Zwei Tage nach dem nächtlichen Gelage und die Nacht darauf überquerte Rondal letztlich jenes Bachbett, welches den ›flüsternden Wald‹ begrenzte. Der Bach führte zu guten Tagen kaum Wasser und man konnte das Bett in Gänze mit ein wenig Anlauf überspringen. Zur Schneeschmelze hingegen blieb es ein gewagtes Unterfangen, und auch wenn ein mancher Stellen kennen mochte, an welchen man halbwegs sicher den Weg hinüber fand, war ein trockenes Ankommen kein Garant.
Er trillerte bereits beim Nahen den Ruf eines Kauzes, den Erkennungsruf der Schattenjäger. Gewiss, man könnte ausführen, dass diesen Laut mit ein wenig Übung auch der dümmste über die Lippen bekäme, doch hierbei sei gesagt - weit gefehlt. Das Flattern der Zunge, die dem Geräusch seine schwingenden Höhen in unterschiedlicher Akustik verlieh, konnte eben nicht jeder nachempfinden - probiert es aus.
Weitreichender jedoch war die Art ihrer Rufe. Sie bliesen ihre Töne über die linke oder die rechte Wange und beides klang ungleich und folgten demnach andersartigen Bedeutungen.
Rondal lenkte zielstrebig seinen Braunen, den er vor der Stadt Holmfirth Wohlwissen versteckte, durch den dunklen Wald. Er wusste, dass sein Erscheinen nicht unbemerkt blieb, waren es nach wie vor die Schattenjäger, die den Grenzbereich des hiesigen im Auge behielten und Falkenau vor etwaigen Eindringlingen bewahrten.
Verstohlen blickte er in so manche Schatten, die wie seine Augen ihm weiß machen wollten, sich begannen zu bewegen. Er kannte die Geschichten, die man sich über den Wald erzählte, zu genüge und er würde einen Eid schwören, dass nicht minder wenige davon einen wahren Kern beinhalteten.
Hielt man sich zu lange in den Eingeweiden des Waldes auf, noch dazu allein, erwachte jede dieser Erzählungen eigenst zum Leben.
Kaum dass er das Land hinter dem Land betrat und die Baumgrenze passierte, erwarteten ihn Reiter. Das Pferd des Ersten scharte ungeduldig mit dem linken vorderen Huf. Drei Wartende an der Zahl hielten ihre Hände verhalten und zwanglos auf ihren Sattelknäufen. Die Zügel hingen lose herab.
»Du kommst spät.«
»Die Nachrichtenkette funktioniert demnach noch«, stelle Rondal nüchtern fest und führte sein Pferd an das des Redners und reichte ihm die Hand. Dieser begegnete den Gruß, indem er das Handgelenk seines Gegenübers ergriff. »Willkommen daheim.«
»Danke. Alric lässt grüßen und erteilte mir einen ...« Ein Räuspern entglitt ihm und besah alle Drei nacheinander eindringlich. »... gewagten Auftrag, den ich nicht nachvollziehen kann.«
»Alric«, hauchte die linke Person.
»Was treibt er«, wollte nunmehr der Rechte erfahren.
»Dies und Weiteres sollten wir besprechen, wo wir Speis und Trank vorfinden. Rondal saß seit mindestens zwei Tagen im Sattel. Lasst ihn erst einmal ankommen.«
»Hart geritten?«
»Du darfst mir gern den wunden Hintern fetten und kühlen«, entgegnete Rondal und erhob sich in den Steigbügeln.
»Auch wenn Alric dir das Wort überreichte, wenn er nicht zu gegen ist, aber diesen Spaß werde ich dir sicherlich nicht erfüllen«, lachte die Linke der Dreien. Ja, wahrhaftig. Der eingeschworenen Gemeinschaft schlossen sich auch Frauen an. Diese vermochten mit Klingen oder Bogen nicht minder schlecht oder in jenem Falle gut umgehen wie das vermeintliche stärkere Geschlecht. In Intrigen hingegen blieben sie die geübteren Gegner.
Gemeinsam saßen und aßen sie im oberen Torhaus, welches die unbekannten Erbauer von einst erhoben auf der Mauerkrone und dem verschließbaren durchweg zum Herzen ihrer Stadt vereinten. Die Wachstube der Schattenjäger, wie sie diese nannten, blieb einzig von der Burg aus erreichbar und war maßgeblich dazu gedacht, die Torzuwegung von der Stadt kommend zu versperren.
Seit Kayden beschloss ihnen und jenen, die der Sicherheit ihres Landes dienten, einheitliche Uniformen herrichten zu lassen, ersonnen sich neue wie altgediente zum Soldatentum. Er vollbrachte es, mit seinen jungen Jahren, einen jeden an seinem wundesten Punkt zu berühren. Stolz erhobenen Hauptes sahen sie in ihm etwas, was er hat sich niemals zuvor vorstellen können - Hoffnung.
Aussicht auf ein freies Leben in einem befreiten Land und all dies wollten sie in seinem Namen vollbringen.
Kampferprobte, Veteranen und solche, die dem Widerstand aktiv zu unterstützen gedachten, wurden einberufen.
Der Tag, an welchem sich das verborgene Falkenau in Marsch setzen würde, lag noch in der Ferne. Derweil der Rückhalt und die Rücksicherung aus der Bevölkerung Agreas nicht als gesichert galt, blieb jedwedes Großunterfangen lediglich ein Gedanke. Es wäre ein Weg ohne Wiederkehr.
Solange Falkenau nicht über ausreichend ausgebildete und routinierte Wehrfähige verfügte, sahen die Schattenjäger dies als ihre Pflicht. Sie füllten derer Lücken und reihten sich unter. Seit Wochen war ihnen zugegebenermaßen bewusst, dass sie dies nur noch taten, weil sie es wollten. Sie wollten dabei sein und dabei bleiben. Nahe an jenen, die offen ins Feld ziehen würden und die Hauptstreitmacht des Landes bildeten.
Falkenaus Heer stand. Beileibe Jung und ungestüm, mit Defiziten in der gemeinsam ausgeführten Ausbildung, aber es stand und trainierte hart.
Rondal berichtete den Anwesenden von Alric und dessen Wirken in der Hafenstadt. Ebenso von jenem hünenhaften Seebären, der sich für etwas Besonderes hielt.
Niemand der Zuhörer konnte mit den Mutmaßungen um Alrics Vergangenheit Plausibles anfangen, noch dementieren. Er galt von jeher ein geheimnisumwitterter Mann, der nur dann eines der seinen preisgab, wenn er es für angemessen und unumgänglich hielt.
Die Gemeinschaft war sich einig, dem Vorhaben ihres Anführers wie dem des Jarls ebenso andächtig gegenüberzustehen, wie es dem Auftrag zu entnehmen war, auch wenn Rondal all dem nichts abzugewinnen vermochte.
»Was sollen uns diese muskelbepackten Kerle bringen? Ich meine, können sie reiten, oder tragen sie ihre Boote landeinwärts und in die Reiterei der Stadt?«
»Glaub mir Ron, du willst dich nicht freiwillig mit einem der Seemannen messen.«
»Warum nicht?«
»Dieser Dolvi ist nur einer und du sagtest selbst, er sei ein Hüne von Mann.«
»Und?«
»Stell dir vor, wenn seine mickrigen Muskeln beginnen mit einer zweischneidigen Axt zu spielen. Vielleicht auch in jeder Hand eine?«
»Du meinst ...«
»Das meine ich. Sie geben sich nur kulturlos. Alle samt sind sie geborene Krieger.«
Rondal schien zu verstehen, denn sein Blick wurde leuchtend, als er in die irreale Ferne blickte. »Dann stimme ich zu.«
Erst wenn sich der stete Handel im Einvernehmen bewahrheite, sollte darüber im großen Kreise gesprochen werden. Die Gefahr eine womöglich zusätzliche Quelle zu verlieren, ist zu immens.
Sie beschlossen die anfänglichen Holzladungen eigenhändig, unter Zuhilfenahme weniger Eingeweihte, zu vollziehen. Sie würden an uneinsehbaren Stellen nahe der Klippen Position beziehen, um die nahenden Bootskundigen zu beobachten. Es blieb in ihrem eigenem Interesse so viele Informationen wie irgend möglich zu sammeln, welches sich auf dem Seeweg zu ihrem sicheren Heim zur ungewissen Gefahr entwickeln könnte. Bisweilen diente der Strandstreifen Fischern mit ihren Ruderbooten wie badenden. Dass dort nun auch größere Boote der Seeleute auflaufen sollten, schien ihnen befremdlich und aufgrund der Riffe nahezu unwägbar.