»Halt’ fest, Lahmarsch, sonst kannst du es gleich aufsammeln«, kicherte Lucien und Mathieu platzierte einige Schachteln mit Büroklammern vor den Plakatrollen, bis schließlich alles hielt.
»Wenn ich wüsste, wer die Kiste geklaut hat, wo die drin waren. Ich hasse es, wenn Lehrer hier reinkommen und einfach etwas wegnehmen! Die haben die ganzen Dinger auf die Tische geschmissen. Als würde hier nicht genug Kram rumliegen andauernd!«, beschwerte sich der Schulsprecher und der Rothaarige musterte ihn spöttisch.
»Das fickt dich richtig, oder? Wenn einer in deinem ‘Büro’ Unordnung macht und so?«
»Warum die Gänsefüßchen? Das ist mein Büro. Und was mich fickt, musst du mir überlassen!«
Lucien lachte laut auf, sodass Anais zusammenzuckte und ihm einen bösen Blick zuwarf.
»Oh, Verzeihung, Prinzessin, magst du keine schmutzigen Wörter?« Er deutete eine spöttische Verbeugung an und zwinkerte Mathieu zu, der sich ein Grinsen verkneifen musste.
»Ich mag vor allem dich nicht«, schnappte das Mädchen zurück und Lucien prustete überrascht.
»So mutig auf einmal? Ich glaube, da ist der rote Drache nicht mehr fern. Ich verzieh’ mich besser. Komm schon, Minou, ich brauch’ den Schlüssel. Ich will nicht den ganzen Abend hier versauern bei der Kacke.«
»Ich begleite dich. Ich gebe dir nicht meinen Schlüsselbund, damit du Unsinn damit machst.«
»Zum Beispiel?«
»Im Keller rauchen!«
»Die Türen sind eh nicht abgeschlossen. Mach’ hinne!«
Mathieu kramte kurz in seiner Tasche und schob Lucien dann aus dem Schulsprecherzimmer. »Wenn du fertig bist, Anais, kannst du schon nach Hause gehen. Ich mach’ den Rest und schließ’ dann alles ab, okay?«
Das Mädchen nickte und seufzte, als die Tür hinter den beiden Jungen zugefallen war. Seit wann waren Mathieu und dieser arrogante Pinsel so vertraut miteinander, dass Lucien, den sonst nie etwas interessiert hatte, dem Blonden sogar bei etwas half, anstatt schadenfroh dabei zuzusehen, wie Mathieu alles herunterfiel? Und hatten sie einander nicht berührt? Anais schüttelte energisch den Kopf und hieb mit der Faust auf den Locher. Das war doch Unsinn! Mathieu stand doch nicht auf Jungs!
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»Mach’ das nicht noch mal«, flüsterte der Schulsprecher, als er und Lucien auf dem Weg zum Geografieraum waren.
»Was genau?«
»Dieses ... Anfassen. Ich hab’ bestimmt geglüht wie eine Ampel.«
»Hast du Angst, dass deine kleine Freundin was merkt? So wie die dich begafft, müsste sie schon blind sein. Aber mach’ dich mal locker. Was denkst du denn, was sie mitbekommen hat? Ich hab’ dir lediglich den Arsch gerettet mit den ollen Plakaten«, der Rothaarige schmunzelte. »Aber wenn sie nicht da gewesen wäre, hätte ich was anderes gemacht ...« Lucien grinste.
»Das wäre mir auch lieber gewesen«, gab Mathieu mit rosagefärbten Wangen zu. Er sperrte den Raum auf und als sie eintraten, stieß der Rothaarige einen Fluch aus.
»Was ist denn hier passiert?« Der Boden war dreckig, als hätten die Schüler eine Schubkarre mit Sand hineingeschafft, der Mülleimer quoll über und im blassen Sonnenlicht, das durch die Scheiben der Fenster fiel, konnte man den Staub glitzern sehen.
»Offenbar haben die Putzkräfte diesen Raum ausgelassen.«
»Cartier kann das nicht geplant haben, der wusste bis vor zwanzig Minuten nicht, dass er mir diese Aufgabe geben würde. Der wollte mich Matten in der Turnhalle schleppen lassen.«
»Wie bist du da rausgekommen?«
Lucien zog die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum. »Ganz einfach. Ich hab’ ihm gezeigt, dass ich das nicht darf.«
»Du hast ihm gesagt, dass du krank bist?«
»Nein, das hätte er mir nicht geglaubt. Er hat mich als Lügner hingestellt, als ich sagte, ich dürfte nichts Schweres heben und so. Er hat das Attest und das Arbeitsverbot gelesen. Hinterher sah er aus, als würde er sich selbst in seinen fetten Hintern beißen wollen. Ich wette, der hätte mich gern schwitzen gesehen.«
Mathieu lehnte sich an das Lehrerpult. »Ich dachte, die Lehrkräfte würden zu deiner Sicherheit und der Absicherung der Schule alle Bescheid wissen, aber das war wohl ein Irrtum.«
»Ach«, zuckte Lucien mit den Schultern, »vermutlich war es ihm nicht wichtig genug, es zu behalten. Du weißt doch, dass er es offenkundig hasst, ein Pauker zu sein. Er würde uns alle am liebsten in die Hölle schicken.«
Der Rothaarige ging auf Mathieu zu und blieb mit einem feinen Lächeln im Gesicht vor ihm stehen. Der Blonde hob die Hand und strich ihm eine Strähne seines Haares hinter das Ohr.
»Soll ich helfen? Dann bist du schneller fertig und wir ... könnten ein Stück zusammen gehen ...«
»Darfst du das denn, Schulsprecher?«, schnurrte Lucien und beugte sich vor.
»Ich würde sagen, ich riskiere es«, erwiderte Mathieu, packte den Anderen am Kragen und zog ihn näher an sich, bevor er ihm die Lippen auf den Mund presste.
Es vergingen einige Minuten, bis die Klingel die restlichen Schüler zur letzten Stunde des Tages rief und die beiden Jungen voneinander trennte.
»Oh, nicht, bleib’, mach’ weiter«, nörgelte Mathieu und hielt den Rothaarigen an den Armen fest. Dieser lachte und strich ihm über das Kinn.
»Du wirst langsam gierig, Minou.«
»Süchtig ist das Wort, das du suchst«, brummte der Blonde mit einem dünnen Lächeln und hopste vom Pult. »Na gut ...«, Mathieu öffnete die Tür zum Nebenraum des Klassenzimmers, in dem die Karten für den Unterricht aufbewahrt wurden. »Ach du Scheiße«, stieß er hervor und Lucien linste über seine Schulter.
»Na toll. Hier hat seit hundert Jahren keiner mehr aufgeräumt. Cartier kann mir den Arsch lecken, aber hier mache ich nicht sauber. Ich räume nur die dummen Karten weg!« Der Staub in den Zimmer schien fingerdick zu liegen und alles war kreuz und quer verstreut.
Mathieu griff sich einen Eimer, der unter einem der Tische stand und einen Lappen enthielt. »Hier, wenn du den auswäschst, wird er es wohl tun, um die Fensterbretter abzuwaschen. Für die Tafel nehmen wir den Schwamm. Der wurde bestimmt auch seit 1880 nicht mehr ausgespült. Da härten wir gleich noch unsere Abwehrkräfte mit ab, ich schwör’s.«
Lucien lachte los. »Ich wusste gar nicht, dass du so witzig sein kannst, Grantaine.«
»Ich hab’ selten Gelegenheit, meinen Humor zu zeigen«, murmelte der Blonde, hockte sich hin und öffnete einen Schrank unter dem Waschbecken. Darin stand ein einfacher Citrusreiniger. Der Rothaarige stand neben ihm und kräuselte die Lippen.
»Schade eigentlich«, sagte er aufrichtig, bevor er zu grinsen anfing. »Steh’ lieber wieder auf. Wenn du so vor mir hockst, komme ich noch auf unanständige Gedanken.«
Mathieu sah auf und musterte den Anderen, bevor ihm ein Licht aufging und er krebsrot anlief. »Mann ey, Lucien!«, keuchte er verlegen und richtete sich wieder auf.
»Hab’ ich dir mal gesagt, dass du süß bist, wenn du rot wirst?«, flüsterte der Rothaarige und neigte leicht den Kopf. Das Lächeln um seine Lippen war liebevoll und Mathieu war es noch nicht gewöhnt, das im Gesicht Luciens zu sehen.
»N-nein, ich glaub’ nicht.« Das Herz des Schulsprechers hüpfte ihm gegen die Kehle.
»Ist so.«
»Danke.«
»Nicht dafür, Minou. Die Leute unterschätzen dich. In jeder Hinsicht.«
Mathieu presste die Lippen zusammen und blickte Lucien nach, als der sich dem Waschbecken zuwandte und den alten Lappen auszuwaschen begann. Es brachte den Puls des Blonden zum Rasen, dass der Junge, der jahrelang ein Stachel in seinem Fleisch gewesen war, nun diese zärtlichen Dinge zu ihm sagte und als erster Mensch überhaupt Mathieu das Gefühl gab, jemand wirklich Wichtiges zu sein. Wichtig für ihn persönlich, einfach nur, weil er da war.
Der Schulsprecher fing zu lächeln an und umarmte den Rothaarigen von hinten, während er seine Wange an dessen Schultern schmiegte.
»Alles klar?«
»Ja. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie sehr.«
Lucien lachte leise, was Mathieu durch dessen Rücken hören konnte. »Ich bin gern behilflich, Grantaine.«
»Gut«, hauchte der Blonde leise, drückte dem Rothaarigen einen Kuss in den Nacken und ließ ihn los. »Ich werd’ mich um einen Besen kümmern. Hier ist keiner.«
»Okay.« Lucien ließ Wasser in den Eimer ein und öffnete den Reiniger, der scharf, aber frisch roch.
»Bin gleich zurück«, rief Mathieu in den Nebenraum und verließ das Klassenzimmer, während Lucien sich schnaubend daran machte, die Fensterbretter abzuwaschen. Er hatte die Fenster weit geöffnet und war halb mit den Schulbänken fertig, als Mathieu zurückkam, gerötet im Gesicht und sichtlich genervt.
»Bis man hier den Hausmeister findet, vergehen Tage, ey!«, schimpfte er und lehnte den Besen an die Wand. »Wow, du bist ja fast fertig!«
»Putzen ist irgendwie wie eine Meditation, findest du nicht?«, murmelte Lucien und schrubbte einige Kritzeleien von einem Tisch.
»Ich weiß nicht ...«
»Ich finde schon. Irgendwie ... vielleicht bin ich komisch, aber ich mach’ das gern. Ich mag es, sofort den Erfolg zu sehen und den Unterschied zwischen Vorher und Nachher.« Der Rothaarige hob den Kopf und zwinkerte verschwörerisch. »Erzähl’ das nur nie meiner Maman!«
Mathieu lächelte. Er erfuhr immer mehr Dinge über den kratzbürstigen Möchtegern-Badboy, die er nie auch nur im Traum vermutet hätte. »Ich kann schweigen.«
»Sie denkt, ich würde es hassen, dass ich mein Bad selbst putzen muss, aber so ist es nicht«, kicherte der Rothaarige und spülte den Lappen aus. »Junge, wir sind echt Säue. Hier hat Etienne seinen Namen mit dem Zirkel eingekratzt.« Lucien lachte. »Und hier ... agh, das war keiner von uns beiden, schau’ dir das an, Grantaine.«
Mathieu schlängelte sich zwischen den Bänken hindurch, um sich eines der Kunstwerke anzusehen und musste grinsen.
»Da ist einer notgeil, oder?«
»Also wenn ich schon Titten auf ein Pult male, dann doch bitte keine Fußballdinger. Amateure.« Lucien schrubbte die Kuli-Zeichnung weg, als er plötzlich die Augen schloss und sich am Tisch festhielt. Er schnappte nach Luft und presste die Lippen zusammen.
»Alles okay?«, fragte Mathieu erschrocken.
»Ja. Ja, mir ist nur ein bisschen schwindelig. Das kommt bestimmt von dem Putzmittel.«
»Komm, setz’ dich etwas. Ich mach’ den Rest.«
»Grantaine!«
»Was? Ich habe kein Mitleid! Aber wir fangen von vorn an, wenn du jetzt über die sauberen Tische kotzt, also hör’ nur einmal auf mich und setz’ dich gefälligst auf deinen Arsch, Mann!«
»Ich steh’ drauf, wenn du so dominant bist«, kicherte Lucien und streckte die Beine aus. Er atmete tief durch und spürte, wie der Druck in seiner Kehle nachließ. Mathieu hatte Recht, wenn er schon in dieses Klassenzimmer kotzen sollte, dann erst dann, wenn Monsieur Cartier dabei war, ebenso wie sein gesamter Kurs. Einfach nur, um diesem Scheusal von Lehrer eins reinzuwürgen.
Lucien beobachtete den Blonden dabei, wie dieser die restlichen Tische abwischte und genoss es. Aus irgendeinem Grund gefiel es ihm, dabei zuzusehen, wie Mathieu sich bewegte und wie die Muskeln unter seinem Hemd sich hoben und senkten.
»Würdest du dein Shirt ausziehen?«, fragte er mit einem Grinsen und der Blonde drehte sich verwundert zu ihm herum.
»Wie?«
»Zieh’ das Hemd aus, dann kann ich dich besser sehen.«
»Bespannerst du mich?«
»Klar. Dein Hintern kommt gut in dieser Jeans.«
»Lucien!«
»Was denn?«, gluckste dieser.
»Du bringst mich in Verlegenheit.«
»Ein Jammer, dass du siebzehn Jahre alt bist und dir noch nie jemand gesagt hat, dass du sexy bist, ehrlich.«
»Du hörst das sicher ständig.«
»Klar, vor allem von deiner notgeilen Schwester.« Der Rothaarige stand auf und streckte sich, bevor er zum Lehrerpult ging und seine Wasserflasche aus der Tasche nahm. »Aber wie es der Zufall will, finde ich dich viel heißer als sie. Lustig, oder?«
Mathieu grinste leicht und spürte Wärme in seinen Wangen. »Vor allem ist es schwer zu glauben ... So ... das wäre erledigt«, der Schulsprecher warf den Lappen in den Eimer, dessen Wasser ziemlich schmutzig geworden war. Er wollte neues einfüllen, als Lucien ihn am Vorbeigehen hinderte.
»Du kannst mir das schon glauben, wenn ich das sage, okay? Ich hab’ es nicht nötig, bei solchen Sachen zu lügen und ich bilde mir viel darauf ein, dass ich immer ehrlich sage, was ich denke.«
»Es ist nur ... na ja, in der Vergangenheit hast du mir viel weniger schmeichelhafte Sachen gesagt ...«
»Ich war ein Idiot. Bin es wahrscheinlich noch. Aber ich meine es ernst. Okay?«
Mathieu nickte und verzog die Lippen zu einem breiten Lächeln, als Lucien sich vorbeugte und ihn küsste.
»Ich hab genug gemeine Sachen gesagt, dass ich ein ganzes Leben bräuchte, um das gut zu machen, oder?«
Der Blonde zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ist doch irgendwo normal, oder nicht? Dass man einfach dämlich ist und sich nichts dabei denkt, egal wie beschissen man sich benimmt.«
»Ja«, murmelte Lucien, »weil man fälschlicherweise glaubt, man hätte so viel Zeit, um seine Fehler wieder auszubügeln.«
»Werd’ nicht trübsinnig. Im Moment haben wir doch Spaß, oder? Auch wenn wir putzen müssen ... ach, nein, du machst das ja gern«, grinste Mathieu, machte einen Schritt und schmatzte dem Rothaarigen einen Kuss auf die Lippen. Der packte den Anderen und hielt ihn fest, um die Verbindung aufrecht zu erhalten.
»Ja«, flüsterte Lucien schließlich und gab ihn frei. »Los, sexy ass, lass’ uns fertig werden. Ich hab’ genug von der Schule für heute.«
Der Rothaarige nahm noch einen Schluck aus der Flasche und schnappte sich schließlich den Tafelschwamm, während Mathieu die Tische ein zweites Mal, dieses Mal mit klarem Wasser, abwischte und sich anschließend den Besen nahm, um zu fegen.
»Ew«, hörte er Lucien aus dem Nebenzimmer und kam neugierig nachsehen. Der alte Schwamm ließ so viel Dreck ins Becken fließen, dass der Rothaarige sich gar nicht wirklich wagte, ihn richtig anzufassen.
»Wenn ich hier die Schwindsucht bekomme, weißt du auch, warum.«
Mathieu grinste. »Gut, dass man heute nicht mehr an Tuberkulose sterben muss.«
»Um wie viel wetten wir, dass mein Tumor schneller ist als eine Lungenkrankheit?« Lucien straffte die Schultern und wrang das schmutzige alte Ding kräftig aus. »Bah, ich würde Cartier das Teil gern ins Gesicht werfen ... ich hätte den Putzlappen für die Tafel nehmen sollen und nicht dieses Ding hier ... Egal, zu spät, ich bin jetzt infiziert, werd’ bestimmt ‘n Zombie oder so.« Kichernd nahm der Rothaarige den Schwamm und begann im Klassenzimmer, die Tafel zu reinigen.
Mathieu grinste vor sich hin, während er fegte.
»Das Kartenzimmer als nächstes. Das ist nicht so viel. Wir räumen die Kacke nur in die Kisten und wischen vielleicht die Tische ab, okay? Mich juckt es schon überall von dem Staub.«
»Zieh’ dich doch aus«, schlug der Schulsprecher mit einem Glucksen in der Stimme vor.
»Das hättest du wohl gern, oder, Grantaine?«
»Na, sagen wir, du bist nicht der Einzige, der hin und wieder auf unanständige Gedanken kommt.«
»Mit dem Unterschied, dass ich mir Erleichterung verschaffe, wenn es mich überkommt. Du auch?«
Mathieu lief rot an und räusperte sich.
»Na?«
»Also, ich bin hier fertig«, druckste der Blonde herum und stellte den Besen an die Tür, doch Lucien bemerkte den Versuch, das Thema zu wechseln. Er legte den Schwamm an die Seite und schnappte nach Mathieus Hand.
»Na? Weich’ mir nicht aus, du.«
Der Blonde seufzte. »Nein, ich mach’ es mir nicht selbst, wenn du das wissen willst. Ich ... also ...«
»Ja?«
»Ich würde es lieber mit dir machen ... anstatt dabei nur an dich zu denken ...«