Milan stand auf dem Eis und bewegte sich Fuß für Fuß voran. Er war bereits mehrere Meter von dem Ufer entfernt, als es ihm komisch wurde. Ein ziehen in der Magengegend, ein säuseln in den Ohren.
Kindliche Stimmen drangen an sein Ohr. »Seid ihr gekommen, um mit uns zu spielen?« Eine weitere mischte sich ein. »Wir warten schon so lange ...«
Ihm wurde übel und er sank auf die Knie herab. Er musste sich abstützen und ohne seinem zutun, wischte seine Hand über das Eis. Er glaubte in einen Spiegel zu sehen, nur dass er wusste, dass er definitiv keine rot gestreifte Pudelmütze trug. Er hasst diese Dinger.
Sein Spiegelbild lächelte traurig und hielt die Lider geschlossenen. In dem Moment, wo sein Abbild unterhalb des Eises die Augen öffnete, brach das Eis links von ihm und eine eisigkalte blau geräderte Hand packt nach ihm und zog. »Wir können hier unten endlos spielen. kommmmmmmmm.«
Von weit hinten hörte er einen hysterischen Schrei, der zweifelsfrei von Oma stammte.
»NEIN!!!«
»KARL ... GERD ... das dürft ihr nicht. Lasst sie in Ruhe. BITTE«
Er fühlte seinen Arm kaum mehr. Ihm wurde unerträglich kalt und sah, wie sein Arm ebenso blau anlief wie diese absurde Hand. »Bitte lass mich gehen. Ich habe doch nichts getan.«
»Das taten wir auch nicht.« Die kindliche Stimme, des Jungen unter ihm, wich einer grausam verzerrten Forderung und dessen Augen trübten sich in endloses Schwarz. »KOMM HERUNTER UND SPIEL MIT UNS.« Dessen Griff wurde fester und der Sog kräftiger.
»KARL ... GERD ... NEEEIIIN!«
Milan spürte das Eis um sich herum bersten und schaffte unter Auferbietung seiner restlichen Kraftreserven sich loszureißen. Er rutschte rücklings, wollte nur weg. Noch bevor er sich gewahr wurde, wo er sich befand, brach er vollends ein. Glücklicherweise berührten seine Füße den Grund und so bestand wenig Gefahr zu versinken.
»Milan, komm da sofort raus«, forderte dessen Bruder und Oma zugleich, die bereits auf den Jungen zueilte.
Kaum dass sie ihren Enkel im Arm hielt, flaute der Wind ab und die fordernd lockenden Stimmen schwiegen. Nur der Schneefall wurde stetig dichter. Solche großen Flocken fielen letztmalig, als Marga selbst noch ein Kind war.
»Bastian, Milan!«
Vollkommen außer Atem rutschte Matthias mit einer grob gewobenen Decke im Arm, in Schlafanzug und barfuß, an Milans Seite. Er nahm den jungen aus den Armen seiner Mutter und hüllte ihn ein. In ihren Augen war nebst Trauer auch noch etwas anderes zu lesen. Erleichterung?
»Es tut mir so leid, das musst du mir glauben.«
»Nichts dergleichen muss ich. Ich wusste, dass hier etwas nicht stimmt. Von klein an hast du mich belogen.«
»Matthias ...«
»Nein. Sobald der Schnee nachlässt, fahren wir nach Hause.«
Gemeinsam saßen sie wieder im Wohnzimmer und tranken wärmenden Tee. Matthias dachte unentwegt an den Jungen, der wie aus einem Film alter Tage flackernd hinter seinem Bastian stand. Er tat nichts, stand einfach nur reglos da.
Erst als er bemerkte, dass Milan auf dem Eis herumspazierte und fiel, entkam er seiner Starre und rannte Hals über Kopf mit einer Decke im Schlepp aus dem Haus.
Als Milan von seiner Begegnung auf dem Eis erzählte, winkte Verena ungläubig ab und entschied, dass es sich hierbei um eine Ausrede handle. Typisch Anwältin.
Für sich und zum Wohlsein aller Beteiligten verschwieg er, was er glaubte gesehen zu haben. Wiederholt sah er das Bild seiner ertrunkenen Onkel vor dem geistigen Auge. Er war sich sicher ... sie waren es.
»Sie kommen wieder«, hallte es in seinen Gedanken und so murmelte er vor sich hin. »Oh Papa, wie recht du hattest.«
»Was sagtest du, Schatz?«
»Mh? Nichts, Entschuldigung. Ich meinte nur, dass es besser sein wird, wenn wir nach Hause fahren.«
»Bei dem Schnee? Wenn das so weiter schneit, kommen wir nicht einmal bis zur Bundesstraße.«
»Sie hat recht Matthias. Bei dem Wetter dürft ihr nicht fahren. Bitte bleibt.«
Angesprochener stand auf, griff seiner Mutter am Arm und zog sie in den Flur hinaus. »Geister? Wann hattest du vor mir das zu erzählen? Wenn du wie Papa stirbst und ich das alles erbe?«
Sie antwortete nicht und sah ihm lediglich in die Augen. Tränen schimmerten in den ihren.
»Mutter, was passiert hier? Was wollen ... sie?«
»Du weißt, was vor so vielen Jahren geschehen ist.« Es war keine Frage und so fuhr sich einfach fort. »Seither sehe ich sie. Immer zu Weihnachten und fortwährend bis zum Frühling. Sie rufen nach mir, so wie damals als ich sie zum Toben hinausschickte, damit ich meine Ruhe hatte. Sie konnten so dermaßen nerven.«
»Aber ... was wollen sie?«
»Spielen. Und heute hätten sie es beinahe geschafft, meine Nachlässigkeit zu bestrafen. Aus diesem und keinen anderen Grund, wollte ich euch nicht hier haben. Der See ist im Winter nicht gut, deswegen lasse ich niemanden dort hin. Überall ist es sicher, nur nicht an seinem Ufer.«
Erst jetzt wurde ihm gewahr, das sie bereits ihr Nachthemd trug und ihnen wohl nur noch eine gute Nacht wünschen wollte. »Wie kannst du nur an Schlaf denken?«
»Auch ihr solltet dies tun. Macht euch keine Sorgen. Karl und Gerd können den See keine zwei Meter verlassen. Vertrau mir.«
»Wie kann ich das, nach alle dem?«
»Ich lebe hier seit meiner Geburt.«