmungsvollen Sonnenuntergangs als Hintergrundbild und aus einem unerfindlichen Grund überraschte das den Blonden. Irgendwie hatte der nämlich immer gedacht, es wäre ein Pin-up auf einem Motorrad oder etwas anderes Rockiges.
»Oh, bestimmt. Aber nicht zu mir.«
»Soll heißen?«
»Dass sie meinem Vater bestimmt die wildesten Geschichten erzählt hat, nachdem du mir den Rücken zerkratzt hast.«
Mathieu ließ rot an. »Tut mir leid.«
»Oh, bitte, entschuldige dich nicht. Das war geil.« Lucien kicherte und nahm das Telefon zurück, wählte die frisch eingespeicherte Nummer und in Mathieus Jackentasche begann es, zu vibrieren.
»Ich hab nie begriffen, wie Leute es schaffen, keine Telefonate zu verpassen, wenn ihr Handy nur brummt«, kommentierte der Rothaarige das surrende Geräusch und beendete den Anruf.
»Wie oft benutzt du dein Smartphone tatsächlich zum telefonieren? Ich so gut wie gar nicht. Allerdings auch kaum für sonst was«, murmelte Mathieu und versah die unbekannte Nummer mit Luciens Namen.
»Ich benutz’ es nur zum Texten und für Musik. Die ganzen Apps wie Facebook hab ich runtergeworfen. Dafür hab ich ‘nen Computer zuhause. Am Smartphone frisst’s nur Akku und wenn ich Videos von Katzenviechern seh’n will, brauch‘ ich das nicht über Fratzenbuch.«
»Wie nett du bist«, schmunzelte der Blonde. Luciens Hiebe auf Mathieus Lieblingstiere würden niemals aufhören.
»Ich weiß, Minou, extra für dich.«
Sie standen sich einander anlächelnd gegenüber, bis Sasha sie wieder erinnerte, dass er auch noch da war.
»Oh. Okay, ich glaub, allmählich sollten wir wohl wirklich. Es wird langsam kalt und ich hab nicht meine dickste Jacke an.« Der Rothaarige erschauderte und zog sich die Kapuze über die Haare.
Sie verließen das Gelände wieder und Mathieu, der sein Rad am Zaun festgekettet hatte, schloss es auf, während Lucien sich eine Zigarette ansteckte.
Gemeinsam, zufrieden schweigend, gingen sie nebeneinander her und erst, als sie vor der Apotheke angekommen waren, bemerkte der Rothaarige, dass der Schulsprecher ihn nach Hause gebracht hatte.
»Was war das denn, Grantaine?«
»Ich hatte nicht das Gefühl, dass du es schlimm fandest«, grinste Mathieu. »Ich ... wollte nur, dass du nicht unterwegs noch mal ... wie vorhin ...«
»Nett von dir. Aber unnötig. Ich bin keine Jungfrau in Nöten.« Lucien folgte dem Gehweg weiter und ging so hinter das Haus auf den Innenhof, wo Sashas überdachter Auslauf war und einige Autos standen. Die Fenster waren erleuchtet, doch das Licht reichte kaum bis auf den kleinen Platz.
Mathieu lehnte das Rad an das Haus und folgte dem Rothaarigen. »Ich weiß. Aber ist es so schlimm, dass ich mitgekommen bin?« Er versteifte den Rücken etwas, als Lucien die Leine des Rottweilers löste und der große Hund herumzulaufen begann. Der Rothaarige drehte sich zu Mathieu um und sah ihm mit strengen Brauen ins Gesicht.
»Ich will kein Mitleid. Selbst ... nein, erst recht nicht von dir!«
Der Blonde presste die Lippen zusammen. Kaum waren sie einen Schritt weiter gekommen, machte Lucien drei zurück.
»Aber es ist schön, dass du da bist«, ergänzte der Rothaarige etwas weniger bissig und lächelte. »Entspann’ dich, Mathieu. Ich hau’ dir schon keine rein oder so.«
»Das ist bei dir schwer zu sagen, du«, murmelte der Schulsprecher und sah auf, als er den Anderen lachen hörte.
»Du hast recht. Früher war das so. Als ich mich noch schlagen konnte und das schlimmste, was ich davon bekam, Nasenbluten und eine Woche Nachsitzen war. Heute heißt es eher ‘ne Woche Krebsstation.«
Mathieu presste die Lippen aufeinander.
»Hör’ auf!«, zischte Lucien.
»Das sagt sich so leicht«, flüsterte der Blonde matt. »Ich kann nicht ... so tun, als wäre das nicht da. Ich ...«
Der Rothaarige verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Anderen, bevor er schließlich auf ihn zuging und ihn an sich zog. Im Schlagschatten des mattgelben Lichts, das die Straßenlaterne vom Gehweg spärlich auf den Innenhof warf, standen sie und umarmten einander. Niemand hätte sie gesehen, der nicht direkt auf sie geachtet hätte. Mathieu krallte seine Finger in Luciens Jacke und drückte sein Gesicht an dessen Schulter, sog den Duft ein, den er mehr und mehr zu mögen begann und empfand ein Wühlen in seinem Magen, das sich furchtbar anfühlte. Doch er spürte auch den sanften Druck, den die Arme des Anderen um ihn ausübten. Lucien tat nicht nur so, er hielt ihn, Mathieu, tatsächlich fest.
»Fahr’ nach Hause, Grantaine, bevor du noch die Hucke voll bekommst. Ich bin jetzt versorgt«, flüsterte der Rothaarige ihm ins Ohr und seine Lippen strichen leicht nur über Mathieus Haut.
»Bekomm’ ich nen Gute-Nacht-Kuss?«
Lucien lachte leise. »Ein andermal. Wenn ich mir die Zähne geputzt habe, okay?« Er schmeckte den komischen Geschmack seines Erbrechens noch immer irgendwie, auch wenn der neue Kaugummi das meiste verwaschen hatte.
»Ach, ja«, lächelte der Blonde leicht und rieb sich mit dem Ärmel seiner Jacke über das Gesicht. »Okay. Denk’ dran, du hast versprochen, was zu essen.«
»Ja, Mutti. Ich bin dabei. Inzwischen hab ich auch wieder Hunger. Also hau’ schon ab, bevor dein Alter dir den Arsch aufreißt, wohin du vier Stunden verschwunden warst.«
Der Blonde nickte und Lucien sah ihm nach, als er den Hof verließ und konnte hören, wie Mathieu auf sein Rad stieg. Er stieß dabei an die Klingel. Leise seufzend drehte sich der Rothaarige herum und verfrachtete Sasha in seinen Auslauf, nachdem er ihn noch ein paar Minuten lang seinen Ball hatte jagen und apportieren lassen.
»Bis morgen, Dicker. Da gehen wir an den Strand, was sagst du?« Ein dröhnender Kläffer war die Antwort und der Jugendliche grinste, verriegelte alles und betrat anschließend das Wohnhaus durch die Hintertür. Die Geräusche der Menschen, die hier lebten, drangen gedämpft durch die Wohnungseingänge und oben im zweiten Stock angekommen, öffnete er die Tür zu seinem Zuhause.
Es duftete nach Abendessen und Lucien legte sich die Hand auf den Bauch. Sein Magen zog sich zusammen. Das Erbrechen hatte dazu geführt, dass sein Hunger nur noch schlimmer geworden war.
»Na, wo kommst du denn jetzt her? Es ist weit nach Neun.«
»Spazieren«, murrte Lucien und warf sich in der Küche auf einen der Stühle. Muriel musterte ihn.
»Ist was passiert?«
»Hm, ich verteile mich stückchenweise über ganz Biarritz. Ich hab auf den Spielplatz der Grundschule gekotzt. Aber sonst ist alles cool.«
»Umso besser, dass es Abendessen gibt. Eintopf. Was Leichtes. Das tut deinem Magen gut.«
Der Rothaarige nickte und richtete sich wieder auf. Er brühte sich einen Kamillentee und lehnte mit dem Gesäß an dem Beistelltisch, auf dem Kaffeemaschine, Wasserkocher und Toaster standen, während seine Maman in ihrem Kompaniekochtopf rührte. Der Jugendliche fragte sich, wer das alles essen sollte, jetzt wo sein Vater wieder im Dienst war. Er hatte nur eine Woche frei gehabt und die hatten sie fast ausschließlich im Krankenhaus bei ihrem Sohn verbracht. Lucien hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, dass der Urlaub seiner Eltern, in dem sie sich hätten entspannen sollen, so katastrophal für sie geworden war.
Er wollte sich entschuldigen, doch er wusste, dass es ohnehin keinen Sinn machte. So etwas würde in Zukunft noch häufiger vorkommen. Womöglich würde seine Mutter irgendwann eine unbezahlte Auszeit nehmen müssen, wenn Lucien sich nicht mehr selbst würde helfen können. Denn der wollte unter keinen Umständen in ein Hospiz und seine Maman hatte ihm versprochen, dass das auch nicht geschehen würde.
Für einen Moment schloss er die Augen und verstand das Gefühl, das bei Mathieu unten auf dem Hof zu dem Gefühlsausbruch geführt hatte. Es war hoffnungslos ... Lucien war bereits nichts weiter als ein Geist mit Hülle.