Der kommende Montag begann für Mathieu mit einer ungewohnten Unruhe. Er konnte nicht leugnen, dass er besorgt war, weil seine Eltern am Nachmittag wieder zuhause sein würden und er wusste sicher, dass Celeste ihnen bei der ersten Gelegenheit alles brühwarm auftischen würde, was am Wochenende geschehen war - natürlich, während sie sich selbst in dem besten Licht dastehen ließ, obwohl sie sich wie der letzte Faulpelz benommen hatte und rotzevoll gewesen war.
Doch noch etwas anderes nagte an dem Blonden. Die Stunde der Wahrheit wartete nicht nur im Bezug auf Monsieur und Madame Grantaine, sondern auch in der Schule selbst. Lucien und er wollten sich nicht mehr verstecken, doch der Jugendliche war trotzdem nervös, denn er mochte es nicht sehr, alle Aufmerksamkeit auf sein Privatleben zu ziehen.
Während er bereits vollkommen angezogen auf seinen Bett saß und an die Wand starrte, fischte er zur Seite und zog Luciens schwarzblau-kariertes Hemd an sich heran. Er ließ es durch seine Finger gleiten und presste es sich schließlich auf die Nase, worauf er tief durchatmete.
Nein, das war es wert. Er würde alles überstehen können, die neugierigen Blicke der Mitschüler, das Getuschel, das sicher folgen würde und den Zorn seines Vaters. Denn er hatte Lucien und dessen unbändige Kraft färbte auf Mathieu ab.
Mit einem Lächeln legte er das Kleidungsstück auf sein Kissen zurück, erhob sich und nahm seinen Rucksack, um sich in der Küche noch ein Brot für die Schule zu machen.
Er konnte seine Schwester noch immer im Bad rumoren hören und war froh, dass er seine Toilette bereits erledigt hatte. Mathieu verspürte kein Interesse daran, mit Celeste gemeinsam den Schulweg zu bestreiten. Die Frühstücksdose in die Tasche schiebend, zog er die Haustüre auf und sein Fahrrad unter dem Carport hervor.
Die Sonne schien und der Tag versprach, mild zu werden, was eine Abwechslung zu den Regenschauern des Wochenendes darstellte. Als wollte der helle Himmelskörper dem Jugendlichen Mut für den Nachmittag machen und das Unwetter, was über diesen kommen würde.
Seufzend trat der Jugendliche in die Pedale und kam, wie so oft, lange vor den ersten anderen Schülern am Lycée an. In Gedanken versunken schloss er sein Rad an und bedauerte einen Moment, dass Lucien und Etienne noch nicht da waren. Die kamen meist gleichzeitig an, auch wenn der Aschblonde im Süden der Stadt wohnte.
Der Schulsprecher hob den Kopf gen Sonne, zog den Schlüssel aus der Jackentasche und betrat das Gebäude, um in seinem Zimmer den Tag vorzubereiten und noch ein bisschen zu lernen. Er hatte noch beinahe vierzig Minuten, bis die erste Stunde begann.
Vor sich hin summend verstaute er im Raum der Schülervertretung seine Bücher in seinem Spind, packte den Turnbeutel mit frischen Sachen hinein und auch sein Lunchpaket. Das schwere Geografiebuch, das er für die erste Stunde brauchte, lag noch auf dem Tisch. Ob sich Monsieur Cartier inzwischen beruhigt hatte von der angeblichen Schmach, dass er Luciens Strafe hatte ändern müssen? Der Mann war furchtbar nachtragend.
Als die Tür hinter dem Jugendlichen aufging, wandte er das Gesicht herum, in der Hoffnung, es wäre der Rothaarige. Doch dann fiel Mathieu ein, dass dieser immer zuerst mit der Faust gegen das Holz schlug, bevor er die Tür öffnete.
»Du musst nicht so enttäuscht gucken«, sprach ihn Anais an, die zwei Schritte in den Raum gekommen war und dann in Mathieus Gesicht gesehen hatte.
»Tu’ ich doch gar nicht«, murmelte dieser und drehte sich wieder herum.
»Du schaust, als hättest du jemand anderen erwartet und ich glaube auch zu wissen, wen«, entgegnete das brünette Mädchen, legte ihre Tasche auf einen der Tische und hängte ihre Jacke auf. Mathieu fühlte sich ertappt und konnte die Wärme in seinen Wangen spüren, doch er ließ sich nichts anmerken.
»So?«
»Ja. Ihr wart mehr als vertraut, Freitagabend!«
Der Blonde drehte sich zu seiner Assistentin um, denn diese hatte bissiger geklungen als er es von ihr gewöhnt war. »Wie bitte?«
»Ach, komm, Mathieu. Ich habe euch gesehen. Dich und Lucien. Du warst wohl bereits zu besoffen, um es zu kapieren. Vielleicht hast du es auch nur deswegen gemacht ... ausgerechnet er!« Anais schnaubte entrüstet.
»Und was hast du gesehen?«, fragte der Schulsprecher, bevor er sich räusperte.
»Ihr habt geknutscht! Das brauchst du gar nicht abzustreiten, ich hab es...«
»Das tue ich auch nicht, Anais. Lucien ist mein Freund«, unterbrach Mathieu sie ruhig und mit fester Stimme. Die Brünette stoppte in ihrer Rede und sah ihn aus ihren himmelblauen Augen heraus überrascht an.
»Dein fester ...?«
»Mein fester Freund, ja. Wie Freund und Freundin, nur eben Lucien und ich. Genau.«
»Du ... du bist ... schwul?« Anais flüsterte fast und ihre Wangen hatten sich gerötet.
»Ich weiß nicht.«
»Aber wenn du mit einem Jungen, dann ... dann ...«
»Ich muss da kein Label draufklatschen. Vielleicht bin ich es, vielleicht nicht. Das ist doch auch total egal, oder? Vielleicht ist es auch nur diese berühmte ‘Phase’«, der Blonde machte Gänsefüßchen. »Ist mir aber alles egal, denn im Moment ist es so, wie es ist und es fühlt sich einfach gut an.«
»Okay«, hauchte das Mädchen leise und blinzelte. Sie hätte mit allem gerechnet - dass Mathieu sich vielleicht in die wirklich unübertroffen wunderschöne Angelique verguckt hätte oder auch in Noelle, deren seidige Schokoladenhaut einfach makellos war. Solange es nur ein Mädchen gewesen wäre, doch es war ausgerechnet Lucien! Wie sollte sie damit konkurrieren, wenn der Junge ihrer Träume, in den sie verliebt gewesen war, seit sie einander kannten, sich zu seinesgleichen hinneigte?
Das ganze Wochenende hatte Anais sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie da zwischen Mathieu und dem unverschämten Rothaarigen gesehen hatte, sie hatte versucht, Erklärungen zu finden, die nicht damit endeten, dass sie einander geküsst hatten, doch allein die Art und Weise, wie der Blonde seine Finger in die langen Haare des Anderen gekrallt hatte, war im Grunde Beweis genug gewesen. Wie konnte das passieren? Wie konnte Mathieu, der immer am lautesten über Lucien Walace geschimpft hatte, sich nun ausgerechnet mit diesen einlassen? Wie hatten die beiden ein Paar werden können?! Anais fühlte sich, nun da sie die Wahrheit kannte, als hätte man ihr etwas existenzielles aus den Fingern gerissen, etwas, das immer dagewesen und nun zerbrochen war. Sie hatte immer, auch wenn Mathieu ihr nie einen Anlass dazu gegeben hatte, gehofft, sie beide würden irgendwann etwas werden können. Wie naiv sie doch gewesen war! Viel zu lange war sie untätig gewesen, zu feige, um ihm ihre Gefühle zu gestehen und nun hatte es ein anderer getan und Mathieu war für sie verloren. Anais presste die Lippen zusammen, blinzelte erneut und zwang sich dann zu einem Lächeln.
»Bist du glücklich?«, fragte sie flüsternd und ihr Herz machte einen Satz, als der Blonde zu lächeln anfing, so unbeschwert und heiter, wie sie es schon lange nicht mehr auf seinem Gesicht gesehen hatte.
»Ja, das bin ich.«
»Dann bin ich es auch. Ich freu’ mich für dich«, murmelte Anais mit so viel Aufrichtigkeit, wie sie aufzubringen imstande war, bevor sie ihre Tasche ergriff und den Raum verließ.
Es war die Wahrheit. Sie wollte, dass Mathieu glücklich war. Sie war nicht so egoistisch, ihm etwas zu zerstören, nur weil das Gefühl der Eifersucht ein Loch in ihr Herz fraß und sie sich am liebsten in einer Grube verkriechen wollte, um zu sterben. Sie konnte diesem Arsch Lucien Walace nicht vorwerfen, dass er mutiger gewesen war als sie. Es fiel Anais schwer, sich die beiden als Pärchen vorzustellen, weil sie weder bei dem Trotzkopf noch bei dem Schulsprecher je erwartet hätte, dass sie so gepolt sein könnten, doch wenn es so war, dann würde sie sich da heraus halten. Es ging sie nichts mehr an. Sie war Mathieus Freundin, auch weiterhin, seine Assistentin, seine Stellvertreterin und gute Schulkameradin. Nicht weniger. Aber eben auch nicht mehr.
Sie bewegte sich durch die Mitschüler hindurch, die sich allmählich in den Fluren zu sammeln begannen und als sie an Lucien und Etienne vorbeiging, die gerade in das Gebäude kamen, warf sie dem Rothaarigen einen Blick zu, der durchaus als böse zu verstehen war. Sie konnte ihm zwar keinen Vorwurf machen, dass er sich Mathieu gekrallt hatte, denn der war einfach süß und lieb, doch das hieß nicht, dass sie Lucien deswegen jetzt mögen musste. Er war immer noch ein blöder Störenfried, der auf jede Regel pfiff und sich anderen gegenüber scheiße benahm!
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Lucien bemerkte den flammenden Blick des brünetten Mädchens nicht, weil er gerade auf seinem Handy herumtippte, aber sehr wohl Etienne, der leise zu kichern anfing.
»Ist was?«, hob der Rothaarige den Kopf und sah ihn an.
»Ich glaube, du bist gerade bei fünfzig Prozent der Schülervertretung auf eine Hassliste gerutscht. Dass Anais so böse schauen kann, versetzt mir fast Alpträume.«
Lucien drehte sich herum und konnte das Mädchen gerade noch zwischen einigen anderen ausmachen. »Vermutlich der rote Drache, die war letzte Woche schon so komisch drauf.«
»Oder was anderes«, gluckste Etienne. »Nur Mathieu ist offensichtlich entgangen, wie verliebt sie in ihn ist.«
»Tja, Pech«, zuckte der Rothaarige die Schultern und schob das Handy in die Hosentasche. »Wenn sie es nicht wagt, kommt ein anderer und nimmt ihr weg, was sie sich wünscht. Logische Folge.«
»Kommst du, meinst du.«
»Hast du in der Witzekiste geschlafen, Legrand? Du bist so lustig heute morgen.«
»Warum bist du es nicht? Du hast zwei Nächte bei ihm übernachtet, war das nicht gut?«
Lucien grinste und warf dem Anderen einen Seitenblick zu. »Es war fantastisch. Nur hab’ ich dafür letzte Nacht nicht gut gepennt. Ich brauchte echt ein Schlafmittel.«
»Schmerzen?«
»Bisschen. Dumpf. Tat nicht weh, aber ich konnte auch irgendwie nicht liegen, alles drückte, wie eine richtig miese Migräne. Total beschissen.«
»Na, dann hoffe ich mal, dass sich deine Laune noch bessert.«
Der Rothaarige hielt vor seinen Spind und zog die Braue hoch. »Ich habe gute Laune. Wie kommst du darauf, dass es anders ist?«
»Weil wir gleich Geo haben?«
»Ach ... Cartier, ja ... gut, der kann einem schon die Grütze verhageln ...«, der Jugendliche stutzte und sah über seine Schulter. »Sag’ mal, hab’ ich was in Gesicht oder bilde ich mir ein, dass mich irgendwie alle anstarren?«
»Ich glaube, das ist keine Einbildung. Schau, da!«, Etienne ruckte mit dem Kopf und Lucien konnte Celeste an einer der Bänke ausmachen, umgeben von ihrem Harem. Die Mädchentraube war eifrig am Tuscheln und immer wieder drehten sich die Gesichter zu dem Rothaarigen. Offenbar gab sich das blonde Gift alle Mühe, die neuste Neuigkeit so schnell wie möglich unter allen Schülern zu verbreiten. Doch wenn sie dachte, sie könnte Lucien damit an den Karren pissen, hatte sie sich geschnitten. Der Jugendliche brummte und wandte sich wieder ab.
»Mir egal, ihre fünf Minuten Ruhm. Dieses neidzerfressene Aas. Du hättest mal erleben sollen, was die uns Samstag alles an den Kopf geworfen hat. ‘Schwuchtel’ war noch das Netteste, gefolgt von ‘Schwanzlutscher’ und Schlimmerem.«
»Ich habe keinen Zweifel, dass sie selbst zu einem solchen geworden wäre, wenn du ihr die Gelegenheit gegeben hättest«, entgegnete Etienne geschraubt und wandte seinen Blick ebenfalls wieder von den tuschelnden Mädchen ab.
»Jede Wette. Da wurde auf das Übelste die Sexkarte ausgespielt, als wäre das alles, was Mathieu und mich aneinander interessieren würde.«
»Also habt ihr nichts ... in der Art gemacht?«, der Aschblonde sprach leise.
Lucien räusperte sich und antwortete: »Ähm ... wir hatten eine tolle Nacht, aber nein ... den letzten Schritt haben wir nicht gemacht. Noch nicht. Aber selbst wenn, würde ich das Celeste nicht ins Gesicht schmieren. Ich benutze einen zärtlichen Moment nicht als Waffe gegen eine Hexe!«
»Nein, das solltest du auch nicht. Es geht sie nichts an und sie würde es vermutlich nur in den Dreck ziehen, wie sie es ja jetzt schon tut.«
Schwungvoll schlug der Rothaarige seinen Spind zu und stopfte die benötigten Bücher zu seinen Schreibsachen in den Rucksack. »Dass Mathieu mir so nahe gekommen ist wie sie es gern wollte, hat ihr gereicht, um ihn als Männerflittchen hinzustellen. Gleich nachdem sie ihm ins Gesicht geschlagen hat. Das sagt ‘ne Menge, oder?«
»Versteh’ das einer. Es bringt ihr doch gar nichts.«
Lucien zuckte die Schultern, hob den Kopf in die Menge und begann plötzlich zu lächeln. Etienne folgte seinem Blick und auch er konnte ein Schmunzeln auf seinen Lippen fühlen, als er den Grund für das Lächeln sah. Seinen besten Freund so zu sehen, mit geröteten Wangen und einem Ausdruck im Gesicht, der ihn weich und zärtlich aussehen ließ, rührte den Jungen mit dem mausgrauen Haar. Er gönnte es Lucien, so glücklich zu sein, denn dass er es war, war offensichtlich.
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Mathieu, der sich seinen Weg durch die Mitschüler bahnte, machte einen etwas unbehaglichen Eindruck, denn auch er hatte gemerkt, dass ihn alle ansahen und tuschelten. Verbissen presste er die Lippen zusammen, als er Celeste und ihre Freundinnen passierte, die kicherten und hämische Bemerkungen hinter ihm herriefen. Der reinste Kindergarten und die wollten die Zukunft Frankreichs sein?
Der Blick des Blonden ging wie von selbst zu der Stelle, an der Etienne und Lucien ihre Spinde hatten und als er sah, dass der Rothaarige ihm entgegensah, sprang Mathieus Herz leicht von unten gegen seinen Hals. Er straffte die Schultern und bewegte sich auf die beiden zu.
»Salut«, presste er hervor und schloss die Augen, als das Lachen der Mädchentraube wieder aufbrandete. Röte breitete sich auf seinen Wangen aus und es war schwer zu sagen, ob aus Wut oder Verlegenheit.
»Salut«, schnurrte Lucien und streckte die Hand nach Mathieu aus, der sie ergriff und schließlich einen Schritt an den Rothaarigen herantrat. Dem war es egal, ob die ganze Schule sie anstarrte, für ihn gab es nur den eingeschüchtert wirkenden Jungen vor sich.
»Hast du gut geschlafen, du bist irgendwie blass«, fragte Lucien leise und beugte sich etwas zu Mathieu, der nickte.
»Ich erinnere mich permanent daran, dass Gefängniskleidung mir nicht steht, kommt wahrscheinlich daher.«
Etienne gluckste bei der Antwort und zeigte wie schon beim ersten Mal, als er die beiden erwischt hatte, nicht den geringsten Funken von Irritation.
»Darf ich?«, flüsterte Lucien und der Schulsprecher nickte. Es bedurfte keiner weiteren Worte, um zu wissen, was der Rothaarige meinte. Er hatte Mathieu schon einmal zuvor gefragt, nachdem sie für einander beschlossen hatten, mehr als nur Lieblingsfeinde sein zu wollen.
»Ja, bitte«, hauchte der Blonde und schloss die Augen, als Lucien sein Kinn wie so oft in seine Finger nahm und seine Lippen auf den Mund des Anderen presste. Mathieu hob die Hand in Luciens Haare und für einen Moment waren der Schulflur und all die gaffenden Augen vergessen.