Mathieu musste sich den Rest des Tages extrem zusammenreißen, um nicht die ganze Zeit zu grinsen oder vor sich hin zu summen. Doch es fiel ihm schwer, in den verbleibenden Stunden nicht andauernd zu Lucien herüber zu sehen, der wie immer mit mäßigem Interesse den Unterricht verfolgte und lieber mit Etienne Käsekästchen spielte.
Der Schulsprecher wusste nicht, ob es an den neuen Begebenheiten lag, doch der Rothaarige erschien ihm noch attraktiver als vorher.
Mathieu ertappte sich in der Mathestunde dabei, wie er seufzte, als Lucien sich die Haare aus dem Gesicht strich. Das erregte sogar die Aufmerksamkeit seiner Banknachbarin Anais, die ihn besorgt ansah und ihm die Hand auf den Arm legte.
»Geht’s dir gut?«
»Huh? Wie? Oh. Oh, ja. Alles gut. Ich hab nur an was Dummes gedacht«, murmelte der Schulsprecher und achtete genau darauf, dass der Lehrer, Monsieur LeBear, ihn nicht beim Reden ertappte. Einen weiteren Spruch über seine amourösen Verwicklungen konnte der Blonde nicht gebrauchen, denn er wusste nicht, ob er dann würde verhindern können, dass er mit einem dämlichen Grinsen zu Lucien sah.
Das Mädchen musterte ihn abschätzend und der Jugendliche glaubte fast, die Rädchen in ihrem Kopf zu hören. Hatte sie das schon immer getan? Ihn so angesehen? Ein komisches Gefühl breitete sich in Mathieus Magen aus und er wandte den Blick ab.
»Du würdest mir sagen, wenn etwas wäre, oder?«, hauchte das Mädchen neben ihm so leise, dass nur er es hören konnte.
»Natürlich«, erwiderte der Blonde, dachte aber gleichzeitig, dass er Anais beispielsweise nie erzählen würde, was sich bei ihm zu Hause manchmal abspielte. Nicht, weil er das Mädchen nicht mochte, sondern eher, weil er dachte, sie damit zu belasten wäre nicht fair. Oder vielleicht reichte auch einfach sein Vertrauen zu ihr nicht aus. Sie waren gute Schulkameraden, doch außerhalb hatten sie außer Klassenfahrten und Ausflügen nicht viel miteinander zu schaffen.
»Ich glaub’ das jetzt einfach mal«, murmelte Anais und in der nächsten Sekunde zuckten beide heftig zusammen, als das Heft von Monsieur LeBear mit einem lauten Klatschen auf ihre Bank aufschlug.
»Na, die Herrschaften? Was gibt es hier so Spannendes zu tuscheln, dass es nicht bis nach dem Unterricht warten könnte? Wollt ihr uns darüber aufklären, damit wir es alle wissen?«
Mathieu presste die Lippen zusammen. »Nichts. Entschuldigung.«
»Das rate ich euch. Das nimmt langsam Überhand, Grantaine!«
Der Jugendliche seufzte innerlich. Tat es das? Weil er einmal nicht das Bild des perfekten Schülers erfüllte, der einfach nur da saß wie eine Puppe, mitschrieb, nicht redete und nur funktionierte?
Er zuckte zusammen, als ihn ein Papierknäuel am Kopf traf. Etienne und Lucien lachten und Monsieur LeBear wandte sich den bekannteren Störenfrieden zu. Mathieu sah über seine Schulter zu ihnen und glaubte, den Rothaarigen kurz verschwörerisch zwinkern zu sehen.
»Es war so klar, dass die sich daraus wieder einen Spaß machen«, brummte Anais missbilligend und hob den Zettel auf, der unter dem Stuhl des Blonden gelandet war. Mathieu griff danach. Nicht auszudenken, wenn Lucien irgendetwas da drauf geschrieben hatte und sie es las!
Doch das Blatt war leer. Lediglich ein paar Partien Käsekästchen waren darauf gekritzelt. Erleichtert knüllte der Blonde es zusammen und legte es an den Rand, um es später wegzuwerfen.
Inzwischen hatten Lucien und Etienne sich ebenfalls eine Rüge vom Mathelehrer eingehandelt und dieser fuhr damit fort, die Arbeitsblätter, die über die Ferien als Hausaufgabe auf gewesen waren, zu besprechen.
Als er diese einsammeln wollte, um sie zu benoten, stoppte er erneut vor der Bank des Rothaarigen.
»Was soll das heißen, du hast es nicht gemacht? Ich hatte Grantaine aufgetragen, es dir zu bringen!« LeBear zupfte angefressen den Zettel aus Etiennes Fingern und musterte Lucien bärbeißig.
»Ich weiß. Er hat’s auch gebracht, aber ich hab’s nicht gemacht.«
»Ach, und darf ich fragen, warum nicht? Was war denn so unermesslich wichtig, dass du eine Hausaufgabe hast ausfallen lassen?«
Lucien schürzte die vollen Lippen und schwieg. Er würde sich eher die Zunge abbeißen, als dem Walross zu sagen, dass er im Krankenhaus gewesen war und über die Unpässlichkeiten die Schularbeiten vergessen hatte.
»Keinen Bock«, knurrte er schließlich und kassierte einen bösen Blick des Lehrers.
»Ja, das ist die Standardantwort. Dafür gibt’s null Punkte, Walace.«
»Von mir aus.«
»Unglaublich.«
Lucien verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, das denke ich auch immer, jedes Mal, wenn ich mich im Spiegel anschaue.« Er kräuselte die Lippen und einige der anderen Schüler lachten. Selbst Mathieu musste grinsen.
»Das wird dir später viel weiterhelfen, dass du weißt, wie ein Spiegel funktioniert«, schnarrte Monsieur LeBear und ordnete die Arbeitsblätter, bevor er sie in eine Mappe legte.
»Bei allem Respekt, aber Sie werden bezahlt, um uns Aufgaben zu erteilen. Ich krieg’ fürs Erfüllen aber nix, also hab’ ich’s nicht gemacht. Wer braucht in seinem Leben später Lineare Algebra, bitte? Und kommen Sie jetzt nicht mit der Antwort ‘Wenn ihr mal Dachdecker werden wollt’. Selbst die brauchen das nicht.«
»Treib’s nicht zu weit, Walace. Deine Spielchen ziehen bei mir nicht.«
Lucien zuckte mit den Schultern und rutschte etwas in seinem Stuhl nach unten. Er hatte ohnehin keine Lust mehr, das Walross zu foppen. Viel mehr wollte er eine Pause, eine Tablette und was zu rauchen. Er warf einen Blick zu Mathieu, ohne wirklich den Kopf zu bewegen. Vielleicht eine Runde Rummachen mit ihm, das wäre auch keine schlechte Idee. Die Glückshormone, die sein Körper in solchen Momenten zu produzieren schien, nahmen dem Rothaarigen die Schmerzen.
Lucien schloss die Augen und lehnte den Kopf nach hinten. Nur noch diese Stunde aushalten und er würde endlich abhauen können.
.
Mathieu seufzte, als er im Zimmer der Schülervertretung die Unterlagen einheftete, die in der Unterrichtszeit in seinem Fach eingetrudelt waren. Unzählige Entschuldigungen von Schülern aus der Oberstufe, Listen und Vorschläge für die Schulweihnachtsfeier, sogar einen Plan über die möglichen Stücke der Theater-AG, obwohl ihn das gar nichts anging.
Er blätterte sich flink durch die Entschuldigungsschreiben und sortierte sie, während das Gewusel auf dem Korridor allmählich leiser wurde.
Als die Tür hinter ihm mit einem Knall ins Schloss fiel, zuckte Mathieu zusammen und schnitt sich am Papier. Fluchend steckte er sich den Finger in den Mund und drehte den Kopf herum, um herauszufinden, welcher Trottel ihn so erschreckt hatte.
Lucien, selbst zusammengezuckt und mit hochgezogenen Schultern, stand da und starrte die Klinke an.
»Ich hätte es wissen müssen«, knurrte Mathieu und zog die Augenbraue hoch.
»Shit, der Luftzug war wohl doch stärker als ich dachte.« Der Rothaarige sah den Anderen an. »Aber was soll’s. So denken sie gleich, wir zanken uns. Umso besser. Hast du dir was getan?«
Mathieu hielt den Finger hoch. »Geht schon wieder.« Lucien ergriff die Hand und drückte einen Kuss auf die Innenfläche, bevor er den Kopf hob und lächelte.
»Hallo«, sagte er überflüssigerweise.
»Hallo«, grinste der Blonde. »Kann ich was für dich tun?«
»Ich denke schon.« Lucien trat näher an Mathieu heran und hielt dessen Hand fest. Er beugte sich ihm entgegen, doch dann stoppte der Rothaarige und sah verlegen aus. »Ist ... ist es okay? Darf ich?«
»Ich weiß nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll, dass du plötzlich fragst. Aber ja, es ist okay. Mehr als okay.« Der Schulsprecher schob seine Finger in Luciens Haare und zog ihn an sich. Der Rothaarige überwand seine scheinbare Scheu so schnell, wie sie aufgekommen war und schob Mathieu an den Tisch, wo er die Hüften des Anderen packte und ihn auf die Platte setzte. Dass er dabei die sortierten Papiere durcheinander brachte, war ihm egal und auch den Schulsprecher kümmerte es nicht. Alles, was zählte, waren der Kuss, der köstliche Geschmack von Zimt und der aufregende Duft von Luciens Parfum.
»Hmmm«, nuschelte dieser nach einer Weile, »Wie hab’ ich das seit heute Morgen ausgehalten? Warum verbringst du deine Pausen hier in dem Kabuff, sag mal ...«
»Soll ich mich draußen zu euch stellen und am besten noch deine Hand halten oder wie stellst du dir das vor?« Mathieu kicherte leise und kraulte Luciens Nacken.
»Nein, aber ...«, der Rothaarige zog eine seiner dunklen Brauen hoch, »Du hast gar keine richtigen Freunde, oder? Ich hab’ nie darüber nachgedacht ...«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich müsste nur etwas mehr Initiative zeigen. Aber ich hab so viel zu tun, da hätte ich eh keine Zeit.«
Der Rothaarige musterte Mathieu. »Anais wäre gern mehr als nur deine Schulfreundin«, murrte er spröde und presste die Lippen zusammen.
»Wie?«
»Hast du das nicht bemerkt? Sie steht auf dich. Macht es nur subtiler als deine Schwester - oder eigentlich gar nicht, denn sie steht nur herum und schmachtet dich an, die kleine Trantute.«
Der Schulsprecher legte den Kopf schief und lächelte. »Und du bist eifersüchtig, weil du mir das so direkt sagst?«
»Pfff, keine Schwachheiten, Grantaine.«
»Schade.«
»Natürlich bin ich das, Mann! Immerhin wäre es mit ihr viel leichter als ... mit mir.«
Mathieu lachte. »Ich weiß. Du benimmst dich wie ein knurrender Hund, irgendwie fühlt sich das gut an. Und ich will nichts Leichtes, ich will das, was sich für mich richtig anfühlt und das bist du. Wie du schon sagtest - ich kann dich gut riechen und wenn die Chemie stimmt, im wahrsten Sinne, dann ...«
»Dann?«
Grinsend packte der Blonde Lucien wieder in den Nacken und zog ihn an sich. Rasch vertiefte sich ihr anfänglich sanftes Geknutsch und intensivierte sich. Mathieu schnaufte und ließ seine Finger über den Rücken des Anderen wandern, der ihn an der Hüfte gepackt hatte und dessen kühle Finger durch den Stoff des Hemds, das Mathieu trug, zu spüren waren.
Die Wangen des Blonden röteten sich und er konnte spüren, wie sein rasender Puls seine Körpertemperatur steigen ließ. Alles in ihm reagierte auf die wachsende Erregung und ging praktisch auf Gefechtsstation.
»Shit, ich bin hart«, platzte da Lucien in die Gedanken Mathieus und dieser zog ihn nur enger an sich.
»Ich auch, egal.«
Gänsehaut kroch über den Körper des Rothaarigen, als der Andere seine Hand am Rücken unter seinen Pulli schob. Lucien hätte nie damit gerechnet, dass Mathieu so forsch sein konnte. Aus einem Grund, der dem Jugendlichen nicht mehr einfallen wollte, hatte er immer geglaubt, der Blonde wäre ein zartes Blümchen, das erobert und auch ein Stückweit dominiert werden wollte - auch von einer potentiellen Freundin. Er hatte einfach immer so gewirkt - schüchtern und zurückhaltend.
Doch nun war sich der Rothaarige da nicht mehr so sicher. Mathieu hatte bereits zum zweiten Mal die Initiative ergriffen und die wilde Küsserei ins Rollen gebracht, nicht nur jetzt im Schulsprecherzimmer, sondern auch an diesem Abend auf dem Spielplatz. Und wer wusste schon, was passieren würde, wenn sie nicht gerade in der Schule wären, in einem Raum, dessen Tür nicht abgeschlossen war. Allein die Vorstellung davon befeuerte Luciens Erregung und er erschauderte spürbar.
Mühsam, fast schon mit Anlauf musste sich der Jugendliche von dem Anderen loslösen und atmete tief durch, bevor er Mathieu ansah. Dessen honigfarbene Augen waren dunkler geworden und blitzten, während seine Wangen in einem lebhaften Rosaton glühten. Seine Brust hob und senkte sich, als hätte er einen 100-Meter-Lauf hinter sich.
»Gott, was machst du nur mit mir?«
»Ich?«, lachte Mathieu auf und hopste vom Tisch. »Es bin ja wohl nicht nur ich allein.«
»Guck’ dir das an, Mann!«, Lucien deutete nach unten.
»Heute wohl die falsche Hose an, hm?«
Die Augen etwas zusammenpressend, grinste der Rothaarige den anderen an und streckte ihm die Zunge heraus. Mathieu machte Anstalten, Luciens Gürtel zu packen und ihre Schmuserei fortzusetzen, als es an der Tür klopfte.
»Ho, shit!«, keuchte der Rothaarige leise.
»Ja, bitte?«, beantwortete der Schulsprecher das Klopfen mit fester Stimme, als würde sein Körper nicht in Flammen stehen und als würde der Bittsteller nicht massiv stören.
Lucien straffte die Schultern, zog seine Jacke zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust, um den üblichen Eindruck ablehnender Rotzigkeit zu machen, den er all die Jahre Mathieu gegenüber zur Schau getragen hatte. Was hier wirklich geschehen war, musste niemand wissen.
Anais betrat den Raum, machte einen Schritt hinein und bemerkte, dass der Schulsprecher nicht allein war. Ihr Blick ging zwischen den beiden Jungen hin und her und Mathieu schaltete, bevor das Mädchen sonstwelche Schlüsse ziehen konnte.
»Denk’ bitte einmal von allein an diese blöde Entschuldigung. Nur weil Ferien waren, heißt es nicht, dass du sie nicht abzugeben hast!«, knurrte er Lucien an, der vollkommen natürlich in seine gewohnte Abwehrhaltung verfiel.
»Ach, wisch’ dir doch mit dem Ding den Arsch ab, Alter.«
»Das kann ich erst, wenn ich es habe. Morgen! Hier!« Der Blonde hielt dem Anderen eines der Formulare hin und Lucien riss es ihm förmlich aus der Hand. Brummend hob er den Rucksack wieder auf, den er zuvor hatte fallen lassen, und stopfte den Zettel hinein. Mit einem letzten Schnauben, das oscarverdächtig war, wandte der Rothaarige sich von Mathieu ab und baute sich vor Anais auf, die die Tür versperrte.
»Geh’ mir aus dem Weg, Prinzessin!«
Diese zuckte unter den dunkelgrauen Augen zusammen und obwohl sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr vor Leuten wie Lucien Walace zu kuschen, beeilte sie sich, Platz zu machen.
»Morgen, Lucien!«, rief der Schulsprecher ihm nach, doch bekam nur einen hochgehaltenen Mittelfinger zur Antwort. Innerlich feierte Mathieu ihre kleine Show, denn der Blick, den Anais dem Rothaarigen nachwarf, war alles andere als freundlich. Sie hatte Lucien noch nie sonderlich gemocht und machte auch keinen Hehl daraus - zumindest Mathieu gegenüber nicht. Ansonsten bemühte sie sich immer, möglichst freundlich zu erscheinen.
»Das ist so ein Arsch, echt«, fauchte sie und wandte sich zu dem Schulsprecher herum.
»Brauchst du was?«, fragte dieser und schob die Papiere wieder zusammen, bevor er sie lochte und in den Ordner steckte.
»Ich hab’ meine Sachen hier im Schrank gelassen. Und wegen der Hausaufgaben brauch’ ich ja die Bücher, also ... sonst wäre ich schon lange weg.«
So ein Jammer, dachte Mathieu insgeheim und seufzte innerlich. Sein Körper hatte sich durch den Schreck längst wieder beruhigt, aber vergessen hatte der Jugendliche das reißende und aufregende Gefühl nicht. Wie sollte er auch, wenn es ihn sogar bis in seine - unanständigen - Träume verfolgte? Was war das nur, dass er zum ersten Mal seit Beginn seiner Pubertät so intensiv empfand?
»Mathieu?«
Der Jugendliche zuckte zusammen. »Ja?«
»Du bist heute irgendwie neben der Spur, oder?«
Das lag vermutlich daran, weil zu viel seines Blutes zu schnell in Richtung Süden gewandert war und sein Gehirn sich noch nicht von diesem Schreck erholt hatte, dachte der Blonde. Innerlich über sich lachend, schüttelte Mathieu den Kopf.
»Irgendwie nicht. War was?«
»Ich hab’ dir nur ‘nen schönen Nachmittag gewünscht«, lächelte Anais. Sie fragte sich wirklich, was heute mit dem Schulsprecher los war, der sonst nie unaufmerksam war. Das ging ihr schon seit dem Morgen im Kopf herum.
»Oh, ja, natürlich. Dir auch.«