Ihre Eltern behielten sie stets daheim, wenn es galt Saatgut, Werkzeuge und Bedarfsgüter in den jeweiligen Siedlungen oder Städten zu feilschen. Die Burg des Lords glich einer Ernüchterung und ließ nicht immer den kürzesten wie direktesten Weg des Handelns zu oder bot die Möglichkeit eines Umschlages. In der Hafenstadt Holmfirth soll es noch um ein vielfaches hektischer zugehen als anderswo. Dass was Memnach ihnen hingegen zu bieten bereithielt, übertraf ihre Befürchtung bei Weitem.
Trotz eingehender Beschreibungen dessen, was sie erwarten würde, schienen beide von dem Land, ihrer Heimat, beeindruckt. Allerlei Gesehenes wie Gehörtes hingegen ließ die Brüder zweifeln. Zerfall und Verwahrlosung war ihr steter Begleiter.
In Veyed keimte ein Verdacht. Serfem wie auch sein Vater hielten es für vernünftiger, den langen Weg nach Memnach zu nehmen und die nördliche Route zu meiden.
Klarich schob es auf dessen Zerwürfnis mit dem Lord und das Serfems Richtungswechsel womöglich unangenehme Wendungen mit sich bringen mochten. Ebenso sollten die beiden ihr Heimatland weiträumiger zu Gesicht bekommen. Dass weder das eine noch das andere Argument ausschlaggebend zu sein schien, drängte sich ihm immer mehr ins Bewusstsein. Noch behielt er seine Gedanken für sich, denn der Wegeabschnitt zwischen Memnach und der alten Burg der Berengars war augenscheinlich jener, der ihnen erspart bleiben sollte.
»Falkenhorst ist schon groß, aber das hier«, raunte Kayden kleinlaut und sah sich mit zusammengebissenen Zähnen um. Seine Wangenmuskulatur arbeitete unentwegt, seine Finger nestelten an den Zügeln.
»Mhm, aber dort ist es nicht wie hier.« Veyed sah sich verstohlen um, seine rechte Hand hielt er verborgen unter seinem Oberteil. Er wirkte nervös, verunsichert dessen, was seine Augen ihn glauben machen wollten.
Was haben sie erwartet?
Ein Auflauf von Händlern, die Frohenmutes in die Stadt einlass gewährten und andere, die wiederum mit befüllten Wagen herausfuhren? Kinder, die lautstark in angrenzenden Gassen und Wegen herumtollten? Frauen und Männer, die Hand in Hand über dicht gedrängte Marktplätze schlenderten, um Feilgebotenes zu bewundern?
Die unübersehbare Art hier zu leben, verdeutlichte ihnen, wie behütet und geliebt sie in den Armen ihrer Eltern aufwachsen durften und wie rechtschaffen die Leute sich in Falkenau ergaben. Es war, als würde jemand sagen, dass das hier und jetzt das wahre Leben und das in Falkenau ein Traumgespinst sei.
Nichts von alle dem, was man über diese Stadt zu berichteten wusste, konnte auch nur annähernd das vermitteln, was sie augenblicklich sahen, fühlten und vor allem in die Nase drang.
Schmutz und Unrat, der sich zuweilen hüfthoch auftürmte und Ratten, die frei und unbekümmert auf den Wegen umher wuselten und sich um Beute balgten. Mancherorts sah man verrottende und vergammelnde Dinge, die achtlos auf die allgegenwärtigen Müllhaufen geworfen wurden. An manchen Stellen reichten diese Hügel bereits bis unter die Dachsparren.
Seine Nase roch es zu erst und seine Geschmacksnerven verrieten ihm, um was es sich handeln mochte.
Modrig riechender Dunst hing schwer in der Luft, geschwängert von beißendem Ammoniak. Ein nach Fäulnis schmeckender Belag legte sich auf die Zunge Kaydens, dessen Magen anfing sich zu winden. Er glaubte sein Augenlicht würde trüben, seine Sicht schlierte. Unentwegt begann er zu schlucken, wo es nichts zu schlucken gab. Es fiel ihm zunehmend schwerer ausreichend Luft zu bekommen und musste um sein karges Mahl kämpfen, welches sie vor nicht all zu langer Zeit zu sich nahmen. Serfem ermahnte sie hinlänglich und wies sie mehrfach auf die zu erwartenden Umstände hin. Gemeinsam haben sie geübt, bewusst flach und nicht durch die Nase zu atmen. Aus welchem Grunde musste ausgerechnet er die Worte als nichtig abtun? Warum er und nicht Veyed?
»Gafft keine Maulaffen. Bewegung«, schnauzte ein am Tor wache haltender Soldat mit leicht bläulicher Haut. »Wirts bald, oder soll ich euch Beine machen?« Der Sprecher nährte sich ihnen und senkte seine geführte Lanze.
Veyed, der sich für Waffen interessierte, neigte den Kopf und öffnete den Mund, doch Serfem kam ihm zuvor. »Verzeiht. Die Jünglinge von Klarichs Hof sind das erste Mal in der Stadt. Der Bengel hier ...«, er zeigte mit dem Daumen auf den Jüngsten. »... konnte nicht hören und hat eine faule Erdknolle gegessen.«
Der wache haltende Soldat musterte Kayden mit verächtlichen Blicken und schnaubte. »Macht, dass ihr wegkommt. Die Hauptstraße hat frei zu sein und seht zu, dass der Köter nirgends hinscheißt«. Der Mann wartete erst gar nicht darauf, dass sich die Drei bewegten. Er ging schlicht davon aus, dass sein Wort gehör fand.
Serfem hob die linke Braue und zuckte mit dem Kin so als würde er noch eine Antwort parat halten, entschied sich doch dann anders. Er griff nach den Zügeln von Kaydens Pferd und führte es mit sich. Allmählich wich die Blässe aus dessen Gesicht.
Veyed beugte sich in seinem Sattel vorsichtig nach vorn und schaute hinüber zu seinem Bruder. »Was Falsches gegessen?«
»Sollte ich ihm die Wahrheit sagen?«
»Warum nicht?«
Serfem kratzte sich an der Schläfe und schien zu überlegen. »Hm. Mitunter verstehe ich euch nicht. Ich hätte ihm wirklich sagen sollen, dass dein Bruder diese Stadt zum Kotzen findet? Ich hielt meine Idee für die bessere.«
»Oh.« Er wollte es nicht gestehen, aber so gänzlich unrecht hatte sein Freund nicht. Ihn interessierte jedoch mehr diese Stangenwaffe, als dem Thulenen etwas über Moral zu erzählen. »Was war das für eine Lanze?«
Serfem grunzte herablassend. »Auch eine Möglichkeit. Dieses Ding ist nichts, womit ein Mann in den Kampf ziehen sollte.«
»Ich glaube, das war nicht die Antwort auf seine Frage«, sinnierte Kayden über seine Schulter hinweg und versuchte trotz seiner noch blassen Nase ein Lächeln abzuringen. Er zwang sich ruhig und so flach wie irgend möglich zu atmen, auch wenn es ihm sichtlich schwer viel.
»Da spricht wieder der gehobene Herr. Kay bitte.« In Gedanken wusste Veyed jedoch, dass sein Bruder in Situationen wie dieser eben, nicht er selbst war. Ein ums andere Mal, wenn er so sprach und er ihm in die Augen blickte, glaubte er eine Fremde Anwesenheit spüren zu können. So als würde jemand oder etwas Besitz von ihm ergreifen. Ihn lenken und aus seinem Munde sprechen.
»Sie werden Hellebarden genannt. Einfache Lanzen, an denen man die Schneide eines Beils anbringt. Nur viel Dünner. Die Waffen eines Feiglings.«
»Man kann mit ihnen hacken?«
»Haut, Muskeln und Knochen. Aufspießen klappt wohl auch«, stellte der Thulene nüchtern fest.
Ohne weitere Worte zu sprechen, führte sie der gepflasterte Weg, der zu besseren Tagen eine Straße hätte sein können, tiefer hinein in das vorherrschende Elend der einst stolzen Stadt. Vorbei an düster wirkende Gassen, aus denen übel riechende Gerüche entwichen.
Bürger, derer Blicke sich mit den ihren kreuzten, sahen augenblicklich zu Boden. Beschämt und mit hängenden Schultern folgten sie eiligst ihrem bisherigen Weg und versuchten sich jedwedem Augenkontakt zu entziehen.
Die Kleidung der Bewohner war durchsetzt. Von Lumpen bis hin zu Fetzen stachen manche sogar mit ansehnlicher Bekleidung hervor.
Ein wenig Ordnung hier, ein Mindestmaß an Sauberkeit dort. Frischer Putz und Kalk für geschundene Hauswände und Fassaden; die Gassen und Straßen Memnachs würden ein vollends anderes Bild zeigen.
Die Erbauer mussten einst Wert auf die Reinigung der Zuwegung wie auch die Beschaffenheit der Bebauungen geachtet haben. Zur Linken wie zur Rechten der breiten Wege, wo der Unrat noch Platz ließ, konnte man Andeutungen von Rinnsteinen erkennen, die kundige Metze in der Mitte keilförmig einkerbten. Sie liefen der länge nach wie ein umgedrehtes Dach aufeinander zu. Viele der Häuser waren im unteren Geschoss oftmals aus solidem Stein errichtet und darüber meist in hölzernem Fachwerk gehalten. Überall dort, wo die Erbauer auf nachwachsende Ressourcen setzten, hinterließen einst geschickte Hände Stilisierungen verschiedenster Bildnisse. Aktuell zeugten die Hölzer jedoch von krankhaftem Befall und Verfall. Es würde viel Zeit vergehen, Memnach wieder so herzurichten, wie es den Erzählungen nach, Früher gewesen sein musste.
»Wie kann man eine Stadt und dessen Bewohner nur so behandeln?«
»Das, Kayden, ist die Herrschaft derer, die in Angesicht von Angst und Willkür zerfressen werden. Diese Menschen fürchten sich vor ihrem eigenen Schatten und vermuten hinter jeder Ecke ein Attentat. Wie sie ihre Bangen verarbeiten, siehst du selbst. Andere wiederum haben kein Verständnis für richtig oder falsch. Sie tun, wozu sie gerade Lust haben.«
»Aber«, begann er und weitete erschüttert die Augen. Er war im Begriff sich vom Pferd zu stürzen und eine grobe Dummheit zu begehen.
Lediglich Veyeds raschem Handeln war es zu verdanken, das ihr angedachtes Vorhaben kein jähes Ende bevorstand. »Nicht«, hauchte er seinem Bruder zu. »Wir können nichts tun.«
Um Kaydens Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, weg von dem, was seine Wut befeuerte, vollführte Serfem mit ausgestreckter Hand eine Wegbeschreibung. »Da vorn finden wir die Fuhreigner. Wir trennen uns dort und treffen uns wie besprochen.« Er hielt dem Jüngsten die Schulter und drückte diese leicht aber bestimmt. In seinem Blick lag eine Ernsthaftigkeit, die Widersprüche nicht würde gelten lassen. Etwas musste diesem Mann derart beschäftigen oder an seinen Erinnerungen rütteln, was ihn auf gewisse Art und Weise väterlich wirken ließ.
»Ich habe verstanden.«