Sie waren tatsächlich eingeschlafen und als Lucien einige Stunden später wieder erwachte und auf die Uhr sah, erschrak er heftig und zuckte zusammen.
Es war nach Sieben! Sie hatten fast vier Stunden gepennt und seine Maman würde sicher jeden Moment nach Hause kommen. Lucien konnte sich vorstellen, was es geben würde, wenn sie einen schlafenden Jungen im Bett ihres Sohnes vorfand.
»Hey, Mathieu«, knuffte der Rothaarige den Anderen leicht an, während er nach der Wasserflasche hangelte, um den komischen Geschmack im Mund zu vertreiben.
»Hmmm«, brummte der Blonde und rollte sich etwas enger zusammen.
»Komm schon, Mann, meine Mum kommt gleich.«
Mathieu öffnete die Augen und in der schummrigen Dunkelheit von Luciens Zimmer wirkten sie unglaublich hell. »Oh!«, machte er, rieb sich über den Kopf und streckte sich.
»Hier.« Lucien hielt ihm die Flasche hin und grinste.
»Wie spät?«
»Fast halb Acht. Wenn sie nicht noch was einkaufen fährt, ist sie bald ran«, just in der Sekunde, in der der Rothaarige seinen Satz beendet hatte, hörten sie das verdächtige Geräusch eines Schlüssels in der Wohnungstür. Lucien japste und Mathieu hatte das unangenehme Gefühl, etwas furchtbar unanständiges getan zu haben, obwohl das gar nicht zutraf.
»Lucien?«, rief Madame Walace durch den Flur.
»Shit«, zischte dieser, »schnell, versteck’ dich hier. Ich bin noch nicht bereit, meiner Mum das hier zu erklären.«
»Versteh’ ich voll und ganz«, flüsterte Mathieu zurück und kauerte sich in den schmalen Freiraum zwischen dem Regal an der Wand unter dem Fenster und dem Bett. Gerade rechtzeitig, denn Muriel Walace öffnete in der Sekunde die Tür und schaltete das Licht im Zimmer ihres Sohnes ein. Der presste reflexartig die Augen zusammen, denn es war zu hell.
»Nanu? Hast du geschlafen?«
»Ja«, knurrte der Rothaarige. »Bis du durch die Bude gebrüllt hast!«
»Es hätte immerhin sein können, dass du herumstrolchst.«
»Ist Sasha da?«
»Ja?«
»Dann bin ich es auch. Logische Schlussfolgerung.«
Muriel zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du nicht ausgeschlafen bist, bist du genauso ein Stachelschwein wie dein Vater«, kicherte sie schließlich. »Hilfst du mir mit den Einkäufen?«
»Keine Lust.«
»Lucien!«
»Jaaaa doch! Gleich. Ich muss mir was anziehen. Geh’ raus.«
Madame Walace schüttelte den Kopf und zog die Tür hinter sich zu, bevor der Jugendliche sich zu Mathieu herumdrehte, der angespannt wie ein Kaninchen in der Falle hockte.
»Nett, deine Maman«, murmelte er leise.
»Ja, meist schon. Komm’, bevor sie wieder kommt.« Lucien zog sich sein Shirt über den Kopf und schob sich vom Bett, um dem Blonden seine Schuhe zu geben.
»Und wie ... komme ich raus?«
»Über den ultimativen Fluchtweg.« Der Rothaarige zeigte auf sein Fenster.
»Die Feuerleiter?«
»Klar, was meinst du, wie oft Etienne darüber schon die Wohnung betreten oder verlassen hat. Hätte ich je eine heimlich in meinem Zimmer bumsen wollen, ohne dass meine Eltern es mitkriegen, hätte ich es auch so gemacht.«
Mathieu zog die Augenbraue hoch und grinste leicht. »Das hat was Unanständiges«, kicherte er leise.
»Beeil’ dich, Grantaine, du Schnecke«, schnurrte Lucien und öffnete das Fenster, durch das Mathieu schließlich stieg.
»Fall’ nicht runter, okay?«
»Ich pass’ schon auf.« Der Blonde wollte sich an den Abstieg machen, als der Andere ihn aufhielt, ihm seine Hand in den Nacken legte und einen Kuss auf den Mund drückte. Ein Schmatzer, doch es berührte Mathieu und ließ ihn während des Hinunterkletterns grinsen. Nur Liebespärchen küssten sich so zur Begrüßung und zum Abschied. Er sah noch einmal nach oben, als er in der schmalen Gasse ankam und bekam noch mit, wie Luciens dunkelroter Schopf mit einem »Ja, ich komme, Mum!« wieder in dem Zimmer verschwand und das Fenster geschlossen wurde.
»Musstest du das T-Shirt erst nähen?«, zog Muriel ihren Sohn auf, der mit einer Einkaufskiste aus dem Flur in die Küche kam.
»Ha ha, hattest du einen Clown zum Mittagessen oder war was in deinem Feierabendkaffee?« Der Junge stellte seine Last ab und räumte alles aus, bevor er die Kiste zusammenklappte und in die Ecke stellte. »Ich bin einfach noch nicht ganz wach«, brummte er.
»Fühlst du dich schwach? Dass du nachmittags schläft, kennt man gar nicht von dir.« Madame Walace musterte Lucien abschätzend, doch der strich sich eine Strähne hinter das Ohr und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich fühl’ mich gut. Wirklich. So gut wie schon lange nicht mehr.«
»Na gut, dann glaube ich dir das mal. Du siehst auch nicht krank aus im Moment. Deine Bäckchen sind ganz rosig.« Die Frau grinste und die Röte auf Luciens Wangen vertiefte sich. Warum das so war, konnte und wollte er ihr zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Nicht ohne Mathieus Einverständnis.
»Mann, bin ich vier?«
»Manchmal wünschte ich, du wärst es noch. Du warst so niedlich. Mein kleiner Junge.«
»Und jetzt bin ich ein Höhlentroll, ist klar, Mum.«
Muriel strich ihm im Vorbeigehen durch die Haare. »Aber nein. Jetzt bist du mein großer Junge. Schau nur, du bist größer als ich.«
Lucien zog die Brauen hoch. »Kein Kunststück, wenn das Gegenüber nur eins fünfzig ist.« Er gluckste und mopste sich einen Apfel.
»Und genauso frech wie dein Vater. Geh’ ins Zimmer und renn’ mir nicht vor den Füßen herum, wenn ich Abendessen mache. Es gibt Steaks.«
»Cool.«
Sich streckend stiefelte Lucien zurück und schloss die Tür hinter sich. Er atmete tief ein und zog die Augenbraue hoch. Es roch anders als sonst, dass seiner Maman das nicht aufgefallen war. Anstatt nach einem von Luciens Parfums duftete es nach dem Weichspüler von Mathieus Kleidung. Der Rothaarige nahm noch einen tiefen Atemzug und lächelte. Der Schulsprecher roch wirklich gut.
Während er seinen Apfel aß, zappte er sich durch das Vorabendprogramm und hätte doch am liebsten noch eine Runde hier mit Mathieu in seinem Bett geschlafen.
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Mathieu hingegen radelte entspannt und gut gelaunt durch die Straßen Biarritz’. Es war Feierabendverkehr, wodurch er bei so ziemlich jeder Ampel halten musste, doch das machte dem Jugendlichen nichts aus. Selbst wenn er und Lucien die ganze gemeinsame Zeit verpennt hatten, bereute Mathieu es kein Stück, zu ihm gegangen zu sein. Der Blonde fühlte sich, als hätte die Nähe des Rothaarigen, seine Wärme und sein Duft die Batterien wieder aufgeladen, die von Celeste und seiner Familie arg in Mitleidenschaft gezogen worden waren.
Doch er spürte, wie die Anspannung in seinen Schultern wieder zunahm, als er das Viertel erreichte, in dem er wohnte und unter der Dunkelheit der Bäume abtauchte, die die Einfahrt zu seinem Elternhaus einrahmten. Der Weg wurde bereits von den schummrigen gelben Lampen erhellt und das Auto seines Vaters stand vor dem Gebäude. Einige Fenster waren erleuchtet.
Seufzend schob Mathieu sein Rad in den Unterstand und betrat sein Zuhause. Es war erstaunlich still, obwohl es bald Zeit für das Abendessen war.
»Mathieu!«, hörte er es aus dem Salon rufen und nachdem er seine Schuhe in den Schrank gestellt hatte, betrat er den weitläufigen Raum, der an beiden Seiten Fensterfronten hatte, die in den Garten führten. Der hintere Durchgang wurde von einer Terrasse überschattet und man hatte selbst jetzt noch einen guten Blick auf den Pool, auch wenn dieser abends abgedeckt war, damit Papillon bei ihrer nächtlichen Runde nicht auf die Idee kam, dort hineinzuhüpfen. Dieser Hund liebte Wasser.
Der Jugendliche presste die Lippen zusammen, als er seine Eltern und Celeste auf der einladenden großen Wohnlandschaft sitzen sah und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hallo. Was gibt’s?«, fragte er salopp und konnte sehen, dass sein Vater die Augenbraue hochzog. Schon das scheinheilige Püppchengrinsen auf dem Gesicht seiner Schwester machte dem Blonden deutlich, was anlag.
»Geht es um Celestes dumme Party?«
»Setz’ dich, bitte.«
»Nein, ich stehe lieber. Ich sag’ es gleich, ich werde mich nicht darum kümmern! Ich bin nicht ihr Babysitter!«
Auguste brummte unwillig. »Wenn du dich lieber wie ein unreifes Kind benehmen willst, dann bitte, bleib’ stehen. Und ja, es geht um die Party. Deine Mutter und ich haben beschlossen, sie deiner Schwester zum Geburtstag zu schenken.«
»Toll! Ich bleibe bei meiner Aussage!«
»Das kannst du tun, das interessiert mich aber herzlich wenig. Wir sind dieses Wochenende nicht in der Stadt, also trägst du die Verantwortung. Das muss ich wohl nicht betonen, oder? Du bist der Ältere!«
»Dann lasst sie die Party das nächste Wochenende machen. Ich sehe nicht ein, dass ich mir den Mund fusslig rede, sie kein Stück auf mich hört, alles in Schutt und Asche legt und ich hinterher auf den Arsch kriege von euch. Nein!«
»Mathieu, keine Widerrede!«
Der Jugendliche presste die Lippen zusammen. »Warum? Warum sollte ich nicht widersprechen? Ich hatte auch keine beschissene Party zu irgendeinem meiner Geburtstage!«
»Aber ich denke, du magst das nicht?«, warf Annette ein und Mathieu schnaufte.
»Nein. Aber es wäre nett gewesen, überhaupt mal zu fragen, ob ich vielleicht eine hätte haben wollen. Aber nein. Hauptsache, die Prinzessin zerlegt uns das Haus und treibt sonst was für Sachen hier und ich kriege am Ende die Hucke voll von euch. Ich trage nicht die Verantwortung! Wenn ich hier sein muss, weil ihr das so wollt, dann werde ich das tun. Aber ich lasse mich nicht haftbar machen für irgendeinen Scheiß, den sie hier veranstaltet, und wenn sie die halbe Fußballmannschaft der Schule über sich drüber rutschen lässt. Das ist nicht meine Sache!«
»Mathieu!«, brüllte Auguste und Celeste setzte einen schockierten Gesichtsausdruck auf, doch jeder, der gut genug hinter ihre Fassade schauen konnte, wusste, dass es getürkt war.
»Ich hab’ so die Nase voll von euch allen. Ihr denkt alle nur an euch selbst«, murmelte der Jugendliche, machte kehrt und ignorierte das Poltern seines Vaters. Stattdessen sprang der Blonde die Treppe hoch, warf die Tür seines Zimmers hinter sich zu und schloss ab. Er schluchzte gepresst und trat gegen seinen Wäschekorb. Es war so verdammt klar gewesen, dass Celeste mal wieder ihren Willen bekommen würde und er für alles die Verantwortung zu tragen hatte.
Warum konnten seine Eltern nicht endlich begreifen, dass auch er nur ein Teenager von siebzehn Jahren war, der Fehler machen und nicht über jeden Schritt nachdenken wollte. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, eine Schwester zu bekommen, sondern die seiner Eltern, also hatten sie die Verantwortung für sie zu tragen. Er war ihr Bruder, nicht ihr Vormund und auch nicht ihr Betreuer. Doch wie ein Mitglied dieser Familie fühlte er sich schon eine Weile nicht mehr. Seit Celeste ein Teenager war, war alles, was Auguste und Annette interessierte, dass Mathieu sie ja vor jedem Ärger bewahrte, selbst wenn sie den durchaus mal verdient hatte. Es war kein Wunder, dass seine Schwester glaubte, sie könnte sich privat und in der Schule und überhaupt einfach alles erlauben. Sie würde von den Eltern ja doch immer Recht bekommen, egal was Mathieu dazu zu sagen hätte. Und wenn er in der Schule ihre Probleme nicht ausbügelte, was ihm als Schulsprecher spielend leicht gelang, bekam er dafür von seinem Vater Ärger, anstatt dass dieser Celeste für ihre Fehltritte rügte.
Ein Rumpeln an seiner Tür ließ ihn den Kopf heben.
»Hey Loser«, tönte es durch das Holz, »Ich hab’ doch gesagt, dass es so kommt, haha!« Die hämische Stimme seiner Schwester trieb die Klinge nur noch mehr in das Fleisch des Jugendlichen und er war so wütend, dass er sie gern über die Galerie geschubst hätte, damit sie sich im Foyer den Hals brach. Doch er blieb sitzen und wischte sich verstohlen über das Gesicht. Sie war es nicht wert, dass er sich über sie aufregte oder gar seine Zukunft wegen ihr ruinierte. Irgendwann würde das Karma zurückschlagen und dann würde sie für alles bezahlen.
Mathieu spürte, wie seine Batterien ihre Energie verloren, je länger er sich in diesem Haus aufhielt. Wann war er zuletzt glücklich hier gewesen? Als Junge? Vielleicht vor fünf, sechs Jahren? Sicher nicht mehr, seit er sich um ein Amt in der Schülervertretung beworben hatte und von dem Tag an, an dem er Schulsprecher geworden war, war es stetig bergab gegangen in seinem Zuhause. Sein Vater hatte von da an begonnen, jedes einzelne Wort, jede noch so unbedeutende Handlung und jeden noch so winzigen Fehler Mathieus auf die Goldwaage zu legen, als wäre dieser nicht mehr sein Sohn, sondern nur noch das Amt, das er bekleidete. Ein sicher prestigeträchtiges an einer großen Gesamtschule mit angeschlossener Oberstufe, aber eben doch nichts wirklich Weltbewegendes. Es war ja schließlich nicht so, als wäre Mathieu bei den »Ärzten ohne Grenzen« oder so, die wirklich etwas bewegten.
Müde kroch der Jugendliche unter seine Bettdecke und zog sein Handy hervor. Er wusste nicht, was er schreiben sollte, also schickte er nur ein Emoji, auf das prompt eine Antwort kam, denn das Telefon klingelte.
Mathieu nahm sofort ab, damit es niemand hörte und presste es sich auf das Ohr. Er konnte ein Schniefen nicht verhindern.
»Celestageddon zuhause?«, fragte Lucien leise.
»Ich bin es so satt. Soo verdammt satt«, murmelte der Blonde verstopft. Er spürte, wie sich sein ganzer Körper verkrampfte, als er sich zwingen musste, dem Anderen nicht ins Ohr zu heulen. Doch dass ihm die Augen überliefen, konnte er nicht aufhalten. Er schniefte erneut.
»Also bekommt die Kuh ihre Party und du darfst Schmiere stehen? Deine Alten, echt ...«
»Die sind nicht meine Eltern. Das sind Erzeuger, mehr nicht. Wäre es anders, würden sie nicht eins ihrer Kinder so offen bevorzugen. Ich kann mich drehen und winden und kriege doch nie meine Füße auf den Boden. Während Celeste selbst dann noch nichts falsch machen kann, wenn einfach alles verkehrt ist, was sie macht! Das Einzige, was meinen Vater erstmals an ihr gestört hat, war ihr nuttiges Outfit zu Halloween. Aber wenn sie Leute terrorisiert, mobbt oder sich benimmt, als hätte sie null Anstand, ist das kein Grund zur Sorge, denn dafür ist ja der dumme Mathieu da, der das wieder ausbügelt, um ihre Weste weiß zu halten! Ich kann nicht mehr ...«
»Soll ich vorbei kommen?«
»Das ... das würdest du?«
»Klar, offenbar brauchst du jemanden, der dich aufbaut ...«
Mathieu biss sich auf die Lippen und versenkte sein Gesicht im Kissen, damit Lucien nicht hören konnte, dass er aufschluchzte. Es war noch nie vorgekommen, dass jemand einfach für ihn da gewesen wäre. Es gab außer dem Rothaarigen niemanden, dem er je anvertraut hatte, wie schwierig es bei ihm daheim war.
»Ich höre dich, Grantaine«, murmelte Lucien, der besorgt klang.
»Es ist nichts. Ich bin nur ...«
»Am Heulen. Darf ich deiner Schwester eine reinhauen? Ich weiß, man schlägt keine Mädchen, aber ...«
»Sie ist es nicht. Sie nutzt nur aus, dass meine Eltern so sind, wie sie sind. Ich wäre bestimmt genauso, wenn ich so verwöhnt worden wäre.«
»Das glaub’ ich nicht. Du bist Teakholz, Celeste ist Presspappe. Das kann man gar nicht vergleichen.«
Mathieu konnte nicht anders, er musste lachen. »Hast du mir gerade ein Kompliment gemacht?«
»Ein ziemlich plumpes, irgendwie. Aber ich bin nicht so stur, nicht anzuerkennen, dass du besser bist als sie. Vermutlich als viele von uns. Und bestimmt besser als ich.«
»Ich glaube nicht. Ich kenne niemanden, der so spät am Abend noch zu mir rauskäme, nur weil’s mir schlecht geht.«
»Also soll ich?«
Mathieu lächelte. »Nein. Aber vielen Dank, mir geht es schon wieder viel besser.«