»Händler«, rief eine kindlich klingende Stimme und zeigte mit Hecktisch ausgestrecktem Arm voraus. Ein Wachposten gesellte sich zu dem Jungen und legte ihm seine Hand schützend auf die Schulter. Der Mann nickte und hob zum Gruße die andere. Oberhalb des Wachmannes, geschützt durch eine brusthohe Palisadenwehr, traten zwei mit Bogen bewaffnete und beobachteten die nahenden. Unstrittig hatte man die Vier unlängst gesichtet.
Die Sonne neigte sich bereits gen Horizont und tauchte das Umland in ein rötliches Kleid. Die Schatten der Bäume, Aufbauten und Hügel wurden länger und die Feldarbeiter legten ihre Arbeiten nieder. Nach einem anstrengenden Tag auf den Feldern erwartete sie unterdessen eine heimelige Umarmung ihrer Liebsten und ein sättigendes Mahl. Es war bei Weitem nicht üblich, gesättigt den Abend zu genießen und mit gefülltem Leib die Nachtruhe einzugehen.
Weithin erklangen Klagelaute und knurrende Mägen. Krankheiten bedingter Mangelernährung und aufgeblähte Bäuche waren vielerorts ein alltäglicher Anblick. Oftmals lungerten nach Almosen bettelnde am Wegesrand und verübten bereits für einen mickrigen halb angegammelten Apfel Überfälle; nicht selten mit Todesfolge.
Der Gegenwärtigkeit geschuldet wurden diese gar zur Normalität. Hunger, Nöte und Gewaltstreiche mit Verletzten bis hin zu toten. Wo jeglicher Spaß jedoch aufhörte und auch hart gesottenen im Herzen schmerzte, waren und blieben die jüngsten unter den Opfern. Jene, die sich nicht aus ureigener Kraft selber helfen konnten.
Kleine Kinder mit dick aufgedunsen Bäuchen und einem ausdrucklosen Blick aus glasigen blutunterlaufenen Augen. Das Elend blieb nahezu allgegenwärtig und uneindämmbar, niemand vermochte diesen armen Seelen beizustehen. Der geforderte Tribut und die auferzwungene Knute Thules war schlicht zu hoch, als dass das Volk sich ausreichend zu ernähren wusste, vom Verteidigen ganz zu schweigen. Leute, denen ihre Mitmenschen nicht vollends egal waren, hatten selbst kaum genug und konnten das Wenige nicht erübrigen.
Klarich hingegen sorgte dafür, dass die seinen bei Kräften blieben, seien die Einkünfte wie Einbehaltenisse des Weilers noch so gering. Der Bauer nutzte jedwede Möglichkeit Nahrungsvorräte zurückzuhalten, die sich ihm bot. Aus beschriebenen Anlässen genoss die umfriedete Siedlung bewaffneten Schutz, auch wenn dieser zwiespältig ausfiel.
Ein Lastenpferd zog einen beladenen Karren und wurde von einem klar ersichtlich jungen Mann gelenkt. Drei Reiter begleiteten ihn und ein Ersatzpferd trabte an losem Zügel hinterher.
Sie schienen wahrhaftig Handelsgut zu transportieren und den alten Vorposten als Reiseziel im Sinn haben. Seit Lord Bestlin den einstmals, bis auf drei Gebäude, zerstörten Weiler hat wieder aufbauen lassen, erfreute sich dieser als willkommene Einkehr. Nicht minder wenige Güter wurden hier gefeilscht und wechselten den Besitzer. Einige davon verteilte man unversehens und außerhalb der umschützenden Palisade, wo die Ärmsten diese fanden und in sicherer Entfernung ausharrten. Hinter vorgehaltener Hand munkeln die Landarbeiter von stillen Abkommen mit dem Bauern. Wer wusste schon zu urteilen, was der aufgeweckte Wagehals vorhatte oder wessen Hilfe er einmal bedurfte.
Der vorderste Reiter nährte sich dem wartenden Posten und hob beide Hände, zum Zeichen des Friedens mit den Handflächen voraus.
»Wir bringen Gut aus Holmfirth und den umliegenden Siedlungen. Gern würden wir das eine oder andere hier feilbieten oder eintauschen. Für Bauer Klarich führen wir Persönliches mit uns.«
»Welche Güter transportiert ihr? Einer eurer Wegbegleiter scheint Thulene zu sein. Fracht für den Lord?«
Der Händler schien weder argwöhnisch, noch ging er auf die Finte ein. Er gab seine Sicht der Anschauung zu bedenken.
»Ein jeder meiner Begleiter wiegt gleichviel auf wie ein anderer auch. Ungeachtet seiner Herkunft. Schaut genau hin«, bat er mit einladender Geste seiner Linken. »Der eine entstammt unweit der einstmaligen ›sieben Königsgrenze‹. Mein Wagenlenker wurde hierzulande geboren und der Dritte entsprang thulenischen Lenden, ganz recht. Dennoch arbeiten wir zusammen. Habt ihr Probleme damit oder wollt ihr Bestlins Soldaten herbeirufen? Der eine oder andere wird den Blaublüter neben mir sicherlich wiedererkennen.«
Die beiden postierten Bogenschützen hielten die Reiter im Auge, ihre Bogen jedoch außer Sicht. Es war anzunehmen, dass ihre Pfeile unlängst auf gespannten Sehnen ruhten und nur noch gehoben und gelöst werden mussten. Der Posten mit dem Jungen neben sich musterte den Sprecher, schaute links und rechts an ihm vorbei und dessen Züge deuteten auf Erleichterung. Mit den Fingern klopfte er auf des Knaben gehaltener Schulter. »Robin, lauf zum Bauern und berichte ihm, dass Händler aus dem Umland eingetroffen sind.« An seinem Gegenüber gewandt neigte er den Kopf. »Niemand ist vollkommen und wir leben in schwierigen Zeiten, aber an eurer Art sollte sich so mancher ein Beispiel nehmen. Dass ein Mann des Lords mit euch reist, beweist mir eure Glaubwürdigkeit.« Er hob den rechten Arm und wie auf ein Zeichen hin verschwanden die Schützen hinter die Palisade. Musternd beobachteten sie weiterhin die Einkehrenden.
Mit dem bereits bekannten Jungen stand der kräftige Bauer auf der Veranda.
»Da, sieh nur. Sie kommen.«
»Mhm, da kommen sie. Geh zu deiner Ma' und erzähle ihr, dass du mir zur Seite gestanden hast.«
Stolz stand dem Knaben ins Gesicht geschrieben, als er zu Klarich aufsah und fragend dreinblickte. »Ernsthaft?«
»Ja, das hast du.« Der muskulöse Mann wuselte ihm durchs Haar, so wie er stets bei seinen Jungen getan hatte und schob ihn sacht von sich.
Winkend verabschiedete sich der Knabe und lief nach seiner Mutter rufend davon. »Mama! Ma', Bauer Klarich ist Stolz auf mich!«
Der Blick des Mannes auf der Veranda verhärtete sich und seine Kiefermuskulatur arbeitete, als sich besagte drei Reiter nährten und ein weiterer den Karren heran lenkte.
»Was will mir Holmfirth unterjubeln, was ich ni...«, giftete er und seine Stimme verkam zu einem kleinlauten Flüstern. »Veyed, Kay?«
Vor Nervosität begannen seine Hände zu zittern und die Haut über seinem kantigen Kinn schlug sichtlich Wellen.
»Wir sollten rein gehen«, beschloss Serfem, der seinen Rappen bereits an der Veranda lose anband. Rondal und Veyed standen noch im Steigbügel, als Klarich ermattet die Augen schloss und Kayden die Zügel des Wagens gurtete.
»Oh Alna. Mein Karren und unsere Jungs.« Seine Rechte umschloss den Pfosten des Dachvorsprunges und es blieb unübersehbar, wie die Knöchel weiß hervortraten. Der schmerzliche Verlust seiner Geliebten saß tief. Besäße dieser Mann mehr Kraft, sein Zorn würde das Holz zermalmen.
Eine Hand legte sich beruhigend auf seinen angespannten Unterarm und ein weiterer um seinen Hals. Ein warmer Hauch glitt über dessen Wange, als jemand seinen Kopf auf seine Schulter lehnte. »Wer auch immer dafür Verantwortung trägt, wird sich wünschen, mir niemals zu begegnen.«
Anstatt zu antworten, brachte Klarich lediglich ein entkräftetes Nicken zustande.
»Pa', lass und hineingehen.«
Rondal und Serfem ließen den Dreien vorerst Raum und Zeit für sich. In Absprache mit den Brüdern und der Gewissheit, dass zumindest einige der Soldaten Bestlins sie kannten, beobachteten sie die Abläufe des Weilers und versuchten herauszubekommen, wer, für wen einstand oder Partei ergreifen würde.
»Ob es eine gute Idee war, dem Posten zu erzählen, dass du zu Bestlins Männern zählst?«
»Es wird sich zeigen, ob mein Name noch Gewicht hat.« Kaum merklich deutete er mit dem Kopf in Richtung des nördlichen Tores. »Da naht auch schon die Begrüßung.«
Vier in der typischen Art der Söldner traten ihnen entgegen. Wahllos zusammengeklaubtes Rüstzeugs und ein nahezu arrogantes Auftreten. Selbstsicher mit der Gewissheit nebst die Schönsten, Schlauesten auch außer Zweifel, die Besten zu sein. Ganz nebenher wohl auch die Besoffensten.
»Was bei den Eiern des Ziegenbocks treibt die rechte Hand des Hauptmanns hier?«
»Isch glaub, er will schpionieren.«
»Seit Monaten lässt sich niemand mehr von euch blicken. Wieso ausgerechnet jetzt?«
»Macht mal halblang. Ich habe keine Lust für euch Suffköpfe in die Jauchegrube zu wandern. Serfem, was interessiert den Hauptmann denn noch, was er nicht längst weiß?«
Rondal bekam bei dem Anblick große Augen und stutzte. Er drehte sich zu seinem Gefährten und zeigte mit den Daumen auf die Vier. »Nur dass ich das richtig verstehe. Ich meine ... da, wo ich herkomme ...«
»He du Quarktasche. Wenn das Brot spricht, hat der Krumen die Schnauze zu halten, kapiert?« Jener, der zuvor sprach, schien der Rädelsführer zu sein. Verständlich, wollte man ein Anführer sein. Gleichwohl, in welche Richtung es sich verlief, musste man auch mit dem Mundwerk Ausdrucksstärke beweisen.
Rondal verschlug es die Sprache und schloss noch während sein Mund den unausgesprochenen Satz auf den Lippen trug die Augen. Seine rechte Hand glitt zum Überwurf, unter welchem er seine Scimitar verbarg.
»Nicht«, raunte Serfem, der nunmehr die Seine beruhigend auf das Handgelenk seines Begleiters legte und den Kopf kaum merklich schüttelte.
»Was glaubt ihr wohl, was ich als Wachhabender hier zu erledigen habe?« Er trat einen Schritt vor und musterte einen jeden von ihnen. Bedacht darauf seine Stimme nicht zu erheben oder herablassend zu wirken. »Ihr verbringt eure Zeit damit, am helllichten Tage zu saufen, anstatt das Umland im Auge zu haben und falls erforderlich zu schützen.«
Letzterer der rüpelhaften Söldner stellte sich als offensichtlich nüchtern und als der Vernünftigere heraus. Er beteuerte, dass sie erst in den kommenden Morgenstunden wieder einsatzbereit sein müssen und jedwede Wachzeiten mit dem hiesigen Wachmann und Bauer Klarich abgestimmt seien.
Nachdem jener, der für die drei Übrigen sprach, diese in ihre Unterkünfte zum Ausnüchtern bugsierte, führte dieser Rondal und Serfem bereitwillig umher. Zweiter war im Schutze des Zwielichts bereits des Öfteren bei Klarich gewesen, um Neuigkeiten auszutauschen. Die Gefahr unliebsamer Beobachter und Zwietracht unterstellt zu bekommen, war schlicht zu hoch. Grego, der junge Soldat erwies sich als hilfsbereit und sprach aus dem Nähkästchen. Demnach stellte sich die augenblickliche Situation auf Klarichs Hof oder eher dem Weiler Klarichs so da, dass nebst den Feldarbeitern auch nicht minder wenige Händler und Handlanger sich dem Witwer verbunden fühlten.
Auch wenn es nach wie vor Lord Bestlin und seine Mittäter waren, die dieses Land unter der Knute hielten, so schien der Bauer nahezu allein die Fäden in Händen zu halten.
Eines Abends nahten aus Holmfirth und Memnach Boten der Obristen. Sie überreichten ihm ihre Aufwartung in Form von Forderungen, die seine zu bewirtschaftende Landfläche zu erbringen habe, und sprachen ihm hierfür geeignete Befürwortungen zu. Wie diese im Einzelfall zu bewerten waren, konnte der junge Söldner nicht benennen, nur das diese Auswirkungen auf die umstrittenen des Hauptmannes hatten.
Die gesamte Gemeinschaft des Weilers und einige angrenzende Wohn- und Arbeitsstätten, die den Feldarbeitern angehörten, genossen subsidiären Schutz. Auch wenn ungezählte Männer des Lords sich seltenst an das Geheiß hielten, erging es den Leuten Klarichs besser als jenen außerhalb seines Zugriffsbereiches.
Ebenso war den Worten zu entnehmen, dass der Einfluss Bestlins auf dieses Gebiet eingeschränkte Wirkung zu haben schien. Veyed und Kaydens Vater befand sich in höchster Gefahr, auch wenn die Obristen dessen Unantastbarkeit verfügten. Unfälle scheuen weder schöne Worte noch Geheiße - so war es zu jeder Zeit und wird es stets sein.
»Ich weiß, dass ich noch Jung und unerfahren bin. Auch die politischen Einflüsse verstehe ich nicht sonderlich, aber ich glaube, ich kann euch vertrauen.«
»Was willst du, Junge«, klang Serfems Stimme jäh. »Du sollst nicht vertrauen, du sollst tun, was man dir befielt. Sei ein Soldat.«
»Vertrauen will verdient sein und wird all zu oft zu schnell gewährt. Was lässt dich glauben, wir seien deines Vertrauens würdig?« Rondal verabscheute derlei Machtspielchen, wusste hingegen, dass Serfem immer noch als rechte Hand des Hauptmannes galt und demnach seine Stellung wahren musste.
Eingeschüchtert wartete er auf das Einvernehmen seines Vorgesetzten, der der Thulene nun einmal war. »Antworte.«
Sichtlich erleichtert, dennoch kleinlaut fügte er sich. »Ich habe es nur vom Hörensagen.« Verstohlen sah er sich um und rückte mit dem Kopf näher. »Vor drei Tagen wurden Vögel gesichtet.«
»Was ist daran so besonders? Hier wächst überall Getreide«, stellte Serfem nüchtern fest und klopfte mit seinem linken Handrücken unerwartet gegen Rondals Bauch. Dieser zuckte leicht und besah seinen Rechten mit verwunderlichem Blick.
Grego hingegen verneinte und beschrieb, was er zu hören bekam. Es seien Vögel, die hierzulande als ausgerottet galten. Greifvögel verschiedenster Gattung und Größe. Auch hieße es, sollten sich diese erheben, erhebe sich das Volk. Die, die auf Bestlins Wort vertrauten, verhielten sich ungewöhnlich zurückhaltend. Niemand konnte wissen, auf wessen Seite jemand stand oder womöglich für die anderen spitzelt. Alle handelten argwöhnisch und beobachteten.
»Du meinst wie die beiden Schützen im Hintergrund? Die Zwei hinter der inneren Palisade?«
»Woher?«
»Wir sind schon länger im Geschäft, mein Junge und auf wessen Seite du stehst, ist mehr als deutlich.«
Angesprochener schluckte schwer und seine Augen suchten nach einem Ausweg. Es war nunmehr Serfem, der ungehemmt zu lachen begann und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter, so als habe er einen guten Witz von sich gegeben.
»Lach mit, wenn dir dein Leben was bedeutet.«
Ohne zu wissen, worüber sie lachten, taten es die Drei einander.
»Ein gut gemeinter Rat. Vertraue niemandem voreilig. Es sind nicht nur deine Freunde, die ihre Augen auf uns gerichtet haben. Aus Bestlins Reihen ruhen mindestens ebenso viele auf uns«, erklärte der Thulene.
»Dann seid ...«
»Du hältst ab sofort besser den Mund und sprichst nur noch von Dingen, die dich etwas angehen.« Serfem spannte sich und setzte wieder seine befehlsbetonte Mine auf. »Verstanden Soldat?«
Anstatt zu antworten, verlor der junge Söldner seine sanftmütigen Gesichtszüge und nickte unbeholfen.
»Noch einmal. Hast du verstanden Soldat?« Die Stimme grollte und verlangte nach entsprechendem Respekt.
»Verstanden.«