Ihnen würden sie nach dem Tod das hässliche Privileg gönnen, als lebende Leichen im Nebel aufzutauchen. Als Sklaven der Weltenschlange Gnarsall zu enden, damit die Gottriesen getäuscht und vernichtet werden konnten, um die Welt ins ewige Zwielicht zu stürzen.
Data Dohodam spürte, dass es so kommen würde. Niemand entkam dem Schicksal. Das Unheil kroch heran um sie zu verschlingen, wie in dieser Nacht der Sturm ihr Dorf verschluckt hatte und am Morgen blutigen Schnee zwischen gebrandschatzten Langhäusern zurücklassen würde. Die Scharen von angelockten Krähen sah er bereits. In seinen Albträumen stritten diese Aasfresser über jeden Finger und jedes Auge.
Grießgrämig starrte Data ins Feuer seines Hauses; es erfüllte ihn nicht mehr mit Stolz der älteste Greis im Dorf zu sein. Vielmehr sorgte er sich um die ausgemergelten Kinder und die entmutigten Frauen, die betend und weinend in den Häusern ihrer Sippe hockten. Doch am allermeisten bangte er um Vanafalls Drachenkrieger, welche dort draußen in der eisigen Finsternis für ihr aller Heil kämpften. Schwarzmaler wie Data es war, doch welcher es niemals offen zugegeben hätte, darbten in dieser Weise vor sich hin, seit die Männer aus Vanafall ausgezogen waren; die von Hoffnung erfüllten hatten das Dorf längst verlassen - als Reisende oder als Tote.
Betrübt musterte er die verzagten Gesichter, welche mit ihm ausharrten. Fast ausnahmslos waren es Kinder. Sie hatten ihn in dieser Stunde aufgesucht, weil sie in eine Welt flüchten wollten, in welche nur Data sie führen konnte. Doch das Schicksal ließ sich nicht trügen. Und diese Gewissheit stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben.
Sie würden kommen. Die Unterwerfer der Dörfer im Süden Atagors; Bringer von Hunger und Not, bis im Namen ihres Dämonengottes genug Feuer und Leid über die Menschen gebracht worden war.
Die Krohlen. Abschaum einer Dämonenbrut.
Und sie huldigten dem Zwielicht, schändeten die Heiligen Stätten der Gottriesen und führten auf ihren Raubzügen den Fluch der Nordwinde mit sich, welche zu jedem Winter mit Geheul die Opferzeit einläuteten.
Die Dämonenanbeter von Infjar. Allesamt eine Brut Gnarsalls.
Ihm machte die Kälte nichts aus. Er spürte sie nichteinmal. Doch dann blickte Data zu den Kindern und gestand sich ein, das der Anblick violetter Lippen anderes versprach.
Eisern hielt die kalte Zeit Einzug in die Drachenlande von Atagor. Den ganzen Norden Ydargors säumte eine dichte, weiße Decke. Dagegen kam tagsüber keiner der mickrigen Sonnenstrahlen an.
Datas Blick mochte die Holzwand nicht durchdringen, trotzdem wusste er über die Lage dort draußen bescheid.
Die Schwärze über Vanafall schien zu leben, denn ein Sturm fegte heulend über die Dächer der hölzernen Langhäuser. Es war der Winter mit seinen Sturmböen, welcher die Tage kürzte und die Nächte hinauszögerte um den Menschen das Leben zu erschweren. Sobald der Schnee fiel, fielen die Schwächsten aus den Sippen mit ihm. An diesem Tag war der Tod besonders nah.
Das schaurige Jaulen hallte um Datas Hütte, wollte durch jede Ritze zwischen den Brettern eindringen, um die Bewohner einzuschüchtern. Der heftige Wind riss Eiszapfen vom Dach und wehte diese kleinen Splitter durch die Gassen. Beinahe mochte man meinen, sie kratzten an der Tür, als bitte ein Hund um Einlass.
Da schoben sich plötzlich die schweren Vorhänge des schmalen und einzigen Fensters zur Seite und die Kälte kroch herein. Zitternd klappte eine blasse, junge Frau den aufgerissenen Fensterflügel wieder zu; zerrte mit aller Kraft gegen die Wettermacht, bis sie siegreich war. Danach zog die frischgebackene Mutter den geflickten Jutesack vor, welcher als Vorhang diente.
Bläulich verfärbte Lippen nuckelten gierig an ihren Mutterknospen und die winzigen Härchen am Köpfchen sträubten sich. Mit schwieligen Fingern strich sie zärtlich über die geröteten Wangen ihres Balges. Das wimmerte erbärmlich, denn ihre Hände durchzog eine Kälte, wie es kein fließendes Wasser zu erschaffen vermochte. Ihre rabenschwarze Mähne kräuselte sich an den Backen und verdeckte die von Schweiß glänzende Haut. Das Kindlein gab einen gequälten Schrei von sich, denn es gab nichts mehr zu saugen an der ausgemergelten Mutterbrust.
Die Windböe des kalten Feindes fegte ein weiteres Mal in den Raum herein und ließ die Schar darin enger zusammenzurücken. Von der Feuerstelle in der Mitte von Datas Langhaus, loderten einen Moment lang die Flammen heftig auf, krochen aber bald wieder zur Glut zurück, wo sie über dem trockenen Holz schwelgten. Wärme gab das Feuer kaum ab. Würden mehr Scheiter brennen, könnte vor lauter Rauch niemand mehr atmen. Deshalb wärmte die Glut die kleine Schar, welche mit ihren Gesichtern nahe an der Feuerstelle hockte und zum greisen Data aufsah, während der Winterhauch hinterlistig über ihre Buckel kroch.
“Kommt noch ein bisschen näher heran ans Feuer, auch du Novara”, sprach dieser alte Mann - welcher dem Feuer ganz nah war und den Mittelpunkt des Halbkreises bildete - und nickte der jungen Mutter ermutigend zu.
Die Kinder folgte seinem Geheiß und näherte sich dem wärmenden Kohlebecken. Dieses versprach ein wenig Trost in diesen Zeiten.
“Erzähl uns eine Geschichte, Data Dohoddam. Die vom verhexten Mundschenk!”, rief ein rothaariger Bub und blickte zum Greis andächtig auf.
“Ich will aber die Geschichte der roten Königin hören”, meinte ein Mädchen und spitzte trotzig ihre Lippen.
“Oder die vom Seeräuber Gralelf!”, fiel ihr ein dürrer Jüngling enthusiastisch ins Wort.
“Der hat Grollvelf geheißen”, berichtigte der Rothaarige den Jüngeren.
Jener drehte ihm trotzig die Narrennase.
“Mir doch gleich.”
“Haltet ein, meine Guten,” tönte der stimmige Ordnungsruf Data Dohodams über die jungen Köpfe. "Wollt ihr alle einer vergessenen Erzählung lauschen?"
Ein unmissverständlicher Stimmenchor sprach für sich und der Greis legte ein Holzscheit nach. Sein waches Glitzern in den Augen bemitleidete die Mutter, welche vergrämt aus dem verschlossenen Fenster starrte, und verlor daraufhin für einen Moment den Glanz.
Abermals fegte durch den Türspalt eine heftige Böe herein und winzige schneeweiße Boten zeugten vom Sturm, welcher um das kleine Dorf Vanafall tobte. Eine harte Zeit stand bevor. Der Winter würde jedoch die geringste Plage sein. Das wohl…
Datas Mundwinkel spannten sich wieder zu seinem wissenden Lächeln. Er mochte diese Kleinen, solch Schwächlinge sie auch sein mochten.
“Nun denn…”, sprach er andächtig, "…so mögt ihr der Erzählung lauschen, als Usgar von den Bergen zu den Vätern eurer Großväter ins Dorf herunter kam."
In andächtigem Bewusstsein horchten die Kinder hin und hoben ihre Köpfe. Diese Geschichte kannten sie nicht.
Die Dachbalken, ächzten bedrohlich unter den Angriffen der Wetterkraft, ausgesetzt deren wankelmütigen Laune. Datas Gedanken flogen noch einmal in die Ferne, wo über ihr Schicksal entschieden wurde. Doch sein Platz war hier. Er erkannte, dass man ihn im Dorf mit seiner Gabe eher brauchte, denn seine Erfahrung im Schildwall dort draußen. Gerne hätte er die Ballade des Einsamen richtig vorgetragen, doch er war kein Skalde. Ihm blieben nur trockene Worte.