Der Bataillonshauptmann des stehenden Heeres Memnachs nickte zum Gruße und gönnte sich ein schelmisches Grinsen. »Ich weiß, dass du den Abmarsch hinauszuzögern versuchst. Bedenke, die Ernten stehen bevor und die Leute werden zuhause gebraucht.«
Auf einem Grauschimmel gesellte sich jener, der auf den Beinamen der ›Falke‹ hörte, zu den bereitstehenden. Ogriir war das erste Mal in Damerel, um welches sich die abenteuerlichsten Geschichten rankten. Er selbst war Thulene und befand sich inmitten des Landes der Körperlosen. Allein das war schon ein Widerspruch in sich.
Er zollte dem Land wie seinen Bewohnern den nötigen Respekt, vor allem jenen, die es wagten, sich in diesem frei zu bewegten. Dennoch kam ihm bisweilen nichts Befürwortendes über diese Ländereien zu Ohren und beschloss sicherheitshalber vierzig unter Waffen stehende sie begleiten zu lassen. Der ›Falke‹ führte lediglich fünf mit sich. Das Banner Memnachs und darunter das des hiesigen Landes hing schlaff auf der mitgeführten Standarte.
»Willst du eine der umliegenden Siedlungen besetzen«, erkundigte sich dieser, anstatt des Geäußerten zu begegnen. Er wollte den Abzug der vielen Helfer wahrhaftig verzögern, allem voran, weil eine gewisse Person mit ihnen reisen würde.
Beinahe ebenso wichtig schien ihm die einmalige Möglichkeit, seinem mittlerweile zum steten Freund gewordenen, thulenischer Herkunft, von der Freiheit dieses Landes zu überzeugen. Er wollte ihm und seinen Männern nahelegen, Damerel aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Gewiss, viele der Gerüchte waren nach wie vor existent, aber waren diese auch allgegenwärtig?
Ogriir beugte sich vor und sprach verhalten. »Warum durchstreift dein Bruder die freien Landstriche?«
Angesprochener hob die Brauen und schien irritiert. »Befriedet ist gut. Damerel ist Grenzland und oftmals reiten Abtrünnige ungehindert hindurch. Was glaubst du, wo er sich sonst aufhalten solle?«
»Mhm, deswegen frage ich dich.« Er blickte in fragende Augen, die nicht wussten, worauf er hinaus wollte. »In Memnach als auch Holmfirth gehen wechselhaft Berichte ein, dass der ›Falke‹ für seine Truppen rekrutiere.«
»Du meinst, er hält sich in Agrea auf? Hingegen bestehender Absprachen?« Er schüttelte den Kopf und verzog unweigerlich die Mundwinkel. »Wo glaubst du hin?«
»Er ruft dem Anschein nach nur die besten der Besten aus und bedient sich von jeder stehenden Rotte mit bis zu fünfundzwanzig Schwertarmen.«
»Dennoch, es klingt befremdlich und mit Verlaub. Ich weiß nichts von derlei.«
»Dachte ich's mir. Er war schon damals ein eigenständiger Kopf und stets für Überraschungen gut.«
Mehr zu sich selbst gesprochen als zu seinem Freund, rieb er sich gedankenverloren das Kinn. »Was hat er vor?«
»Fragen wir ihn, sobald wir ihn sehen. Dabei kann er uns dann auch erklären, wieso er für die Neubesiedelung Damerels wirbt.«
Der ›Falke‹ klopfte seinem Schimmel auf den Hals. »Reiten wir. Ich reiße ihm das Herz heraus«, schmollte er.
Ogriir begann zu lachen. »Ihr seid keine Brüder, ihr seid wie Hund und Katze.«
Nachdem die wärmenden Strahlen der aufsteigenden Sonne es endlich vollbrachten die feucht klebrigen Schwaden des allgegenwärtigen Nebels zu lichten, präsentierte Damerel seine wahre Vielfältigkeit.
Saftig grünglänzende Wiesen mit allerlei bunter Blumenpracht, soweit das Auge reichte. Fleißige Insekten summten umher und vollführten einen scheinbar unkoordinierten Flug von einer Blüte zur nächsten.
Bienen produzieren, so das Gerücht, leckeren Sirup. Ein gelblich klebriges Zeugs, mit welchem die Südländer allerlei Esswaren süßlich bereicherten.
Hinreichende Waldflächen, in denen vielerlei Wild frei von Jagd sein Leben lebte. Die Bestände an Rotwild, Wildschwein, Hasen und vielem mehr waren ungezählt.
Sie ritten langsam und genossen sichtlich das Wetter wie auch die Farbenpracht des augenscheinlich friedlichen Landes. Nach gefühlten zwei Stunden in abwechselnder Trab- und Schrittführung passierten sie eine der älteren Ansiedlungen mit reichhaltigem Nadelbewuchs im Hintergrund und unzähligen Schafen davor. Einige Wenige mit langen Stöckern bewehrter standen in dem Getümmel von schmutzigem Weiß und winkten. Ogriir deutete verwundert auf die niedrige Umfriedung, welche den Bewohnen keinen Schutz vor Einfallenden bieten würde.
»Bedenke, dass ihr einziger Feind auf vier Pfoten durch die Nächte streift. Gefährlich wird dieser dann auch nur den Herden.«
Die Bewohner des ›körperlosen Landes‹ lebten großteils unbehelligt, bis auf wenige Ausnahmen. Wenn umherstreifende Scharen verschiedenster Clans oder aufstrebenden Sippen sich in das verfluchte Land wagten, nahmen sie sich, was sie brauchen und forttragen konnten. Sie unterstanden keinem Geheiß und wurden von den Truppen Thules und seinen Häschern geduldet. Es kam unter ihnen mitunter zu Begegnungen, in welchem Handel und für die Anführer der Scharen lohnende Aufträge gefeilscht wurden.
»Und?«
Ogriir verzog fragend die Brauen. »Was meinst du«, verlangte er zu erfahren.
»Hast Du sie schon gesehen oder gespürt?«
Er besah den ›Falken‹ mit unsäglichem Blick. Sein rechter Nasenflügel begann zu zucken. »Scherze sollten hier nicht angebracht sein. Das Land trägt seinen Namen nicht ohne Grund. Die Seelen jener, die mein Volk auf den Gewissen hat, sind noch immer erzürnt.«
Sie ritten nah beieinander und Ogriir versuchte zu erklären, aus welchem Grunde das Blut seines Volkes Länder wie diesem mied.
Es war ihnen jederzeit möglich, Orte wie diesen zu betreten, jedoch wehrte sich ihr Körper oder vielmehr ihr Innerstes und so blieben sie solchen fern.
Berichten zur Folge würde das Herz Blut schneller und heißer als üblich durch die Adern pumpen. Der Magen krampfen und sich winden, Atemlosigkeit, Sehstörungen, Orientierungsverlust und ... Furcht. Einige sahen, was nicht zu sehen war. Hörten, was nicht zu hören war und spürten, was nicht zu spüren war. Diese und ähnliche Empfindungen waren bei manchem derart befindlich, dass sie an eben jene wahrhaft wähnten und ihrem Körper gestatteten, Schmerzen zu spüren. Wunden entstanden ohne das eine ersichtlich geführte Waffe diese eröffnete - andere starben daran.
Es hieße, dass die Urahnen Thules, welche aus dem nördlichsten Norden und den höchsten Bergen herb gestiegen kamen, okkulter Eusebie nachhingen. Diese Frommheit schenkte ihnen unerreichbare Lebenszeit, selbst unter den Reinblütigsten, erreichte niemand auch nur annähernd ihre Lebensspanne - bis auf die göttliche Herrscherin selbst.
Dieser Glaube war es, der sie von solchen Gegenden weitflächig fernhielt. Dieser hielt Körper wie Geist anfällig für mentale wie physische Übergriffe. Je Roter das Blut und je entfernter die Gesinnung vom Okkultismus desto weniger empfänglich schien der jeweilige Körper. Die Anderwelt kann niemandem von dieser etwas anhaben, es sei denn ein jener ist den Traditionen seines Volkes tief verbunden.
»Aber du kannst den ›flüsternden Wald‹ betreten, gar bis nach Falkenau hindurch.«
Der Thulene nickte und runzelte die Nase. »Ja, aber so war es nicht immer. Ich glaube sogar, dass dieses Land und dein Wald etwas gemein haben. Erinnerst du dich? Es war dein Zuspruch, der es mir ermöglichte Falkenau unbehelligt zu erreichen. Ich denke, dass es sich hier ähnlich verhält.«
Seine Worte entlockten dem ›Falken‹ ein Lächeln. Er hob die rechte Braue. »Du bist gekommen, um es herauszufinden. Du bist neugierig.«
Er sah seinem jungen Freund direkt in die Augen und meinte etwas erhascht zu haben, was er nicht hätte sehen sollen - es gehörte nicht dorthin. Er schwieg und behielt die offenbare Sinnestäuschung für sich. »Vor ungezählten Generationen entzweite sich mein Volk. Die einen blieben hoch im Norden, die anderen wendeten sich gegen Süden.«
Er atmete tief ein und stellte fest, dass einige der begleitenden Männer sich haben zurückfallen lassen. Sie bildeten vor wie hinter ihnen eine Keilformation. »Etwas stimmt nicht.«
»Der vorausritt, schau.«
Sie hielten inne und warteten auf den Nahenden. Schwerter wurden gelockert und Bogensehnen eingespannt.
Ungläubig hefteten seine Augen auf dessen des Vorausgeschickten, dieser war sichtlich außer Atem und gehetzt. »Bist du dir vollkommen sicher?«
»Ja Herr. Ich war mit euch in jener Schar, die anfänglich die Klippen durchstreifte.« Er bedeutete mit ausgestrecktem Arm in eben genannte Richtung, aus der er kam. »Das dort, hat nichts mehr mit der Ruine zu tun, in welcher wir bei dem Sturm kampierten.«
Der ›Falke‹ schnaubte aus und nickte. »Ich entsinne mich. Wir waren den vierten Tag in Damerel und bekundeten das Umland, als der Unwetter aufzog.« Er verzog die Brauen. »Schwarze Uniformen mit einem silbern schimmernden Wappen?«
Eifrig bejahte der Bote und knabberte auf der Unterlippe. Er schien nervös.
»An und um die alte Feste herum wird gebaut, sagst du? Siedler ergründen dort Land?«
»Ja Herr, ja und der Wind bläht ... euer Wappen.«
Ogriir hob besseren Wissens die Brauen und verschränkte die Arme. Tief holte er Luft. »Mir scheint ...« Er kratzte sich das Kinn und beobachtete den Boten, der mehr zu verstehen schien, als er bereit war zu gestehen.
»Silberne Falken und Schwarze Uniformen«, sinnierte er. Hob den Kopf und musterte das Banner seines Bannerträgers. Sein Kinn zuckte, als er hinüberwies. »Unsere Farben sind Blau und Gold.«
Memnachs Bataillonshauptmann schaute an seinem Freund vorbei und verengte die Augen zu schlitzen. Seine Brauen zeichneten Wellen wie auf wogendem Meer. Er schluckte und beleckte sich die Lippen. »Du siehst mehr als meine altersschwachen Augen, aber wenn das dort am Horizont kein Nebel ist ...«