Die fünfte Nacht neigte sich dem Ende und der thulenisch abstammende Wächter hegte Hoffnungen. Zumeist dauerte es keine drei aufeinanderfolgende Tage, dass die ersten Kopfjäger gesichtet und so mancher ihre unliebsamen Fragen am eigenen Leibe verspürte. Man verglich diese Gruppen unbotmäßig mit den ehrbaren Ständen eines Jägers ... egal ob Mensch oder Tier. Ähnlich einer hungrigen Meute verfolgten diese einer aufgenommenen Witterung.
Ehrlos, respektlos und abgrundtief Böse würden die einfachen Leute des Landes diese Männer wie Frauen in Worte kleiden. Sie fühlten sich niemandem untergeben und dienten jenen, die bereit waren ihren Preis zu entrichten. Auch Selbige, die sich die Obristen nannten oder sich für ebendiese hielten, erkannten derer Vorteile und ließen sie gewähren. Gleichwohl sich die Übergriffe unangemessen häuften oder sich vereinzelte Gruppen in innerpolitische Belange begannen einzumischen, gebot man ihnen Einhalt.
Die Kopfjäger glaubten nur an Dinge, die sie sehen oder anfassen konnten und so galt das Land der Körperlosen gemeinhin als ihr Rückzugsort. Sollte Liraki es wahrhaftig mit ihrem Kind vollbracht haben, einen für Thulenen nahezu unpassierbaren Weg durch diese Region gefunden zu haben, würden unweigerlich Spuren aufzufinden sein.
Es knarzte. Obwohl alles andere als altersschwach und verwittert, war das Geräusch der hölzernen Tür vom Schankwirt gewollt. Es bedeutete ihm, dass ein Gast eintrat, oder davonzog; in der frühen wie zu späten Stunde.
Seit dem Wiederaufbau der Landarbeitersiedlung kehrte das Leben in seinen alten Weiler zurück. Durchaus, Bestlin hatte den Verlust seiner Söhne nicht offiziell zu verschulden, dennoch trug er zweifelsfrei eine bestätigte Mitschuld an jenem Unglück. Als Abbitte gewährte er Klarichs Gesuch, welches dieser seit vielen aufeinanderfolgenden Jahren wiederkehrend, stets zur beginnenden Erntezeit erneut, vortrug.
Die einstmals belebte und gewinnbringende Ansiedlung wurde vollends und zum zweiten Mal aufgebaut. Zudem wurden weitere Häuser für Wohn- und Arbeitsräume geschaffen, wie auch eine schützende hölzerne Palisade errichtet. Der Lord wie der Obrist Memnachs wussten um die Wichtigkeit der Ländereien, die Bauer Klarich bewirtschaftete. Nicht nur die Ernteerträge waren für das stete Überleben unabdingbar, auch der Einfluss der Familie auf die Produktivität der Landarbeiter blieb nicht von der Hand zu weisen. Wo anderenorts nebst Hand auch Peitsche züchtigte, genügte auf den Feldern seine bloße Anwesenheit. Seine Gegenwärtigkeit motivierte zu Höchstleistungen, blieb er stets ein Mensch, der eigenhändig zum Werkzeug griff und von niemandem erwartete, was er selber nicht bereit war zu leisten.
Gerüche von Gerstensaft und billigem Tabak schwängerten die hinlänglich verbrauchte Luft. Die Bewohner dieser Ansiedlung einigten sich darauf, bei fortgeschrittener Zeit, den verursachbaren Lärm so gering wie möglich zu halten. Aus jenem Grunde hielt man Fenster und Türen in der Schenke bein Anbruch der Nacht verschlossen.
Vor der Invasion galt als beliebtestes Getränk der Wein in verschiedensten Variationen. Auf dem Lande eher der Bittere mit Gewürzen angereicherte, in den Städten und Burgen der Teurere. Dieser kam mit einer Süße und einem runden Geschmack daher, dass viele die gefahrvollen Reize des kommenden Tages gänzlich vergaßen. Thule verbat die beliebten Trauben als auch derer Verzehr vollends. Gerüchten nach blieb der Anbau den südlichen Ländern vorbehalten.
»Ah. Seht an. Ein Humpen für Klarich.«
Eingetretener trat an den Tresen und klopfte auf diesem zum allgemeinen Gruße. Quittiert wurde dieses mit einem polternden Konzert aller umstehenden wie sitzenden an ihren Tischen. Der Bauer war hinlänglich bekannt wie beliebt unter seinesgleichen. Ebenso einige wenige der anwesenden Wächter konnten diesem etwas abgewinnen.
Er war ein gestandener Mann mit Respekt einflößendem Auftreten, dennoch oblag er gewisser Prinzipien und Vorurteile, so wie viele die ihren hatten. Vor nicht allzu ferner Zeit durchlief er einen Lernprozess, den andere von sich wiesen. Sie konnten oder wollten nicht über ihre primitiven Kompetenzen hinaus blicken und verurteilten, wohingegen nicht einmal eine nüchterne Beurteilung hätte ausgereicht. Der vorarbeitende Bauer wusste nunmehr, dass für Charakterstärke weder Benehmen, Herkunft noch Abstammung relevant seien.
Er nahm sich Zeit, einem jeden mit einem freundlich erwidernden Lächeln zu begrüßen, andere hingegen empfingen seinen Handschlag oder ein einfaches Schulterklopfen.
Vor einem beinahe ovalen Stehtisch blieb er stehen und sah in die Gesichter dreier im Sold des Lords stehender Wächter. Gedämpft unterhielten sich diese, der Rechte ließ einen Dolch mit Zeigefinger und Daumen haltend hin und her pendeln und hielt sein Umfeld aufmerksam im Blick. Ebendieser winkte seine Kameraden mit einem Wink des Kopfes davon. Respektvoll nickten sie ihm und Klarich und verließen alsdann die Schenke.
»Was ist so drängend, dass Kopfjäger nach ihnen suchen«, erkundigte sich der Bauer gedämpft.
Serfems Messer viel ihm aus den Fingern und steckte im Holz, wo es noch dreimal hin und her schwankte. Er sah auf und sein Blick trübte sich sorgenvoll. Bevor er Einwände erheben konnte, lehnte sich Klarich mit ineinander gefalteten Händen vor und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Es war keine gute Idee, die beiden in einer verfallenen Siedlung zu verbergen.«
Der thulenische Wächter schluckte und knabberte ertappt auf der Innenseite seiner Wangen. »Wohl nicht. Wo sind sie?« Er war im Begriff zu gehen und wollte sich nicht länger aufhalten. Es schien ihm wichtig, doch der kräftige Bauer hielt ihm am Handgelenk an Ort und Stelle.
»Alna kümmert sich um die Zwei. Der Kleinen geht es gut, ihrer Mutter hingegen ...«
Der Thulene sah musternd auf seine umklammerte Hand und begann zu knurren. Klarichs Griff lockerte sich, ließ jedoch nicht los. »Wer auch immer die beiden sind. Sie müssen fort. Je eher, desto besser.« Bestätigend seiner Worte suchte er den Blick seines Gegenübers und nickte.
Serfem schenkte dem Bauern mittlerweile sein uneingeschränktes Vertrauen und schätzten den Mann für seine Ehrlichkeit wie Aufrichtigkeit. Er ließ ihn an seinem Wissen über Liraki und Kiraa teilhaben, so auch seiner Verwandtschaftsverhältnisse.
Der Prot-Chon, der Wächter des Nordens, war sein Vetter und Liraki in direkter Erbfolge der ›göttlichen Herrscherin‹ seine Base. Es schien ihm sichtlich schwerzufallen, dem einfachen Leben des Landarbeiters begreiflich zu machen, dass ein Thulene nicht von Geburtswegen ein Thulene sei. Arikima, ihres Namens, unterschied ihr Volk des Blutes wegen und so galten ihre eigenen Nachkommen als nicht gebührlich genug. Das königliche Geblüt begann sich mit der Enkelin des thulenischen Reiches stetig im Wandel zu befinden und ihre Haut glich sich dem ihrer Väter mehr und mehr.
»Aber, nachdem was ich in der kurzen Zeit sah ...«
Serfem nickte und drückte seines Gegenübers linke Schulter. »Eben aus jenem Grunde. Niemand vermag ihre Abstammung zu beurteilen. Ihre Haut gleicht der deinen und ihr Blut ist so Rot wie das deine. Togrel hoffte sie weit im Osten ... in Sicherheit.«
»Sobald sie reisefähig ist.« Er reichte ihm seine geballte linke Faust und Serfem presste seine Rechte bestätigend dagegen. Sie waren sich einig.