Der Morgen bei den Grantaines kam für Mathieu unerwartet früh. Er hatte wirklich geschlafen wie ein Stein, herrlich traumlos und tief wie schon lange nicht mehr. Umso unwillkommener war das Klingeln des Weckers und der Jugendliche zog sich die Decke über den Kopf.
»Nein!«, brummte er ins Kissen und richtete sich schließlich auf. Er gähnte laut und genüsslich, streckte sich und rubbelte sich über das Haar, das zu Berge zu stehen schien. Doch dann grinste er. So ausgeruht hatte er sich schon eine Weile nicht mehr gefühlt. Er schwang die Beine aus dem Bett, zog sich die Unterhose zurecht und trabte ins Badezimmer, nur um von einem Kreischen zurückgedrängt zu werden.
»Raus hier, du Perversling!«, rief Celeste und warf ihm ein Handtuch ins Gesicht, das er auffing und erst einmal zu realisieren versuchte, was geschehen war.
Seine Schwester hatte sich ihre frisch geschnittenen Haare über Nacht in Schaumstoffwickler gedreht und war nun dabei, diese herauszufummeln. Sie sah nicht weniger verpennt aus als ihr Bruder und sie hasste es, wenn man sie zu sehen bekam, bevor sie ihre übliche Schicht Makeup aufgetragen hatte.
»Was heißt hier Perversling, hast du sie noch alle? Als würde ich dir was wegschauen wollen. Ich will mir die Zähne putzen!«
»Sag’ das deinem Ständer, du Freak. Raus hier!« Celeste schob ihn mitsamt der Tür nach draußen und Mathieu starrte irritiert auf das Holz, bevor er nach unten sah und überrascht auflachte.
»Oops«, kicherte er und kehrte in sein Zimmer zurück. Dass er eine Morgenlatte bekam, geschah nicht so oft und er hatte es gar nicht gemerkt.
Weil es keinen Sinn hatte, darauf zu warten, dass seine Schwester fertig wurde, warf er sich seinen Morgenmantel über, nahm seine Anziehsachen und suchte das Gäste-WC im unteren Flur auf, um sich zu waschen. Zähneputzen konnte er auch noch nach dem Frühstück.
Er war bereits wieder in seinem Zimmer und packte die letzten Schulsachen ein, als das Bad, das er sich mit Celeste teilen musste, frei wurde. Hätte er so lange warten müssen, hätte er kaum noch Zeit fürs Essen gehabt. Mathieu nahm die Tasche und mit einem schiefen Grinsen auch das Päckchen, in dem das Geschenk für seine Schwester war, und ging nach unten. Im Essbereich des Salons hatte Madame Grantaine bereits das Frühstück aufgebaut und der Jugendliche konnte sehen, dass seine Maman sich Mühe gegeben hatte. Es gab Pfannkuchen und Waffeln, frische Marmelade, Rührei und Toast, alles war hübsch angerichtet und sogar ein Strauß Blumen zierte den Tisch.
Mutter und Tochter herzten sich bereits und Madame Grantaine gratulierte und drückte Celeste überschwänglich. Nachdem auch Auguste seine Tochter gedrückt und sie gegen ihren Willen auf die Wange geküsst hatte, drehte sich das Mädchen zu ihrem Bruder um und lächelte, als wollte sie ihn herausfordern.
Der lächelte schief, seufzte und legte seinen Rucksack an die Seite. »Na, komm schon her, Nervensäge.« Er umarmte sie und sie erwiderte es.
»Oh, darf ich ein paar der Geschenke öffnen, Papa?«, klimperte Celeste anschließend mit den Wimpern, als sie alle am Esstisch saßen.
»Dafür hast du später auch noch Zeit, meinst du nicht, Cherie?«
»Und wenn du mich in die Schule fährst?«
Monsieur Grantaine, der seiner Tochter nie wirklich etwas abschlagen konnte, nickte schließlich und anstatt zu essen, griff sich Celeste die erstbesten Päckchen von dem kleinen Stapel, den ihre Eltern auf dem Geburtstagstisch aufgebaut hatten. Darunter auch das von Mathieu. Sie öffnete es zuerst und war erstaunlich bedacht, die glänzende Geschenkfolie, in die es verpackt war, nicht kaputtzureißen. Vermutlich, weil sie schreipink war und sie diese behalten wollte.
»Oh danke, Mathieu«, grinste das Mädchen über den Tisch und zeigte ihren Eltern das Parfum, dass der Blonde für sie gekauft hatte. Er selbst fand es scheußlich, wusste aber, dass es Celestes Lieblingsduft war.
Während ein Päckchen nach dem anderen ausgepellt wurde, ließ sich der Junge das noch heiße Rührei schmecken. Die Waffeln und die süße Marmelade würde er unter Drohung nicht anrühren. So schien es nach ein paar Minuten, als wäre er der Einzige überhaupt, der frühstückte. Als er fertig war und sein Geschirr zusammenstellte, wandte sich Auguste an ihn.
»Soll ich dich mitnehmen zur Schule?«
Mathieu zog nur unmerklich die Augenbraue hoch. Celestes Geburtstag ließ den Juristen immer für eine kurze Zeit freundlicher und zutraulicher werden, doch der Jugendliche wusste, dass er das nur tat, um seinem kleinen Mädchen nicht den Morgen mit Streit zu versauen.
»Nein, danke. Ich muss noch Zähne putzen und nehm’ dann das Rad. Ich fahr’ jetzt gleich.«
»Wie du möchtest«, brummte Monsieur Grantaine nur und wandte sich wieder seinem Teller zu.
Mathieu seufzte leise und verließ den Essbereich, um noch schnell ins Bad zu gehen. Fünf Minuten später war er angezogen und verließ das Haus, während seine Familie noch beisammen saß. Natürlich hätte er das Angebot seines Vaters annehmen und mit dem Auto mitfahren können, doch im Grunde war er bereits nach der Übergabe des Päckchens nur noch ein Zaungast gewesen. Es war immer noch ein komisches Gefühl, miterleben zu müssen, wie sehr Celeste von seinen Eltern bevorzugt wurde, weil sie das »kleine Mädchen« war. Sie taten es nicht immer offensichtlich, doch je älter der Blonde wurde, umso mehr waren ihm diese Momente bewusst geworden.
An der Schule, wo noch nichts los war, stellte der Blonde sein Rad in den Unterstand und blieb einen Moment im blassen Licht der Morgensonne stehen. Das Wetter war wunderbar und nicht annähernd so kalt wie an dem Abend, als Lucien ihn nach Hause gebracht hatte.
Als hätten seine Gedanken es herausgefordert, legten sich plötzlich kühle Finger von hinten auf Mathieus Augen und ein Hauch von Zimt und Menthol hüllte ihn ein.
»Salut«, schnurrte ihm Lucien ins Ohr, drehte ihn herum und ehe Mathieu sich versah, war sein Mund versiegelt. Der Blonde seufzte und schlang die Arme um den Rothaarigen, vollkommen ausblendend, wo sie sich befanden.
Erst ein leises, fast schüchternes Räuspern holte sie in die Realität zurück, sie stoben auseinander und blickten verdattert in das gelinde amüsiert grinsende Gesicht von Etienne, der kein bisschen überrascht aussah.
»Guten Morgen«, sagte dieser ruhig, während Mathieu für eine Sekunde das Gefühl bekam, vor Scham in tausend Stücke zu explodieren.
»Das ... also ...«, Lucien räusperte sich und seufzte schließlich. »Ach Shit, du wusstest es die ganze Zeit, oder?«
Der Aschblonde machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich hatte dir doch gesagt, was ich denke, also spielt es keine Rolle. Ich stehe hinter euch und ich kann schweigen.«
»Was ... denkst du denn?«, murmelte Mathieu und ballte die Hände zur Faust, weil er wegen des Schrecks noch immer zitterte. Das hätte gehörig in die Hose gehen können. Statt Etienne hätte es auch ein Tratschmaul sein können oder schlimmer noch, Celeste und sein Vater!
»Dass es zählt, dass ihr zufrieden seid.« Der Junge mit dem mausgrauen Haar hob den Kopf und sah den Schulsprecher freiheraus an. »Ich bin niemand, der andere verurteilt.«
»Das ist ... cool von dir.«
Etienne lächelte auf seine milde, unaufgeregte Art. »Ich finde es cool, dass es Lucien so gut geht, seit ihr Zwei euch habt.«
»Leute, ich bin anwesend, ja?«
Alle Drei lachten. Nach und nach trudelten mehr Schüler ein und der Fahrradstand füllte sich, während Lucien sich noch eine Zigarette gönnte, sein Kumpel in seinem Büchlein kritzelte und Mathieu die Sonne genoss. Es fühlte sich kein bisschen komisch an, mit den beiden Jungen zusammenzustehen, die sich zuvor seit dem Collége einen Spaß daraus gemacht hatten, ihn aufzuziehen.
»Okay«, murmelte der Schulsprecher schließlich, »ich muss rein und noch was tun vor dem Unterricht. Bis später.« Er zupfte leicht an Luciens Jacke, lächelte und drehte sich um, nachdem der Rothaarige die Geste erwidert und genickt hatte.
»Ihr seid vielleicht Zucker«, kicherte Etienne, ohne den Kopf zu heben.
»Schnauze«, presste Lucien verlegen hervor und ließ sich auf die Bank fallen. »Mann, mir hängt der Schreck immer noch in den Knochen. Wenn es nun nicht du gewesen wärst ...«, murmelte er und fuhr sich durch die Haare.
»So schlimm?«
»Für mich nicht. Für Mathieu schon, bei dem Stockfisch als Vater? Außerdem nimmt das Erwischtwerden langsam Überhand. Am Mittwoch hat meine Mum uns im Bett ertappt ... bei mir zuhause.«
»Oh shit«, lachte Etienne auf. »Ihr wart aber nicht ... dabei, oder?«
»Sagen wir, wenn sie fünf Minuten eher reingeplatzt wäre, hätte sie einen sehr aufregenden Moment ruiniert, aber nein, wir haben es nicht gemacht. Nicht so, wie du es dir vielleicht gerade denkst.«
»Wie denn sonst?«
»Du hast keine Fantasie, oder?« Lucien lachte leise und lehnte sich an das helle Gebäude an. »Gibt doch mehr als sich irgendwo was reinzustecken, Mann.«
»Wahrscheinlich«, sinnierte der Aschblonde und verlor dann das Interesse.
»Bist du sauer?« Der Rothaarige sprach leise.
»Worauf?«
»Dass ich es nicht gesagt hab?«
»Nee. Hab’ doch gesagt, dass es okay ist, wenn du es sagst, wenn du bereit bist. Dass ich hier jetzt reingeplatzt bin, war echt Zufall. Ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen.«
»Wir haben uns aber auch hinreißen lassen wie die letzten Idioten, ey.«
»Eigentlich sollte man sich für so was nicht verstecken müssen, oder sehe ich das falsch?«
»Nein«, murmelte Lucien. »Es sollte keine Rolle spielen, wen man liebt ...«
Etienne wandte dem Rothaarigen das Gesicht zu und musterte diesen. Seinen sonst so unabhängigen und stolzen besten Freund tatsächlich von Liebe sprechen zu hören, rührte den Jugendlichen. Offenbar war da wirklich mehr in Lucien, was Mathieu betraf, als der Rothaarige zugeben wollte.
»Ich geh’ noch mal auf’s Klo«, verkündete Lucien kurz darauf, nahm seine Tasche und betrat das Schulgebäude.
.
Der Rothaarige kam gerade an seinem Spind zum Stehen, den der Hausmeister inzwischen endlich repariert hatte, als Celeste wie eine Prinzessin den Flur entlang schlenderte, ihren Harem an Speichellecker-Freundinnen im Schlepptau und ihre Hofdamen rechts und links von sich. Das blonde Mädchen parlierte laut und für jeden hörbar von ihrem Geburtstag und der abgefahrenen Party, die am Abend stattfinden würde. Niemand, ob absichtlich oder unfreiwillig, konnte ihr Gelaber überhören und Lucien, der einen grimmigen Blick über seine Schulter warf, brummte. Doch seine Lippen zuckten plötzlich, als er sich daran erinnerte, was Celeste am Mittwochabend großspurig ihren Mädels erzählt hatte. Sie dachte also, sie könnte ihn, Lucien, mit einem teuren, aber sicher total billigen Fummel rumkriegen, ihr Blümchen zu pflücken? Er würde sein eigenes erstes Mal sicher nicht an diese Barbiepuppe verschwenden. Andere Typen waren da vielleicht triebgesteuerter und hormoneller eingestellt, doch Lucien wollte etwas richtiges, keine Nummer zwischendurch, einfach um es hinter sich zu haben. Er grinste in sein Schließfach und schüttelte leicht den Kopf. Wann immer er sich vorstellte, wie es sein würde, sah er nur Mathieu. Das erschreckte den Jugendlichen, aber machte ihn auch glücklich.
»Na, Lucien? Schon Lust auf heute Abend?« Celestes honigsüße Stimme in seinem Rücken brachte den Rothaarigen dazu, sich umzudrehen. Er musterte sie und lächelte, was sie strahlend erwiderte.
»Ja, das hab’ ich tatsächlich. Wird bestimmt prima. Alles Gute übrigens.«
»Danke! Echt, du freust dich? Das ist cool.«
»Klar«, gab Lucien zurück. »Für nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen.« Er schmunzelte und amüsierte sich insgeheim darüber, wie das blonde Mädchen sich zu ihren Freundinnen umdrehte und triumphierte.
»Cool, dann gegen Neun. Salut!« Celeste strahlte ein weiteres Mal, winkte leicht und zog mit ihrem Hofstaat von dannen.
»Ich werde da sein«, murmelte der Jugendliche, klemmte sich die Bücher unter den Arm und grinste. In Mathieus Bett, die ganze Nacht. Lucien lachte innerlich und grinste dümmlich, als Etienne zu ihm trat.
»Was ist passiert? Du siehst aus wie ein Kobold.«
Der Rothaarige erzählte dem Anderen knapp von der soeben erfolgten Begegnung und kicherte.
»Oh weh, die Arme wird aber furchtbar enttäuscht sein, sollte sie dich ausgerechnet im Bett ihres Bruders ertappen«, lachte Etienne sehr leise.
»Wer auch immer heute Abend flachgelegt wird, ich werde nicht derjenige sein, der bei Celeste die Ehre hat, absolut nicht.« Lucien kräuselte die Lippen und lächelte schließlich milde. Ihm ging es gar nicht darum, irgendetwas derartiges zu tun. Alles, was er wollte, war unbegrenzte Zeit mit Mathieu, ganz unabhängig davon, was zwischen ihnen geschehen sollte oder nicht. Dass der Schulsprecher den Rothaarigen erregte und er ihn wollte, konnte der nicht einmal vor sich selbst leugnen, doch Lucien wollte nicht alles dadurch versauen, dass er sich auf möglichen Sex versteifte. Sie waren noch keine Woche zusammen und er wollte nicht wie der Typ Arsch dastehen, dem es nur darum ging. Auch wenn Mathieu mehr als einmal deutlich gemacht hatte, dass er es genauso wollte. Sie hatten noch nicht einmal ernsthaft darüber geredet, wie sie es anstellen wollten.
»Warum bist du auf einmal so rot?«
Lucien schluckte und schüttelte den Kopf. »Wie bitte?«
»Möchte ich wissen, woran du gerade dachtest?« Etienne schmunzelte und seine waldgrünen Augen musterten das Gesicht seines Freundes genau.
»Ich glaube nicht ...«
»Okay, dann weiß ich es schon«, lachte der Aschblonde und einige Mitschüler aus ihrem Jahrgang, an denen sie vorbeikamen, sahen ihn verwundert an. Etienne lachen zu hören war so selten wie ein Feueralarm in der Schule.
»Du hältst mich bestimmt für notgeil.«
»Kein bisschen. Du bist halt verknallt. Bist du doch, oder?«
Lucien presste die Lippen aufeinander und schwieg, doch der Ausdruck in seinem Gesicht war für seinen besten Freund Antwort genug.
»Ich komme mir vor wie ein Arsch«, murmelte der Rothaarige irgendwann leise, als sie, an ein Fensterbrett gelehnt, vor ihrem Klassenzimmer auf den Lehrer warteten.
»Warum?«
»Weil ich nichts zu bieten habe, nur geborgte Zeit.«
Etienne betrachtete Lucien eine Weile, während dieser an seinem Daumennagel herumknabberte und ins Leere starrte.
»Damit machst du das wertvollste Geschenk, was du zu geben hast, ist dir das nicht klar? Du hast nur noch wenig Zeit und trotzdem bist du bereit, sie mit ihm zu verbringen. Du hast ihn ausgesucht, wo du genauso gut wie eine Biene von Blume zu Blume gehen könntest, um auszukosten, dass du noch lebst. Ich finde, das hat etwas Poetisches. Und sagt wahrscheinlich mehr darüber, wie du zu ihm stehst als dir bewusst ist.« Der Aschblonde zog sein Notizbuch aus der Manteltasche und seinen Kuli, während Lucien leicht schmunzelnd dabei zusah und schließlich seufzte. Etienne und seine Poesie.
Der Rothaarige lehnte den Kopf nach hinten an die kühle Scheibe und schloss die Augen. Es war wahr. Selbst wenn er bereits morgen sterben müsste, würde er diesen letzten Tag mit Mathieu verbringen wollen. Natürlich auch mit seinen Eltern und Etienne, aber am liebsten mit ihm.
Lucien hatte nie darüber nachgedacht, was es zu bedeuten hatte, dass er sich gegen jede Avancen der Mädchen sperrte und trotz der knappen Zeit, die ihm noch blieb, alles langsam angehen lassen wollte, mit einer Person, die er jahrelang nur als Zielscheibe für seinen Spott betrachtet hatte. Ob der Tumor in seinem Kopf nicht nur sein Ende besiegelt, sondern auch einen Schalter umgelegt hatte, der ihn erkennen ließ, was sein Stolz all die Zeit versteckt hatte?
Es traf den Rothaarigen wie einen Hammerschlag, dass Mathieu die einzige wahre Chance auf eine große Liebe für ihn war.