Als der Lehrer den Gang hinunterkam und mit ihm im Schlepptau Mathieu, zuckte Lucien kurz zusammen und musste grinsen. Er zog ein kleines Heft aus seiner Tasche und mopste Etienne seinen Kuli, um etwas auf einen Zettel zu kritzeln. Der Rothaarige konnte kaum ein ernstes Gesicht behalten, als er das Blatt Papier faltete und den Stift zurückgab.
»Was war das denn?«, flüsterte der Aschblonde und stemmte sich von der Fensterbank weg.
»Ein Insider. Ich glaube, das möchtest du nicht wissen.«
»Agh, wenn es etwas mit euren ... Intimitäten zu tun hat, nicht.« Etienne wurde etwas rosa um die Nase und Lucien kicherte. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter.
»Du brauchst eine Freundin, Kumpel.«
»Ich kann ja Celeste fragen«, konterte der hochgewachsene Junge und beide fingen zu lachen an.
Sie gingen als letztes in den Raum und als sie Mathieus Tisch passierten, landete der zusammengefaltete Zettel auf seinem Block, ohne dass es einer bemerkt hätte. Schräg hinter dem Blonden an einer Bank an der Wand nahmen Lucien und Etienne schließlich Platz und der Rothaarige lehnte sich an die verblichene Tapete. Spitzbübisch grinsend beobachtete er, wie der Schulsprecher das Blatt auseinander faltete und fast augenblicklich rote Ohren bekam. Er drehte sich zu Lucien um, lächelnd, und für einen Moment waren sie ganz allein, der Trubel ihrer Mitschüler um sie herum verstummte und sie sahen nur einander.
Doch der Zauber brach zäh, als die Schulglocke ertönte und den Beginn der Stunde anzeigte.
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»Wie war die Nacht nach deinem ‘ersten Mal’?« Mathieu bemühte sich nach Leibeskräften, sein Gesicht unter Kontrolle zu halten, als er die Nachricht las, die Lucien ihm hinterlassen hatte. Doch die Hitze in seinem Körper konnte der Blonde nicht unterdrücken. Er drehte den Kopf herum und konnte sehen, wie sehr Lucien grinste. Der wusste genau, wie er es schaffte, Mathieus Blut in Wallung zu versetzen. Der lächelte, doch wurde abgelenkt, weil ihr Lehrer den Unterricht beginnen wollte. Es fiel dem Blonden schwer, sich auf Geschichte zu konzentrieren, da er im Gedanken immer wieder und wieder die Nachricht wiederholte.
Lucien machte sich sicher einen Spaß daraus, ihn so dermaßen in Verlegenheit zu bringen, aber das würde der Blonde ihm in der Pause heimzahlen. Nachdem er ihm erzählt hatte, wie grandios seine Nacht nach ihrem kleinen Spiel gewesen war!
Die Pläne des Schulsprechers, sich während der Freizeiten mit dem Rothaarigen im Keller herumzutreiben, wurden jedoch zerschlagen, als die Direktorin ihn und Anais in der ersten Pause zu sich rief. Mathieu, bereits in Sorge, sonstwas angestellt zu haben, an das er sich nicht mehr erinnern konnte, atmete erleichtert durch, als es nur darum ging, neue Schüler im Gebäude herumzuführen und deren Papiere in Empfang zu nehmen.
Lucien lungerte vor dem Schulsprecherzimmer auf einer der Bänke herum und man konnte, sofern man darauf achtete, erkennen, dass auch er enttäuscht war, die Zeit nicht mit Mathieu verbringen zu können. Der Rothaarige hatte das Gesicht zur Faust geballt und schenkte den beiden Neuzugängen, einem Jungen und einem Mädchen, nicht gerade seinen hübschesten Ausdruck, als sie an ihm vorbei in den Raum der Schülervertretung gingen.
»Hey, Grantaine, kannst du die Hampelmänner nicht von der Prinzessin versorgen lassen? Ich brauch’ mal deine Hilfe«, schnarrte er wenig freundlich und Mathieu spielte das Spiel mit. Er blieb an der Tür stehen, warf einen Blick über die Schulter zu den zwei Neuen und fauchte.
»Wenn es denn sein muss. Machst du das, Anais?«
Das brünette Mädchen zog die Augenbrauen kraus über das vermeintlich unverschämte Verhalten Luciens und nickte, sodass der Schulsprecher die Tür hinter hinter sich schloss und mit dem Rothaarigen im Flur stehen blieb.
»Komm’ mit«, knurrte der und huschte schnell und unauffällig zu einem der versteckteren Kellerzugänge, öffnete diesen einen Spalt und schob sich hindurch. Lucien zog Mathieu geradezu hinein und die Türe schlug etwas lauter als beabsichtigt zu, doch das kümmerte den Rothaarigen nicht die Bohne. Er hatte den Blonden bereits in einen Kuss verwickelt, bevor der wusste, wie ihm geschah und unter Luciens Lippen kicherte.
»Hmmm, sei’ still«, brummte der und fuhr Mathieu mit den Händen über den Rücken, worauf dieser schnurrte.
»Gott, mich macht es irre, dich die ganze Zeit zu sehen und nichts tun zu können«, murmelte der Rothaarige, als er sich nach ein paar Minuten löste und seine Stirn auf die Schulter des Schulsprechers legte.
»Mich auch. Ich kann mich gar nicht konzentrieren.«
Lucien hob den Kopf und grinste schelmisch. »Dabei sollte die Aktion gestern eigentlich dabei helfen, dass du das besser kannst. Ging wohl nach hinten los.«
Mathieu lächelte verlegen und wandte den Blick ab.
»Ist es dir peinlich? Nach allem?«
»Vorher war es wegen dir ... ich hab’s nicht allein gemacht. Komm’ mir ganz verrucht vor.«
»Ich hätt’ gern zugesehen«, grinste der Rothaarige und strich dem Anderen mit dem Finger über das Kinn. »Und ich wollte, dass du dich gut fühlst. Das ist doch gelungen oder hast du gestern geschwindelt?«
»Nein, das hab ich nicht. Ich habe lange nicht mehr so verflucht gut geschlafen. Hab’s sogar geschafft, heute morgen nett zu Celeste zu sein.« Mathieu schmunzelte und lehnte sich an Lucien, der ein besonders sexy duftendes Parfum trug.
»Oh, na dann war das Taschenbillard aber mehr als notwendig, Grantaine!«
Der kicherte und drückte seine Nase in den Hoodie des Anderen. »So oft, wie mir in den letzten Tagen wegen dir einer abgegangen ist, kann ich das kaum glauben.«
»Gern geschehen, Minou.«
»Hättest du mir wirklich ein Video geschickt davon, wie du ... also ... oder hast du das nur gesagt, weil du wusstest, dass ich nein sage?«
Lucien grinste zähnebleckend. »Ich hätte das gebracht, zweifelst du daran?«
»Und wenn so was nun im Netz landet?«
Schulterzuckend lehnte sich der Rothaarige an die Wand. »In meinem Fall? Was soll’s. Aber wenn ich glauben würde, dass du so etwas weiterverschickst, würde ich auch nicht daran denken, so was echt zu bringen. Also ...«
»Weil ich keine Freunde habe, denen ich es zeigen könnte?«
Lucien warf Mathieu einen strengen Blick zu und zog die Augenbraue hoch. »Nein, weil ich glaube, dass man dir vertrauen kann, selbst wenn du einen ganzen Arsch voll davon hättest.«
»Oh ...«
»Mann, Mathieu, wann begreifst du, dass ich dich nicht so scheiße finde, wie du denkst, dass ich es tue ...«
»Na ja ... ich würd’ schon irgendwie doof dastehen, wenn es so wäre, wenn man bedenkt, was ich alles hab mit mir machen lassen.«
Der Rothaarige stieß sich von der Wand ab und drehte sich zu dem Blonden herum, bevor er brummte: »Nichts, wofür wir uns schämen müssten. Wir sind nicht zu weit gegangen.«
»Ich würd’ aber gern«, murmelte Mathieu verlegen und wandte den Blick ab. Lucien lächelte und lehnte sich an ihn, presste das Gesicht gegen seinen Hals und nickte.
»Ich weiß. Ich auch.«
Als es klingelte, beeilten sich die beiden, oder vielmehr Mathieu, wieder nach oben zu kommen, während Lucien es ruhiger angehen ließ und ihm nach etwas Verzögerung folgte. Ihm machte es nichts aus, ein paar Minuten zu spät zur nächsten Stunde zu erscheinen. Überhaupt sehnte der Rothaarige das Ende des Tages herbei, um sich zuhause auf die blöde Party vorzubereiten und endlich für länger als zehn Minuten mit dem Schulsprecher zusammensein zu können. Die letzten Unterrichtsstunden war Lucien folglich nicht mehr wirklich bei der Sache, sondern starrte die meiste Zeit gelangweilt aus dem Fenster.
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»Soll ich dich fahren, Cheri?«
Madame Walace stand am Türrahmen zum Zimmer ihres Sohnes, der gerade aus der Dusche gekommen war und sich kopfüber die Haare ausschüttelte. Er stöhnte, als er sich wieder aufrichtete, denn die Aktion hatte seinem Tumor nicht gefallen. Sich das Auge reibend, verneinte er.
»Geht es dir wirklich gut? Du hast nicht viel gegessen vorhin.«
»Mum, das ist eine Party, da gibt es genug Futter, was soll ich mich da vorher vollfressen?«
Muriel musterte ihn eindringlich. »Am liebsten würde ich dich zuhause behalten ...«
»Nein!«, protestierte Lucien, doch seine Mutter hob die Hand.
»Aber ich weiß, dass du wegen Mathieu da hin willst, also kannst du auch gehen. Du musst mich schon mal ausreden lassen, Schatz.«
Der Jugendliche verzog leicht den Mund. »Woher soll man denn auch wissen, was du sagen willst. Du bist immer negativ gegen alles«, murmelte er.
»Ich weiß, ich kann aber auch nichts dafür, weißt du? Du bist immerhin mein Kind und ich mache mir Sorgen. Du sollst nicht mehr leiden als es notwendig ist.«
»Tu’ ich schon nicht, ich bin ja kein Masochist.«
»Nimmst du deine Medikamente? Du hast schon einige Tage nicht mehr über Kopfschmerzen geklagt.«
Lucien fuhr sich mit der Bürste durch die Haare und musterte sich kritisch in seinem Spiegel. »Ja, ich nehme sie, Mum. Ich will mir nicht in einem spastischen Aussetzer die Zunge abbeißen oder am Ende noch einen Schlaganfall bekommen oder so. Nur ...«, er lächelte leicht, »Kopfschmerzen hatte ich echt ein paar Tage nicht mehr. Nix wirklich Schlimmes.«
Madame Walace lächelte leicht und bemerkte die zarte Röte im Gesicht ihres Sohnes. Sie ging jede Wette ein, dass die nicht vom heißen Duschwasser gekommen war.
»Kleine Ursache, große Wirkung, hm?«
»Wie?«
»Mathieu und du.«
»Hast du’s Papa gesagt?«, fragte der Jugendliche murmelnd.
»Ich habe nur angedeutet, dass es da jemanden gibt.«
Lucien zog sich ein schwarzblau-kariertes Hemd über das weiße Tanktop und schob die Füße in seine Boots. »Aber dir wäre es trotzdem lieber, es wäre ein Mädchen, oder?«
Muriel winkte ihn zu sich heran und legte ihm die Hand auf die Wange, bevor sie ihn umarmte und auf die Stirn küsste. Lucien musste sich dafür zu ihr herunterbeugen. »Nichts ist mir noch wichtig, nur dein Glück. Und wenn du Spaß hast mit Mathieu und er dir gut tut, dann soll es so sein. Alles andere ist unwichtig.«
»Keine Bedenken wegen der Nachbarn? Oder was Oma und Opa sagen würden?«
Madame Walace grinste leicht. »Na, das kannst du ihnen zu Weihnachten selbst sagen, wenn du möchtest. Sie wollen unbedingt mit uns feiern.«
Schnaubend wandte sich der Rothaarige von seiner Mutter ab und schnürte sich die Schuhe zu. »Klar wollen sie, jetzt wo ihr Enkel noch Jahre vor ihnen ins Gras beißt.«
»Sei’ nicht bissig, Schatz, kannst du es ihnen verübeln?«
»Nein. Aber vorher wurde auch nur alle Jubeljahre mal zusammen gefeiert.«
»Die Menschen sind dumm in solchen Dingen, Cheri. Solange alle gesund sind, schiebt man Besuche immer wieder auf, weil man meint, man hätte so viel Zeit und wenn dann einer geht, kommen alle zur Beerdigung und bereuen. Man sollte sich im Leben sehen, so oft man kann, dann gibt es hinterher auch nichts zu bedauern.«
»Amen«, murmelte Lucien und stand auf. »Kann ich so gehen?«
»Bist du etwa aufgeregt?«, lächelte Muriel.
»Vielleicht ... also ich glaube nicht, dass ich heute Abend nach Hause komme, also ...«
»Hast du was dabei, um euch zu schützen?«
»Mum!« Lucien seufzte. »Darum geht es doch gar nicht. Ich wollte nur nicht, dass du mich irgendwann in der Nacht wie eine Irre anklingelst, weil ich noch nicht da bin. Ich bleib’ bei Mathieu, wenn schon mal seine Alten nicht da sind. Interessiert bei ‘ner Party vermutlich eh keinen, wer bis zum Morgen geblieben ist.«
»Also schlaft ihr in einem Bett. Und nachdem, was ich neulich ... also ich finde ... ihr wirkt bereits sehr vertraut. Ich möchte nur nicht, dass ...«
Der Jugendliche langte in seine Hosentasche und zeigte ihr, was er in der Hand hielt. »Zufrieden?«
Wenn auch immer noch mit zweifelndem Gesicht, nickte Madame Walace. Sie wusste ja, dass Lucien kein Kind mehr war und diese Bedürfnisse normal waren, aber es erfüllte sie noch immer etwas mit Wehmut, wie schnell ihr kleiner Junge erwachsen geworden war.
»Obwohl es eigentlich total für den Arsch ist, wir und Gummis. Wir haben es beide noch nie gemacht, was sollen wir einander schon anhängen? Schwanger werden wir wohl kaum werden«, murmelte der Rothaarige, schob die Kondome in die Tasche zurück und seine Kaugummis in die andere.
»Wer auch immer von euch beiden ... also ... dem wird es bestimmt nicht unangenehm sein, wenn da etwas aufgefangen wird, meinst du nicht?« Muriel räusperte sich.
»Um ‘nen kleinen Einlauf zu verhindern, ist es schon gut, ja«, lachte Lucien los und seine Mutter errötete leicht. Der Jugendliche bemerkte es und grinste.
»Zu spät für ein Aufklärungsgespräch?«
»Zu früh, dich so reden zu hören oder mir auszumalen, wie du ... Agh, nein. Ich weiß, dass du weißt, was du tust.«
»Du willst dir nur nicht vorstellen, wie es mir ein anderer Kerl besorgt, kannst du ruhig sagen«, prustete der Rothaarige los.
»Offengestanden denke ich, dass es bei euch beiden andersherum sein wird, aber das ist nur meine Einschätzung«, entgegnete Muriel schmunzelnd.
»Weil Mathieu aussieht wie ein Butterkeks? Unterschätz’ ihn mal nicht.« Lucien lächelte leicht. Das sollte man ganz und gar nicht tun, immerhin war vieles von dem, was zwischen ihnen passiert war, von dem angeblich so schüchternen Schulsprecher ausgegangen.
»Na, wie auch immer. Ich will das gar nicht wissen. Solange ihr euch gut fühlt und auf euch aufpasst, soll mir das recht sein. Und jetzt«, Madame Walace sah auf die Uhr, »solltest du losgehen, sonst überlege ich es mir anders und du bleibst hier.« Sie grinste, als Lucien eine aufsässige Schnute zog.
»Ich wäre schneller aus dem Fenster raus, als du ‘Hausarrest’ sagen könntest!«
»Ich weiß, Schatz. Na los, hau’ schon ab. Und übertreib’s nicht. Mit allem!«
Der Jugendliche schnappte sich seine Zigaretten von der Kommode und schob sie im Flur in die Jackentasche, bevor er diese anzog.
»Betrink’ dich nicht. Hast du etwas gegen Schmerzen dabei, für den Fall?«
»Ja, hab’ ich immer.«
»Gut, dann viel Spaß.«
»Bis Morgen, Maman!« Der Jugendliche winkte und zog die Haustür hinter sich zu. Beschwingt und guter Dinge sprang er die Treppe herunter und verließ das Wohnhaus auf der Straßenseite. Es war kühl und so zog er sich die Kapuze seiner Jacke über die Haare, bevor er die Hände tief in den Taschen vergrub und in Richtung des ruhigen Viertels marschierte, in dem Mathieu wohnte und hoffentlich schon auf ihn wartete.