Stunde um Stunde schritt ereignislos dahin und die Zeit selbst schien ein Spielchen mit ihnen zu spielen. Sie vermittelte den Eindruck, nicht vergehen zu wollen.
Obwohl sie unlängst von der Autobahn abgefahren und ohne ernst zu nehmende Staus abseits der Bundesstraße stetig landeinwärts fuhren, bedrückte etwas die Stimmung. Niemand vermochte es in Worte zu kleiden. Bedeutsames lag in der Luft.
Ein Gefühl, eine Vorahnung; Matthias wusste es selbst nicht genau, aber irgendetwas und nicht vorausahnbares stand bevor.
Verena schaute über die Schulter hinweg zur Rücksitzbank und lächelte. »Ich wünschte, ich könnte es ihnen gleichmachen.«
»Mh, was«, erklangen seine ausdruckslose Formulierung ohne das er wahrlich zuhörte.
»Schatz, wir sind bald da. Möchtest du nicht endlich erzählen, aus welchem Grund wir hier herfahren? Noch dazu heute?«
Tief sog er Luft in seine Lungen und atmete schwer aus und schüttelte verhalten den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ehrlich.«
»Du ... weißt es nicht. Großmutter will nicht, das wir sie vor dem Frühling besuchen. Seit dem Tage, an dem du mich ihr vorgestellt hast, hat sie uns mehrfach ermahnt. Du weißt etwas, irgendetwas und willst es mir nicht sagen. Warum? Matthias ...«
Angesprochener seufzte. Sie benutzten von jeher Kosenamen, selbst als sie sich das erste Mal sahen und einander näherkamen. Sie war sein Mäuschen und er ihr Schatz oder ... Bärchen. Albern nicht wahr, aber so war es halt.
Verena war Anwältin, und immer dann, wenn sie Lunte roch ... nun ja ... den Kopf trug man anschließend und zumeist unter dem Arm anstatt auf dem Hals. Sie hatte da so ihre ureigenste Vorgehensweise Wissenswertes konsequent und hinterlistig zu ergründen. »Heute ist der erste Weihnachtsfeiertag und wir fahren ...« Sie schielte erneut zurück zur Rückbank. »an den Hintern der Nation. Eine Pampa ist im Vergleich zu ›Namesville‹ ein Großstadtvergleich.
»Im Sommer steppt dort der Bär.«
Verena beugte sich vor und schaute aus dem Fenster. Sie stutze, öffnete ihr Seitenfenster und griff mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Windschutzscheibe.
»Hey, was wird das?«
Anstatt zu antworten, warf sie ihm etwas an den Kopf.
»Sage mal ...«
»Matthias?«
»Was? Du hast mich mit Schnee beworfen.«
»Ach was. Wollte nur sichergehen, dass ich nicht halluziniere.«
»Mäuschen, was willst du?«
»Dein Mäuschen wird gleich zur Wildkatze. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was du weißt. Wieso will Großmutter uns nicht sehen?«
»Kurz und bündig oder die never ending story?«
»Die Kurzfassung reicht mir. Vorerst.«
Matthias schien zu überlegen, suchte sichtlich nach beschwichtigenden Worten. Er nickte. »Okay. Okay, du hast gewonnen. Wieder einmal.«
»Zusammenfassend bitte«, erinnerte sie und machte es sich in ihrem Sitz bequem. Ein Lächeln umschmeichelte ihr Züge, welches sogleich Unglauben wich.
»Sie hat Angst.«
Auf der Rückbank begannen sich die Zwillinge zu rekeln. Gähnende Laute drangen ihnen an die Ohren. Noch schienen sie sich nicht gewahr, wo sie sich befanden, doch Ihre Eltern faselten bis eben irgendetwas von Oma.
»Sind wir bald da?«
»He Papa, wieso liegt hier eigentlich nicht so viel Schnee? Hätten wir nicht wo anders hinfahren können?«
»Hey ihr zwei. Wieder im Lande der Lebenden?«
»Haha«, gab Bastian kleinlaut von sich. »Ich will nicht zu Oma.«
»Ich auch nicht.«
»Ach kommt schon. Oma freut sich auf euch. Es ist eine Überraschung, wisst ihr?«
»Mama, wir fahren nie im Winter zu Oma. Im Sommer ist's da ja echt in Ordnung, aber jetzt? Wir können nicht einmal ordentlich rodeln oder ein Iglu bauen.«
»Mmh«, war der einzige Laut, zu dem Verena fähig war. Sie schielte zu ihrem Mann. »Das erklärst du ihnen. Ich bin gespannt.«
Schwer atmete er aus. Den Kloß, den er im Halse trug, räusperte er lautstark herunter. »Milan, erinnerst du dich an das Foto von Oma?«
»Öh ... du meinst das in ihrem Schlafzimmer? Das, wo ein Mädchen mit zwei kleinen Jungs vor dem See steht?«
»Etwa das, wo Oma fast eine Herzattacke bekommen hat und wollte, dass wir sofort nach Hause fahren?«
Matthias nickte und seine Stimme klang gepresst. »Ja. Genau das.«
»Was ist mit dem Bild?« Die Kinder bekamen mit, dass ihre Mutter die Hand von ihrem Papa ergriff und drückte. »Schatz? Was hat es mit dieser alten Aufnahme auf sich.«
»Ich erfuhr es über Umwege, und ob alles stimmt, weiß ich nicht. Sie spricht nicht darüber und ihr müsst mir hoch und heilig versprechen, nichts zu erzählen. Es ist ein Geheimnis, wisst ihr?«
»Komm schon Papa, was kann an einem Bild so geheimnisvoll sein?«
»Oma hätte dir am liebsten den Hintern versohlt. Die hat gekuckt, als wenn sie dich auffressen wollte.«
»Bastian!«
»Was denn?«
»Halt dich zurück, ja?«
»Schuldigung Mama.«
»Oma hatte zwei jüngere Brüder. Karl und Gerd waren nur zwei Jahre jünger.«
»Und wo sind die jetzt?«
Abermals atmete er tief ein und würde wohl am liebsten fest die Augen schließen. Da er jedoch den Wagen lenkte und das Wetter nicht sonderlich war, riss er sich zusammen. Er fasste sich indes und berichtete seiner Familie, was er vor so vielen Jahren zugetragen bekam und wunderte sich, keine Widerworte zu erfahren.