Die Androhung, dreckige Pappteller, Essensreste und klebrige Becher aus ihrem Zimmer räumen zu müssen, hatte Celeste schließlich dazu gebracht, sich doch dem Willen ihres Bruders zu beugen, wenn auch widerwillig, lauthals fluchend und alles und jeden anzickend.
Die beiden Jungen konnten die bösen Blick auf sich wie Nadeln spüren, wann immer sie dem Mädchen über den Weg liefen, sei es beim Heraustragen des Mülls gewesen oder bei einer Begegnung auf dem Flur.
»Bereust du’s schon?«, fragte Lucien gegen Mittag, als er und Mathieu eine Zigarettenpause auf der Bank im Garten machten. Der Rothaarige hatte sein Hemd ausgezogen und das Bein auf der Sitzfläche angewinkelt, hielt die Kippe im Mundwinkel und hatte den Kopf gen Sonne erhoben, die durch die nur leicht herbstlich gefärbten Bäume schimmerte. Es war erstaunlich warm für Mitte November und der Blonde lehnte sich etwas gegen ihn.
»Nö. Ich hatte ehrlich mit etwas mehr ... Gewalt gerechnet als nur einer Ohrfeige. Ich hätte gedacht, sie kratzt mir die Augen aus oder so.«
»Die setzt wahrscheinlich nur zum Sprung an.«
Mathieu brummte leise. »Irgendwie tut sie mir auch ein bisschen leid, wenn ich mal ganz aufrichtig bin.«
»Ja?«, Lucien drehte ihm das Gesicht zu und strich sich die Haare aus den Augen.
Nickend sah der Blonde ihn an. »Ja. Ich glaube, ich kann es gut nachvollziehen, wie weh das tut. Wenn ich mir vorstelle, dass es andersherum wäre ...«
Der Rothaarige lachte leise und pustete den Rauch in den Himmel. »Wenn es andersherum wäre, hätte sich das hier gar nicht erst entwickelt, meinst du nicht? Also ich denke, ähm ... wenn ich nicht so ... verwirrt gewesen wäre, hättest du vielleicht nie darüber nachgedacht, dass du es vielleicht auch bist. Ach, ich labere einen Quark. Ich meine, wenn ich sie hätte haben wollen, hätte ich das schon vor ‘nem halben Jahr haben können. Wenn mein Interesse an Mädchen groß genug wäre, hätte ich nur auf ihre Reize geachtet. Wie fast alle anderen das tun, die auf deine Schwester stehen. Die sehen nur ihre Möpse und schalten ihr Hirn aus. Ich bin aber keiner, der nur mal drüberrutschen will, das ist selbst Celeste gegenüber nicht fair, auch wenn sie ein Besen ist.«
»Du bist viel netter als dein Ruf dir nachsagt, du Softie«, kicherte Mathieu leise und hob den Kopf in die Sonne.
»Du meinst, ich habe Prinzipien, Grantaine. Ich bin geil wie ein Bulle, aber ich würde trotzdem nicht jeden x-beliebigen Menschen in meinem Bett wollen. Ich finde, das ist nicht so verkehrt.«
Der Blonde schmunzelte und legte Lucien die Hand auf den Oberschenkel. »Nein, das ist ganz okay, denke ich.« Mathieu griff sich die Zigarette des Rothaarigen und nahm einen Zug. Lucien zog grinsend die Augenbraue hoch, als der Andere zu husten anfing.
»Du schockierst mich, Mathieu. Da ist Gras drin, das solltest du vielleicht wissen.«
»Was?«, quiekte der Blonde mit feuchten Augen.
»Nur ein Scherz«, lachte Lucien und nahm die Kippe zurück. »In den Mentholdingern nicht. Aber ich hab noch andere mit normalem Tabak, die sind mit Hasch versetzt. Wenn du also nicht total breit in der Schule sitzen willst, solltest du vorher fragen.«
»Du kiffst?«
»Nein, Mathieu. Aber ich habe Krebs«, die Stimme des Rothaarigen wurde leiser, damit sie niemand hören konnte. »Ich habe Anspruch darauf. Es lindert Beschwerden und Nebenwirkungen von Medikamenten.«
»Hilft das wirklich?«
»Mein erster Trip war so hart, ich bin noch nie so schmerzhaft gefallen. Die Dosis war zu stark. Jetzt ist es besser. Bin’s halt nicht gewöhnt, bin ja kein Kiffer und wollte nie einer werden.«
Lucien stand auf und warf den Stummel in einen von Madame Grantaines Blumenkübeln, bevor er sich streckte und die Haare ausschüttelte.
»Machst du das eigentlich mit Absicht, damit ich sehe, wie fabulous deine Mähne ist?«, kicherte Mathieu und musterte ihn unverhohlen.
Der Rothaarige lachte und drehte sich zu dem Anderen herum. »Vielleicht? Hast du nicht gesagt, du hast einen Kescher? Ich mach’ den Pool, solange es noch so warm ist.«
»Hmmmm, das fängt an wie ein schlechter Porno.«
Lucien zog verdattert die Augenbraue hoch, sah dem grinsenden Mathieu ins Gesicht und brach in Gelächter aus. »Ich denke, du kennst keine? Woher weißt du das dann?«
»Schlechte Internetmemes«, konterte der Blonde.
»Fehlt nur noch der obligatorische Strohhaufen oder die Hausfrau, die dem Paketboten in Strapsen die Türe öffnet«, heulte der Rothaarige und biss sich auf die Lippen, um mit dem Lachen aufzuhören. Schniefend wischte er sich über die Nase und die Augen, bevor er seine Zigaretten und das Handy aus der Hosentasche zog, auf die Bank legte und an den Rand des Schwimmbeckens trat.
»Schade, dass es nicht Sommer ist«, brummte er.
Mathieu hatte inzwischen den langstieligen Kescher aus einem kleinen Schuppen geholt und reichte diesen weiter. »Würdest du schwimmen gehen wollen oder was?«
»Klar. Dann würde es auch am Strand mehr Spaß machen.«
»Es wäre aber auch voller dort.«
»Ach, na ja ...«, Lucien tauchte das Netz ins Wasser und begann, die darin herumtreibenden Becher und Teller herauszufischen, während Mathieu ihm einen Moment zusah, kurz über seine Schulter streichelte und dann ins Haus zurückkehrte, wo er in der Küche auf Celeste traf, die mit versteinertem Gesicht angebrochene Wein- und Getränkeflaschen in den Ausguss leerte.
»Sag’ es einfach und bringen wir es hinter uns, bitte«, brummte der Blonde, dem es auf die Nerven ging, die ganze Zeit die kleinen Messerstichblicke im Nacken zu spüren.
»Ich hasse dich! Mehr gibt es nicht zu sagen. Ich lasse nicht auf mir sitzen, dass du, ausgerechnet du mir den Typen ausgespannt hast, niemals! Das wirst du noch bereuen, ich schwör’s dir.«
»Es tut mir leid«, entgegnete Mathieu aufrichtig.
»Nein. Noch nicht. Aber das wird es noch, wenn Papa davon erfährt!«
»Du weißt genau, dass er es dir genauso wenig erlaubt hätte, Luciens Freundin zu sein. Du kennst seine Einstellung zu den Walaces.«
»Aber ich, Mathieu, bin ein Mädchen! Du bist ein Junge, der sich von einem anderen Jungen vögeln lässt. Was, meinst du, ist in Papas Augen schlimmer, hm?« Das blonde Mädchen verzog spöttisch den Mund und ihre eisblauen Augen blitzten.
»Du machst mir damit keine Angst, Celeste. Nicht mehr. Ich war lange genug zu ängstlich, etwas für mich zu wollen. Ich schäme mich nicht dafür, was ich fühle, denn ich bin glücklich. Ganz egal, wie sehr du das zwischen Lucien und mir in den Dreck ziehst. Wir haben nichts getan, für das wir uns schämen müssten. Was dich, nebenbei bemerkt, auch gar nichts angeht. Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden und das habe ich getan.«
»Arschficker!«
Mathieu seufzte und rollte mit den Augen. »Wenn du Spaß daran hast, dir das vorzustellen, dann tu’ dir keinen Zwang an. Vielleicht hält dich das nachts besser warm als deine beißende Missgunst. Ich hätte es dir gegönnt, wenn es anders gewesen wäre, denn ich weiß zufällig ganz genau, wie du für Lucien fühlst. Dieses Gefühl teilen wir uns nämlich, Schwesterchen. Mit dem Unterschied, dass ich, wenn er dich gewollt hätte, nicht versuchen würde, es dir kaputt zu machen. Denk’ mal drüber nach.«
»Will ich gar nicht. Eine Schwuchtel ist es nicht wert, dass man nur noch eine Sekunde über ihn nachdenkt. Dieser Schlappschwanz, nicht Manns genug für eine Frau, da nimmt er sich eine dicke kleine Wurst, weil er damit leichter fertig wird.«
Celeste stellte die leeren Flaschen in einen Korb und hievte diesen auf den Küchentresen. »Hier, Pummelfee, vielleicht schaffst du es, das in den Flur zu tragen. Kann man ja nicht wissen, könnte ja sein, dass deine neu entdeckte Gayness dich jetzt noch mehr zu einer Pussy gemacht hat als vorher.«
Mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue verschränkte Mathieu die Arme vor der Brust und schürzte die Lippen. »Trag’ deine Flaschen mal schön selbst. So wie du aussiehst, hast du die Hälfte davon eh allein getrunken. Wo sind eigentlich deine nichtsnutzigen Haremsdamen abgeblieben?«
Das blonde Mädchen zuckte mit den Schultern und ließ ihren Bruder stehen, den Korb mit den leeren Glasflaschen schlichtweg ignorierend. Der Jugendliche knurrte leise und trug diesen schließlich doch in den Flur, wo bereits weitere standen, die nur darauf warteten, zum Altglascontainer gebracht zu werden.
Junge, hatten die Partygäste viel gesoffen! Fast alles an Getränken, die Monsieur Grantaine besorgt hatte, war aufgebraucht worden, dazu die, die Jaques mitgebracht hatte. Es wunderte Mathieu, dass es kaum Malheure gegeben zu haben schien. War er denn der Einzige gewesen, der hatte kotzen müssen?
»Hey, Cheri, der Pool ist fertig, was soll ich jetzt machen?«, hörte er Luciens schnurrende Stimme hinter sich und als Mathieu sich umdrehte, setzte dieser einen überspitzt sexy Gesichtsausdruck auf, der den Blonden zum Lachen brachte.
»Der Start eines schlechten Pornos?«
Lucien grinste und entspannte seine Körperhaltung. »Ja. Oh Mann, ich hab’ vielleicht Hunger. Ist noch irgendwas da, was nicht über Nacht ohne Deckel herumgestanden hat?«
»Im Kühlschrank sind noch einige Dosen mit Salat und so, ich hab das Essen ja schon weggestellt, damit es nicht oll wird.«
»Wo sind die Primadonnen?«
»Keine Ahnung. Celeste ist abgerauscht nach oben, die anderen, keine Ahnung. Drücken sich wahrscheinlich. Zu viel gesoffen. Schau’ dir das mal an hier, als hätten wir eine Kompanie gewässert!«
»Party halt, Grantaine. Normal«, gluckste der Rothaarige, hob die Bierkästen hoch und machte ein erfreutes Geräusch, als er tatsächlich noch ungeöffnete Flaschen fand. »Komm, Minou, wir essen jetzt Mittag. Lass’ doch die faulen Weiber vor sich hingammeln. Ich finde, wir haben gut was geschafft, auch ohne deren Hilfe!«
»Ohne dich würde es immer noch so aussehen wie heute früh«, murmelte Mathieu und folgte Lucien in die Küche, wo der frech den Kühlschrank öffnete und Tupper mit Nudelsalat, Schnitzel und Partyeiern herausnahm.
»Es zahlt sich wirklich aus, dass du gerne putzt«, schmunzelte der Blonde und nahm Besteck aus dem Schrank.
»Erzähl’ das nur nicht weiter«, gluckste Lucien, schob sich auf einen der Tresenhocker und öffnete die Dosen. »Na los, lassen wir es uns schmecken.«
Mathieu nahm neben ihm Platz und beugte sich, einem Impuls folgend, zu ihm, um ihn zu küssen. »Ich bin froh, dass du da bist.«
»Solange ich es kann, werde ich es sein«, entgegnete Lucien leise und mit seiner sanften Stimme. »Vielleicht darüber hinaus, denn wer weiß schon, was einen danach erwartet.«
»Etienne hätte sicher eine Antwort für dich«, schmunzelte Mathieu und pikste in eines der halbierten Eier.
»Ja, aber ich glaube nicht, dass das eine Antwort für mich ist. Oder meinst du, ich werde hinterher auf einer Wolke sitzen, in einem Nachthemd und mit einer schwulen kleinen Harfe?«
»Du würdest das vermutlich auch noch rocken«, lachte der Blonde leise und stützte seinen Kopf auf den Handballen, während er Lucien ansah. Der Rothaarige ließ alle Tischmanieren außer Acht und hatte sich den Mund so vollgestopft, dass er rote Wangen bekam.
»Iss’ doch langsam.«
»Aber«, nuschelte Lucien und kaute etwas mehr, »ich hab’ doch keine Zeit.«
»Hinterher kotzt du nur.«
»Das wäre schade«, der Jugendliche öffnete mit den Stiel seiner Gabel geschickt die zwei Flaschen, die er mitgebracht hatte und schob Mathieu eine davon hin.
»Ugh, kein Bier«, murmelte der und Lucien lachte.
»Ohne Nachos dazu wird dir schon nichts passieren. Das schmeckt prima zu dem Schnitzel.«
»Hmmm, Nachos und Käse«, kicherte der Blonde.
»Na, wenn du das so siehst, wird es wohl nicht das letzte Mal gewesen sein, dass du so was gegessen hast.«
»Nein, aber nicht mehr zusammen und nicht mehr so viel, dass sich mir plötzlich der Magen umdreht. Pfui, ich spüre das immer noch. Warum bekommt man solchen Hunger, wenn man gesoffen hat?«
»Nährstoffmangel? Ich bin ‘ne Niete in Bio, Grantaine, weißt du genau. Vielleicht senkt der Suff nicht nur die emotionale Hemmschwelle.«
»Die war auch niedrig genug gestern«, murmelte Mathieu und lief rot an.
»Immerhin warst du nicht so breit, dass du alles vergessen hättest. Das hätte ich dir aber übel genommen!«, kicherte Lucien und leckte sich etwas Majonaise aus dem Mundwinkel.
»Ich dir umgedreht auch. Und mir selbst. Was nutzt die beste Erfahrung, wenn man sie am Morgen vergessen hat?« Der Blonde schwieg einen Moment, die Röte in seinem Gesicht verstärkte sich und schließlich murmelte er: »Ich muss das Bett noch beziehen.«
Prustend beugte sich der Rothaarige über die Tupperdose. »Nicht geil, in dem ganzen eingetrockneten Zeug zu pennen, oder?«
»Was konntest du dich nicht auch ein bisschen zusammenreißen!«,
»ICH?«, lachte Lucien. »Ich will ja nicht sagen, dass ich gezählt hätte, wie oft du die Kanone abgefeuert hast, aber ich glaube, das meiste ist von dir, Grantaine.«
»Oh Gott, dieses Bild werde ich nie wieder los!«, heulte Mathieu und bettete lachend sein Gesicht auf den verschränkten Unterarmen.
»Da wird man nur vom Drinliegen schwanger. Also ja, zieh’ sie ab«, gluckste der Rothaarige frech und mampfte weiter, während der Blonde noch immer um Fassung rang und immer wieder aufs Neue zu lachen begann. Nicht mal das Klingeln von Luciens Handy konnte ihn davon abbringen.
»Oh, Mum«, murmelte der Rothaarige, schluckte seinen Bissen herunter und ging ans Telefon. »Salut, Maman.«
»Hallo, mein Schatz. Ich wollte nur mal hören, ob alles in Ordnung ist?«, erkundigte sich Madam Walace.
»Oh ja. Sorry, ich hatte ganz verpeilt, dir ‘nen Text zu schreiben. Wir sind seit Acht beim Putzen, ging irgendwie unter.«
»So früh schon? Hat es denn Spaß gemacht?«
Lucien warf einen Blick auf den noch immer glucksenden und um Fassung ringenden Mathieu, dessen Augen zu tränen begonnen hatten. »Du machst dir keine Vorstellung, wie sehr, Mum!« Der anzügliche Ton in der Stimme des Rothaarigen ließ eine weitere Lachwelle in dem Blonden losbrechen und er heulte los.
»Was ist das denn? Ist das Mathieu?«, fragte Muriel überrascht.
»Der ist noch nicht ganz nüchtern. Hatte ‘ne ... harte Nacht ... wortwörtlich.«
»Hör’ ... hör’ auf jetzt!«, japste der Blonde atemlos und wäre fast vom Hocker gefallen, wenn Lucien ihn nicht mit der freien Hand gepackt hätte.
»Fall’ nicht ‘runter, Trottelchen. Mum, ich weiß noch nicht, wann ich wieder heimkomme. Das Haus sieht aus wie Sau. Zwar nicht mehr so doll wie heute früh, aber doch genug. Ich bleib’ noch ein bisschen, okay?«
»Das finde ich lieb von dir, dass du deinem Freund hilfst. Sag’ nur Bescheid, ob ich Abendessen für dich mitmachen soll oder nicht, okay? Und ob du überhaupt nach Hause kommst.«
»Okey-dokey. Salut, Mama.« Der Rothaarige legte auf und drehte sich grinsend zu Mathieu um. »Ich glaube, ich hab das Okay, um noch eine Nacht von Zuhause wegzubleiben.« Er kicherte und der Blonde, der sich schniefend die Lachtränen aus den Augen wischte, lächelte leicht.
»Na, das sind doch mal tolle Neuigkeiten. Aber hast du denn noch Medikamente dabei?«
»Mach’ dir darum mal keine Sorgen. Komm’ jetzt, iss’ endlich, sonst hab’ ich alles allein vertilgt. Du wirst deine Kraft noch brauchen.« Anzüglich die Augenbraue hebend, schob Lucien sich einen weiteren Happen in den Mund und Mathieu schluckte schwer.