Der Partylärm verstummte irgendwann in den frühen Morgenstunden und als Mathieu das erste Mal erwachte, war es noch dunkel. Sich reckend schob er den Arm Luciens von sich, sanft, um den Rothaarigen nicht zu wecken, und schwang die Beine aus dem Bett. Er hatte so jämmerlichen Durst bekommen, dass er davon wach geworden war. Leise stöhnte er, als er den Schmerz unter seiner Schädeldecke realisierte. Das nannte sich wohl Kater.
Innerlich kichernd sah er an sich herunter, obwohl er wegen der Dunkelheit gar nichts sehen konnte. Wo hatte Lucien seine Shorts hingeworfen? Mathieu zuckte mit den Schultern und zog sich den Morgenmantel über. Es schien ihm zu riskant, Luciens Hemd anzuziehen, das sicher groß genug war, um die Blöße des Blonden vollständig zu bedecken.
Mathieu drehte den Schlüssel im Schloss herum und horchte in den Flur. Es war fast vollkommen still, er konnte lediglich das Schnarchen mehrerer Leute hören. Offenbar waren nicht nur Celestes Freundinnen über Nacht geblieben, sondern auch einige andere. Die gedämpfte Partybeleuchtung war noch eingeschaltet und daher ausreichend für den Jugendlichen, um seinen Weg in die Küche zu finden, ohne über irgendeine Schnapsleiche zu stolpern. Am Küchenhahn goss er sich kaltes Wasser ein und trank es, langsam, in kleinen Schlucken und es fühlte sich an, als würde er eine Wüste wässern. Erst nach vier großen Gläsern gab Mathieus Körper endlich Ruhe. Mit einem Reserveglas in der Hand warf er einen Blick ins Wohnzimmer und fand dort Margerites Bruder Jaques und seine Kiffer-Studentenfreunde vor, die sich auf der großen Couch breit gemacht hatten. Ansonsten schienen alle anderen Gäste irgendwann im Laufe der Nacht abgehauen zu sein, während Mathieu sich mit Lucien amüsiert hatte. Den Kopf über das Chaos schüttelnd, schlurfte der Blonde wieder nach oben.
Die Pennbrüder rund um Jaques würden unter Garantie nicht bleiben, um beim Aufräumen zu helfen und Mathieu hatte sich bereits fest vorgenommen, Celeste und die beiden anderen Mädels nicht zu schonen. Ihre Party, ihre Hausarbeit!
Er betrat leise wieder das Zimmer und schloss hinter sich zu. Sollte sein Schwesterdrache vor ihm und Lucien wach werden, brauchte sie nicht zu sehen, dass die beiden in einem Bett geschlafen hatten. Auch nicht, dass der Rothaarige nackt schlief oder dass ihre Klamotten bis auf die Unterwäsche im Zimmer verteilt herum lagen.
Mathieu legte den Morgenmantel wieder über den Stuhl, stellte das Glas auf den Nachttisch und schob sich unter die warme Decke. Das ganze Zimmer duftete nach Lucien, seinem Parfum und seinen Kaugummis.
Der Rothaarige brummte leise und öffnete schließlich ein Auge. »Ist was passiert?«, fragte er murmelnd und rieb sich über das Gesicht.
»Nein. Ich hatte nur Durst. Magst du was? Ich hab Wasser.«
»Oh ja, bitte«, Lucien richtete sich leicht auf und nahm das Glas entgegen.
»Ich wollte dich nicht wecken.«
»Schon gut.« Der Rothaarige trank ein paar Schlucke und reichte das Gefäß zurück. »Komm’ wieder her.« Er legte Mathieu die Hand auf die Brust und schmiegte sich an seinen Rücken. Der Blonde schnurrte und kicherte.
»Hast du eine Latte?«
Lucien lachte leise. »Kann schon sein. Ich muss vielleicht mal, aber ich will nicht aufstehen.« Seine Lippen strichen über Mathieus Schultern und kurz darauf war der Rothaarige wieder eingeschlafen. Der Andere hielt Luciens Hand umschlossen und lauschte auf seinen Atem. Es war tatsächlich so wunderbar, wie Mathieu es sich vorgestellt hatte, dass es sein würde, eine Nacht mit dem Rothaarigen zu verbringen.
Sie hatten sich Zeit gelassen, einander erforscht, Hemmungen überwunden und jede Sekunde genossen und auch wenn sie den letzten Schritt nicht gegangen waren, fühlte sich Mathieu wie ein neuer Mensch. Wie eine Schlange, die aus einer viel zu kleinen Haut herausgeplatzt war, um zu wachsen. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht schloss er die Augen und schlief wieder ein.
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Mathieu erwachte, als es bereits hell, aber noch immer früh war. Eine Erschütterung hatte ihn geweckt und verschlafen öffnete er die honigfarbenen Augen, um sie verlegen wieder zuzukneifen. Ein Lachen brachte ihn dazu, sie erneut zu öffnen.
»Was bist du denn immer noch so schüchtern, Mathieu? Nach der Nacht hätte ich nicht gedacht, dass dich der Anblick noch schockt.« Lucien stand vor dem Bett, hüllenlos, das Glas in der einen und eine kleine Medikamentenverteilerdose in der anderen Hand.
»Sorry. Das kam unerwartet«, linste der Blonde unter der Decke hervor und grinste. Der Rothaarige kippte sich die kleine Batterie an Pillen auf die Handfläche, warf sie sich in den Mund und trank das Wasserglas leer. Knurrend verzog er das Gesicht und hustete.
»Alles gut?«
»Ja, nur was in den falschen Hals bekommen.«
»Wogegen ist das alles?«
»Hauptsächlich, um Krampfanfällen vorzubeugen. Milde Chemo, so nennt es mein Arzt.« Lucien zuckte mit den Schultern und klaubte seine Jeans erneut auf, um seine Kaugummis herauszunehmen.
»Hier, Lahmarsch, die schenk’ ich dir«, grinste der Rothaarige und warf dem Anderen die Kondome aus seiner Tasche zu. Mathieu fing sie auf und errötete.
»Auch eins?« Lucien hielt ihm das Kaugummipäckchen hin und der Blonde nahm sich einen Streifen. Er verzog erneut kurz das Gesicht wegen der anfänglichen Schärfe und streckte sich wieder entspannt unter seiner Decke aus, doch zuckte gleich darauf erschrocken hoch, als Lucien diese anhob und mit einem Kichern darunter krabbelte.
»Hey!«, keuchte Mathieu gepresst und spürte, wie sich sein Körper lustvoll verkrampfte, als die Hände des Rothaarigen, gefolgt von dessen Zunge und federleichten Küssen, über seine Haut glitten und schließlich an seinem Schlüsselbein ankamen. Lucien lachte leise, presste verschmust seine Nase gegen die Kehle des Blonden und blieb einfach auf ihm liegen.
Mathieu schlang ihm die Arme um den Nacken und schloss die Augen. Etwas Schöneres als diesen Moment würde es unmöglich jemals wieder geben können.
»Sollen wir aufstehen oder einfach so liegen bleiben?«, fragte der Rothaarige leise murmelnd und der Blonde konnte spüren, wie dessen Wimpern seine Haut kitzelten.
»Am liebsten würde ich für immer so bleiben wie jetzt. Ich will nicht aufstehen, es soll wieder Nacht sein!«
Lucien nickte nur leicht und seufzte. Auch er wollte nicht wieder raus in die Welt, in der er so tun musste, als würden er und Mathieu sich nicht nahe stehen. Es könnte alles so verflucht einfach sein, sie könnten zusammen sein wie jedes andere Paar, wenn die Familie Grantaine nicht so verdammt verbohrt wäre.
»Weißt du was?«, der Rothaarige stemmte sich hoch und sah Mathieu ins Gesicht.
»Hm?«
»Ich hab keine Lust mehr auf ein Versteckspiel.«
»Soll heißen?« Mathieu wickelte eine von Luciens zerzausten Haarsträhnen um seinen Zeigefinger.
»Im Grunde hast du bei deinen Eltern eh schon verschissen, nur weil du einfach da bist. Ist es da nicht vollkommen latte, was du in ihren Augen noch falsch machst? Ist der Ruf erst ruiniert, du weißt schon ...«
»Du meinst, ich soll es ihnen einfach ins Gesicht schmieren?«
Lucien streichelte Mathieus Schulter mit seinen Lippen. »Ich will dich nicht drängen. Ich ... hasse es nur, dass ich mich verstellen muss, wenn wir irgendwo unter Leuten sind. Du nicht auch?« Der Rothaarige rollte sich von dem Anderen herunter und blieb neben ihm in den Kissen liegen. Seufzend verschränkte Lucien die Arme hinter seinem Kopf und sah an die Decke. »Ich weiß, ich hab leicht Reden. Bei mir ist es egal, was die Leute über mich sagen, ich muss damit nicht leben, du schon ...«
»Ich weiß nicht, als was du das hier siehst. Denkst du, ich halte es geheim, solange du lebst und tue dann so, als wären wir nie gewesen? Nein«, Mathieu lehnte sich an Luciens Schulter und strich ihm mit den Fingerspitzen über die Brust.
»Nicht?«
»Nein. Du wirst nicht mein schmutziges schwules Geheimnis sein, das ich mal als Teenie hatte und das nichts verraten kann, weil es leider nicht lange genug gelebt hat. Dafür ist es zu wichtig.« Der Blonde spürte, wie sehr sein Gesicht glühte, doch das war ihm egal.
»Du magst mich, Grantaine«, gluckste Lucien leise und Mathieu nickte.
»Ein bisschen mehr als geplant, fürchte ich.«
»Das ist schön«, lächelte der Rothaarige der Zimmerdecke entgegen und der Andere bemerkte, dass seine Ohren sich gerötet hatten. Lucien wurde selten rot im Gesicht, doch seine Ohrspitzen verrieten ihn immer. Das brachte Mathieu zum Lachen und er drückte sein Gesicht gegen den Hals seines Freundes.
»Ja, weißt du was? Drauf geschissen.«
»Was, bitte?«
»Schocken wir Celeste und alle anderen. Ich habe es so über, das Einzige zu verstecken, was es zur Zeit überhaupt erträglich macht, in dieser Familie zu leben.«
»Selbst wenn es dann erstmal schwieriger wird?«
»Sag’ mal, du«, knurrte Mathieu scherzhaft, setzte sich auf und packte Luciens Handgelenke. Dieser machte ein aufreizend unschuldiges Gesicht und spitzte die Lippen.
»Ja, Cheri?«
»Erst sagst du, du willst es so und jetzt, wo ich sage, lass’ es uns machen, bekommst du Zweifel? Willst du mich veralbern, Walace?«
»Aber nein, Minou«, schnurrte der Rothaarige leise, machte sich mit einer flinken Bewegung los und packte Mathieu. Es überraschte diesen immer wieder auf’s Neue, wie stark Lucien war, denn der zog ihn mit einem Ruck auf seinen Schoß und anschließend zu sich herunter, um ihn zu küssen.
»Das ist eine gefährliche Position hier«, murmelte Mathieu an Luciens Lippen und kicherte.
»Ach, wenn du irgendwo draufrutschst, wirst du das schon merken«, lachte der Rothaarige und fuhr mit den Fingernägeln über Mathieus Rücken.
»Ich hoffe nicht. Ich hätte das gern bewusster und nicht als einen Unfall«, gluckste der Blonde und fiel auf der anderen Seite von Lucien wieder auf die Matratze.
»Bewusster tut aber vielleicht weh?«
Mathieu zuckte mit den Schultern. »Dann musst du dir eben Mühe geben. Oder ich räche mich«, er kicherte. »Ich bin hier nämlich nicht der Einzige, der was einstecken kann, wenn du verstehst.«
Der Rothaarige lachte. »Ja, ich verstehe genau, was du meinst, Baby. Meine Mum meint allerdings, dass du derjenige bist.«
»Der was tut?«
»Unten liegt.«
»Oh Shit, über was redet ihr eigentlich?«
Lucien prustete los und strich sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich habe ehrlich keine Ahnung. Sie will sich wohl nur nicht vorstellen, wie es mir einer besorgt.«
»Ich würde auch nicht wollen, dass sich meine Mutter so etwas bildlich vorstellt, eww«, Mathieu verzog das Gesicht. »Oder überhaupt jemand, das ist doch nicht gesund.«
»Nee, irgendwie nicht. Aber Menschen sind nun mal sexuelle Wesen.« Gähnend streckte der Rothaarige sich und stieß ein wohliges, halb knurrendes, halb schnurrendes Geräusch aus. »Hmmm, ich hab Hunger.« Er reckte sich quer über das Bett und angelte nach seiner Jeans, um das Handy aus der Tasche zu fummeln.
»Mann, es ist erst acht. Wann haben wir geschlafen?«
»Keine Ahnung, um drei? Halb vier? Aufs Zimmer sind wir irgendwann um Mitternacht gegangen, glaub ich.«
»Warum sind wir dann schon auf? Ich meine, okay, du hast gesoffen. Kein Wunder, dass du nicht mehr pennen kannst ... aber ...« Lucien kratzte sich am Kinn und zuckte schließlich die Schultern. »Drauf geschissen. Wenn wir schon wach sind, können wir auch den Rest des Buffets aufessen. Ist schließlich nicht verkommen über Nacht.«
Er schwang die Beine aus dem Bett und streckte sich wieder, nur um mit einem Grinsen nach unten zu schauen, als Mathieus Hand sich von hinten auf seinen Bauch legte. Der Blonde küsste Luciens Rücken und arbeitete sich bis zu den Schultern hoch, bevor er ihm die Arme umlegte und sich an ihn lehnte. »Bist du sicher, dass du schon runtergehen willst?«
Als wollte er antworten, knurrte Luciens Magen laut und der Jugendliche lachte verlegen auf. »Oops. Ich hätte gestern Abend ein bisschen mehr essen sollen.«
»Och Menno«, quengelte Mathieu scherzhaft und sah dem Rothaarigen dabei zu, wie der in seine Klamotten stieg.
»Ich würde gern mal dabei zusehen, wie du dich ausziehst. Heut’ Nacht ging das irgendwie unter.«
Lucien schmunzelte. »Meinst du, ich habe das Zeug zu einem Stripper, oder was?«
»Wenn du beim Ausziehen so sexy bist wie beim Anziehen, dann ja.«
Der Rothaarige musterte den Anderen, der noch immer nackt auf dem Bett saß, nur spärlich von einem Zipfel der Decke bedeckt, und konnte sich ein dreckiges Grinsen nicht verkneifen. »Es hat mir gefehlt, dich so zu sehen, muss ich zugeben.«
Mathieu lief rot an und zog den Stoff mehr über sich.
»Nicht doch, Grantaine. Du hast nichts zu verstecken. Keine Body Issues, nicht vergessen! Nichts von dem, was ich hier sehe, habe ich nicht berührt ... auf die eine oder andere Art. Ich kenne dich« Lucien hielt ihm lächelnd die Hand hin und zog den Blonden aus dem Bett.
»In der Nacht war es dunkel. Ich bin’s nicht gewöhnt, mich so vor jemand anderem als meinem Spiegel zu zeigen«, murmelte Mathieu verlegen in den Hemdkragen des Rothaarigen und erschauderte, als Luciens Finger über seinen Rücken glitten.
»Das wirst du noch, hoffentlich«, schnurrte der ihm ins Ohr, bevor er ihn spielerisch zwickte. »Komm’, zieh’ dich an und lass’ uns mal schauen, wie katastrophal der Vormittag werden wird.«
»Du willst beim Aufräumen helfen?« Mathieu hielt verdutzt an der Schranktür inne und Lucien zog eine seiner dunklen Brauen hoch.
»Natürlich. Meinst du, ich lasse dich mit deinem Kater alles allein machen? Deine Schwester und ihre Primadonnen kann man bestimmt vergessen. Wenn ich dabei bin, treib’ ich die Hühner schon ordentlich an. Ich hab’ gestern nichts getrunken von dem Suff, mir geht’s gut.«
Der Schulsprecher lächelte. »Du siehst auch gut aus. Deine Augenringe sind weg und du bist nicht so blass.«
»Endorphine, jede Menge davon. Ich verstehe jetzt, was die Leute meinen, wenn sie sagen, Sex oder vielmehr Orgasmen ersetzen den Schlaf.« Der Rothaarige grinste breit und bleckte die Zähne, was Mathieu kichern ließ.
»Wir haben doch geschlafen. Wie Steine. Es war wunderbar.«
Lucien nickte und packte sich die Zudecke, die er ausschüttelte und auf dem Bett glattstrich, während der Blonde in Shorts, eine dunkle Trainingshose und ein einfaches weißes T-Shirt schlüpfte.
»Also ... sind wir uns einig? Kein Verstecken mehr?«
Mit einem feinen Lächeln schüttelte Mathieu den Kopf. »Nein. Wenn ich das Bedürfnis habe, dir nahe zu sein, werde ich das tun. Aber ... ein bisschen Angst hab’ ich schon ...«
Lucien zupfte an seinem Shirt. »Wenn es Ärger gibt, kommst du zu uns. Das meine ich ernst. Wenn hier irgendwas passiert, ruf’ mich an und ich komme dich holen. Notfalls mit Sasha im Schlepptau, der macht genug Eindruck bei den meisten Menschen. Okay? Aber ... wenn du lieber doch nicht willst, ich würde das verstehen ... Es geht ja auch so irgendwie.«
»Ich hab’ zwar gesagt, dass ich den rotzigen Lucien lieber mag, aber der hier fängt an, mir zu gefallen. Du bist süß wie ein Hundewelpe«, schmunzelte der Blonde und strich dem Anderen mit den Fingern durch die Haare.
»Wenn es nicht du wärst, Grantaine, würde ich nicht zulassen, dass mich jemand so nennt«, knurrte Lucien leise, machte einen Schritt näher an Mathieu heran und legte ihm die Hand auf den Rücken. »Aber du darfst das.«