Mathieu hatte auf Luciens Bett gesessen und etwas in ein paar Zeitschriften geblättert, während der Rothaarige, inzwischen fast wahnsinnig vor Juckreiz durch den Staub, unter der Dusche verschwunden war.
»Ahhhh, ich spüre meine Haut nicht mehr«, hörte er Lucien genüsslich durch die nur angelehnte Badezimmertür seufzen und musste lachen.
»Hast du sie zum Duschen ausgezogen oder wie darf ich das verstehen?«, rief der Blonde.
»Willst du’s sehen?«
»Was?«
»Meine Haut«, gluckste der Rothaarige durch den Türspalt.
»Nein! Zieh’ dich erst an!« Mathieu spürte, wie sein Puls sich beschleunigte und wurde sich mit einem Mal bewusst, dass Lucien nur wenige Meter von ihm entfernt war, nichts am Leib trug und sie ganz allein hier waren. Der Schulsprecher hatte zwar gesagt, dass er es wollte und das entsprach auch vollkommen der Wahrheit, doch der Gedanke daran versetzte Mathieu dennoch in Aufruhr.
Sein Gesicht hatte die Farbe einer Verkehrsampel angenommen, als Lucien in Unterwäsche aus dem Bad kam und seinen Schrank öffnete.
»Na, Süßer, welches Kino läuft da gerade in deinem Kopf, dass du so glühst?«, lachte der Rothaarige, warf sich eine Trainingshose und ein Hemd über und krabbelte auf das Bett.
»Nichts ... nichts. Gott, ist das peinlich, warum ist meine Haut nur so hell?«
Lucien blieb auf den Knien vor Mathieu sitzen und sah ihm direkt ins Gesicht, bevor er leise zu kichern begann. »Weil es verdammt süß ist.«
»Ich bin nicht süß«, murrte der Blonde und atmete den Duschgelduft tief ein, der sich mit dem frischen Kaugummi vermischte. Lucien hatte sich auch die Zähne geputzt, ihm hing noch immer Zahnpasta im Mundwinkel.
»Oh doch. Viel mehr als dir bewusst ist«, schnurrte der Rothaarige und lehnte sich vor. Er rutschte allerdings weg und fiel halb auf Mathieu, der lachen musste und die Arme um ihn legte.
»Oops, das war absolut Absicht, fürchte ich«, kicherte Lucien und blieb auf dem Blonden liegen.
»Und nun? Schlaf’ nicht ein.«
»Hey, neulich hast du genauso auf mir gelegen, ich darf das. Gleiches Recht für alle.«
»Aber«, setzte Mathieu an und konnte hören, dass seine Stimme zitterte, »mein Bein lag nicht da, wo deines liegt.«
»Dafür hast du da drauf gesessen«, amüsierte sich der Rothaarige weiter, änderte aber die Position, damit er den Blonden nicht weiter in Verlegenheit brachte. Mathieu entspannte sich etwas. Natürlich genoss er jede einzelne Berührung von Lucien, doch es machte ihn noch immer so extrem verlegen, wie sein Körper auf all das reagierte.
»Also, Grantaine ... was ist dein Lieblingsessen?«
»Was?«, lachte der Blonde auf.
»Was isst du am liebsten? Ich hatte doch gesagt, ich weiß viel zu wenig über dich und bevor wir hier irgendwas machen, was meine Bettdecke einsaut, spielen wir ein Frage- und Antwortspiel, okay?«
»Okay«, kicherte Mathieu, kuschelte sich etwas bequemer in Luciens dicke Kissen und schürzte die Lippen. »Hmm, was ... Die Fischsuppe meines Opas. Der macht die mit selbstgefangenem Fisch, Gemüse und Safran, die ist super. Noch besser ist, dass Celeste allergisch auf Safran ist und immer total den Ausschlag bekommt, mein Opa sich aber weigert, es wegzulassen, weil dann der typische Geschmack fehlt.«
»Cooler Alter.«
»Ja, erstaunlich, dass er der Vater meines Vaters ist. Du bist dran. Was ist dein Leibgericht?«
»Viel zu viel, fürchte ich. Ich steh’ auf Steak, Mamans Eintopf, Big Mäcs, Pizza und Erdbeereis. Welches Gericht kannst du gar nicht ausstehen? Ich hasse Leber, Rosenkohl und Artischocken.«
»Und ich alles an Süßspeisen und Süßigkeiten. Die einzige Ausnahme sind Eierkuchen, Obstkuchen und Milchreis. Ich hasse Sahnetorten wie die Pest, warmen Pudding, Eclairs, Windbeutel ... agh, pfui«, der Blonde lachte leise.
»Du magst nicht mal Gummibärchen? Welche Art Ketzer bist du, dass du keine Gummibärchen magst?« Lucien stemmte seinen Kopf auf den Handballen und sah auf Mathieu hinunter, der grinste wie ein Kobold.
»Naaa, vielleicht kann man mich mit Joghurtweingummi herumkriegen, aber nur in Ausnahmefällen«, kicherte er.
»Rumkriegen, hm?«
»Hin und wieder«, zwinkerte Mathieu und streckte Lucien die Zunge heraus.
»Lieblingsmusik?«
»Britischer Alternative Rock. Oasis und so.«
»Mathieu! Du hast ja Geschmack.«
»Lass’ mich raten, bei dir ist es Metal?«
Lucien nickte. »Und Post Grunge und Punk Rock. Lieblingsfilm?«
»Sherlock Holmes. Nicht die Sachen aus Hollywood, sondern BBC.«
»Was, das mit Cabbagepatch Cumberbatch, oder wie er heißt?«
Mathieu prustete los. »Neee, die Verfilmungen der Buchvorlagen. Was du meinst, ist die Serie ‘Sherlock’. Ist auch ganz geil.«
»Also ein Krimifan, so so.«
»Immer. Ich brauch’ was, das mein Gehirn fordert, nicht nur Knall und Bumm. Dein Lieblingsfilm?«
»Bad Boys Eins und Zwei«, lachte Lucien.
»Knall und Bumm?«
Der Rothaarige nickte. »Nur ein Scherz, auch wenn die ganz geil sind.«
»Welcher dann?«
»Du lachst mich aus, wenn ich dir das sage ...«
»Och, komm’ schon.« Der Blonde zog ein Schippchen und Lucien knurrte schließlich: »Stolz und Vorurteil.«
»Du stehst auf Jane Austen? Das ist wirklich eine Überraschung.«
»Wehe, du sagst es jemandem, ich verdresch’ dich!«
»Das könnte mich aber geil machen, solltest du dir überlegen.«
Prustend drückte der Rothaarige sein Gesicht neben Mathieu ins Kissen und strampelte, was den Blonden ebenfalls in Gelächter ausbrechen ließ, so laut, dass man es sicher durch das geöffnete Fenster bis auf die Straße hören konnte.
»Oooh«, flötete Mathieu schließlich atemlos, »sind Sie zu stolz, Mr. Darcy?«
»Hör’ auf«, fauchte Lucien und schnappte nach Luft, als er sich wieder etwas beruhigte. Seine Wangen waren gerötet und seine dunkelgrauen Augen blitzten lebhaft.
»So ein Jammer, wo ich doch so gern lache.«
»Grantaine, ich kriege keine Luft mehr hier«, japste Lucien und wischte sich über das Gesicht.
»Lachen ist gesund«, lächelte der Blonde und strich über die Wange des Anderen.
»Bestimmt mehr als von Dresche ‘nen Ständer zu kriegen, du.«
»Tu’ ich nicht. Aber das war schlagfertig.«
»Auf jeden Fall.«
»Noch Fragen?«
Lucien ließ sich neben Mathieu ins Kissen fallen und sah an die Decke, während er grübelte. »Irgendwelche Hobbys außer Lernen?«
»Lernen ist kein Hobby. Das ist Arbeit.«
»Okay, was machst du, wenn du nicht arbeitest nach der Schule?«
»Lesen. Krimis hauptsächlich. Ich hab auch versucht, eigene zu schreiben, aber da muss man dran bleiben und irgendwie komm ich immer raus durch die viele Schularbeit und dann verliere ich den Faden und komm’ nicht weiter. Ich angle gern, mit meinem Opa, fahr’ Rad und geh’ gern schwimmen.«
»Gar nicht so der Stubenhocker, wie ich dachte«, lächelte der Rothaarige.
»Ich komm’ halt wenig dazu, das zu machen. Die Verpflichtungen als Schulsprecher lassen nicht viel Zeit. Und du?«
»Ich verbring’ meine Freizeit mit Sasha beim Spazierengehen oder mit Etienne im Arcade, spiel’ Gitarre, zocke Videogames, les’ auch schon gern mal ein Buch, auch wenn das kaum einer denken würde und steh’ auf Surfen. Generell gern Sport, als es noch ging.«
»Hmmm ... was wolltest du werden, als du noch klein warst?« Mathieu drehte sein Gesicht zu Lucien.
Dieser grübelte einen Moment und lachte schließlich. »Willy Wonka wollte ich werden.«
»Was?«, kicherte der Blonde.
»Ja, ich wollte auch so eine quietschbunte Süßigkeitenfabrik mit Gras, das man essen kann und einem Fluss aus Schokolade und pinkfarbenen Schafen, aus deren Wolle man Zuckerwatte macht. Ich fand’ das toll. Nicht zu vergessen die riesigen Bonbons, die nie kleiner wurden oder ihren Geschmack verlieren.«
»Verrückt.«
»Für einen Vierjährigen ein ambitionierter Wunsch, also mach’ dich nicht lustig«, brummte Lucien gutmütig.
»Und was wolltest du danach werden?«
»Keine Ahnung, ich glaube das übliche, was Jungs so wollen. Pilot, wie mein Vater. Cowboy, Müllmann, weil ich Müllautos geil fand, als ich klein war. Und dann irgendwann war es Musiker und das ist es geblieben bis heute.« Der Rothaarige zuckte mit den Schultern. »Du weißt schon, der heruntergekommene, aber talentierte Gitarrist und Sänger irgendwo in einer Bar in Paris oder New York. Das wollte ich sein. Und was war deins?«
»Ich wollte immer nur eins werden«, murmelte Mathieu und lehnte seinen Kopf an Luciens Schulter.
»Anwalt wie dein alter Herr?«
»Nee.«
»Mathieu!«
Der Blonde kicherte. »Ich wollte immer was großes tun, was gutes. Ich wollte ... es ist doof ...«
»Sag schon!«
»Ich wollte immer zu ‘Ärzte ohne Grenzen’.«
»Das ist überhaupt nicht doof, sondern toll. Aber du sagst ‘wolltest’, willst du jetzt nicht mehr?«
»Doch. Aber es wird schwierig werden, in ein Medizinstudium zu kommen, die Anforderungen sind extrem hoch. Und ob man dann in die Organisation reinkommt ... mir geht es dabei auch nicht ums Geld, denn ich würde definitiv mehr verdienen, wenn ich mich mit einer privaten Klinik selbstständig machen würde. Darum geht es mir aber nicht. Meinem Vater jedoch schon, der hat mich halb zusammengeschissen, als ich ihm sagte, ich will das eben nicht, sondern reisen. Er meinte, dann würde ich im Busch praktizieren, bei Negern und Wilden und anderen Seuchenträgern. Du kannst es dir vorstellen, wie er geredet hat. Aber ich denke halt, diese Menschen haben genau dasselbe Anrecht auf einen Arzt wie wir hier und deswegen will ich das machen.«
»Vor mir brauchst du dich nicht zu rechtfertigen. Ich bin der, der ein brotloser Künstler werden wollte, schon vergessen? Ich finde, solange man etwas tut, das man liebt und es aus Überzeugung macht, sollte Geld nicht die wichtigste Rolle spielen.«
»Ja, das stimmt.«
»Und wenn es nicht klappen sollte mit der Organisation, kannst du auch hier bei uns gutes tun. Hier gibt es auch genug Menschen, die nicht einfach in ein Krankenhaus gehen können, weil sie nicht versichert sind. Obdachlose und so. Um gutes zu tun, muss man manchmal gar nicht so weit fahren. Ist dann zwar vielleicht nicht das Gleiche, aber besser als ein weiterer fetter und überfressener Oberprotz zu werden, der andere herumscheucht.«
»Denkst du, dass ich so ein Mensch werden würde?«
Lucien lächelte und seine Augen wurden weich. »Nein. Du bist besser als andere.«
»Du redest Unsinn«, murmelte Mathieu mit geröteten Wangen.
»Ich glaube nicht.«
Eine Weile lagen sie schweigend nebeneinander, der Blonde spielte mit Luciens Fingern und strich über seine gepflegten Nägel und keiner von beiden hatte das Bedürfnis, ihre gemütliche Stille zu unterbrechen.
»Ach«, brummte Mathieu irgendwann, »hat Celeste dich schon auf diese bescheuerte Party eingeladen? Das war ihr allererstes Anliegen heute früh.«
»Ja, hat sie.« Der Rothaarige drehte sich auf die Seite und legte die Hand, mit der der Blonde eben noch gespielt hatte, auf dessen Hals. »Aber kommen tue ich, weil du da bist, das weißt du hoffentlich. Sonst hätte ich abgesagt. Hab keine große Lust, den ganzen Abend die Titten deiner Schwester im Gesicht zu haben, weil sie meint, mich damit rumzukriegen.«
»Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Sie hört so schon null auf das, was ich sage und wie soll ich die Kontrolle behalten, wenn unter den Gästen irgendwelche wildfremden Studenten sind? Offiziell darf Celeste nur ihre Mitschüler einladen, aber inoffiziell schert sie sich kein bisschen um das, was unser Vater gesagt hat. Sie macht, was sie will, wie immer.«
»Dann lass’ sie sich damit in die Nesseln setzen. Du hast deinen Standpunkt bei deinen Eltern klargemacht. Du passt auf, dass das Haus stehen bleibt. Für alles andere ist dein Schwestermonster verantwortlich und ich würde mir das auch gar nicht aufdrücken lassen, wenn ich du wäre. Du hast ganz andere Sachen im Kopf als das.«
Mathieu zog eine Augenbraue hoch. »So? Habe ich?«
»Na, ist dein eigenes Liebesleben nicht viel aufregender als der Scheiß deiner Schwesterbratze?«
»Oh«, der Blonde schmunzelte hauchzart und nickte dann. »Ja, das ist es. Allemal.«
»Sollen wir rummachen?«, schnurrte Lucien und stemmte sich etwas hoch, bevor er begann, Mathieu zu kitzeln. Dieser hatte dem Rothaarigen nicht erzählt, dass er darauf reagierte und war nun umso überrumpelter, als er zu lachen anfing.
»Aaah, Hilfe, aus ... haa ... lass’ das!«, protestierte der Blonde und strampelte, während er nach Luft rang und versuchte, die Hände von sich zu schieben. »Oh Gott, hör’ auf ...«
Lucien beugte sich über ihn und verschloss seinen Mund mit seinem, hörte aber mit Kitzeln auf, was Mathieu ergeben seufzen ließ. Er warf dem Rothaarigen die Arme um die Schultern und zog ihn näher an sich heran. Ohne sein ganzes Gewicht auf dem Blonden abzulegen, schob sich Lucien über ihn und intensivierte den Kuss, während die Hand, mit der er sich nicht abstützte, unter sein Hemd und das darunter befindliche Shirt glitt.
Mathieu bäumte sich etwas auf und dem Anderen entgegen. Als ihre Körper einander berührten, fuhr der gleiche Schlag durch beide wie schon drei Wochen zuvor, als sie das erste Mal so in Luciens Bett gelegen und einander geküsst hatten. Doch es hielt sie nicht ab, im Gegenteil feuerte es sie noch an.
Erneut hinterließen Mathieus Fingernägel feine sichtbare Spuren, dieses Mal auf Luciens unbekleideten Oberarmen und der Blonde spürte eine heiße und prickelnde Gänsehaut am ganzen Körper. Der Jugendliche zog den Rothaarigen näher an sich herum, sodass der schließlich ganz auf ihm lag. Das Gewicht Luciens machte dem Schulsprecher nichts aus, da dessen Ellenbogen auf der Matratze es etwas abfingen, während seine Zähne sanft knabbernd über das Kinn zu Mathieus Hals wanderten.
Der Blonde hob den Kopf und kicherte zittrig, als ihm ein Keuchen entschlüpfte, das dem sanften Reiben von Luciens Schoß an Mathieus geschuldet war.
Der Zustand von ihnen beiden war schon jenseits von Gut und Böse und nur zu gern hätte Mathieu den Stoff zwischen ihnen verschwinden lassen, um es alles zu haben, pur und ohne Hindernisse. Doch gleichzeitig war dieses Spiel hier so aufregend, dass er es für keine Sekunde hätte unterbrechen wollen, um seine Jeans auszuziehen.
Luciens streichelnde Hand unter seinem T-Shirt ließ den Blonden schnurren und er spürte, wie sich die Gänsehaut weiter ausbreitete. Ein heftiges Rauschen durchzog seinen Körper und er zuckte zusammen, biss sich auf die Lippe und stieß ein gepresstes Geräusch aus, ganz ähnlich dem, was auch der Rothaarige von sich gab, wenn auch etwas weniger laut. Lucien presste sich an Mathieu, um das Gefühl so lange wie möglich auskosten zu können und der Blonde klammerte sich an seinen Nacken wie ein Ertrinkender, während vor seinen fest zusammengekniffenen Lidern die Farben explodierten.
Langsam nur, aber spürbar ebbten die Wellen ab und ihre Atmung normalisierte sich wieder, wenn auch ihre Gesichtsfarbe lebhaft blieb. Sanfter, unaufgeregter als zuvor, setzten sie ihre Schmuserei fort, bis ein überraschtes »Ach du lieber Himmel« sie jäh voneinander trennte.