Es blieb ihm für das, was er gedachte zu tun, die geeignetste Zeit. Die Straßen und belebteren Wege schienen zu dieser überschaubarer und weit einsehbarer als stunden zuvor. Seine Schultern zuckten aufwärts und sein Kinn verzog sich zeitgleich, als er daran dachte, wie eigensinnig sich das für ihn anfühlte.
Er sah all das vorherrschende Durcheinander und diese augenscheinliche Planlosigkeit, vermochte es gar auf irgendeiner Weise auch nachvollziehen, aber wirklich begreifen ... konnte, nein wollte er es nicht.
Aus welchem Grund ließ Thule das Volk einerseits gewähren, andererseits zu tiefst erniedrigen?
Was hatten sie mit den eroberten Ländereien vor? Agrea war so weit von derer Heimat entfernt, dass das vereinte Reich niemals zu einer Bedrohung hätte werden können.
Was trieb diese Rohlinge nur an? Von Alric wusste er, dass, als diese wahren Thulenen auf Booten und Schiffen anlandeten, diese sich bewiesen, wie sie wahrlich lebten. In Felle gehüllte Barbaren. Grobschlächtig und kaum eines der ihren gleich. Dennoch, es gab auch innerhalb ihres eigenen Volkes sichtbare, wie spürbare unterschiede. Serfem und einer der Stadtwachen kamen ihm dabei in den Sinn. Widersprüchlicher konnte Thule nicht sein.
Aber ... aus welch Absicht heraus schlossen sich ihnen Länder fernab der einsten ›Sieben Königsgrenze‹ an? Taten Dinge in derer Namen, die ungeheuerlich klingen, würde man darüber berichten?
Wenn die Gunst bestünde und zu späterer Stunde deutlich seltener Pöbel, wie Balgerei vorzufinden waren, wieso dann nicht genau zu diesen Zeiten seiner Besorgungen nachgehen?
Nur noch Wenige waren anzutreffen und auf eben jene hatte es der ›Falke‹ abgesehen. Von ihnen erhoffte er sich Dinge zu erfahren, die man ansonsten nur am eigenen Leibe erfuhr. Seine Anstrengungen wie Ziele klar bestimmt.
Was trieb Memnach an, oder vielmehr was hielt es am Leben.
Was führten die hiesigen Obristen im Schilde.
Wie waren die Scharen aufgestellt und unter welchem Wirken standen die Rotten und Schwadrone. Hielten sie alle samt dem Einfluss Thules die Treue oder bestanden Möglichkeiten der Korrumpierung?
Gab es noch Widerständler innerhalb der Mauern und inwieweit standen diese zur alten Ordnung.
Alles Fragen, die Klärung bedurften. Er hingegen ging sogar so weit zu behaupten, dass das Volk an sich bereit sein musste. Sie müssten es sein, die aufstünden, um sich zur Wehr zu setzen. War Agrea nicht vorbereitet, bliebe ihr Unterfangen erfolglos und es bestünde keinerlei Hoffnung.
Wie allerorts in Memnach begleiteten ihn auch in besagter Oberstadt Ausdünstungen von Mensch und Tier. Obgleich nicht ganz so verheerend wie anderswo, dominierten dennoch Schmutz, Moder und Fäulnis.
Niemand schien sich darum zu scheren. Weder, dass die Häuser in einigen Jahren wie in seinem alten Zuhause zerfielen, noch bevorstehender und unausweichlicher Krankheiten. Von seiner Mutter wusste er, dass Unrat und Schmutz Ratten angezogen und diese für mancherlei Erkrankungen schuld trugen.
Die mitunter armlangen Nager fanden zuhauf Essbares und ausreichend Unterschlupf oberhalb der für sie heimischen Kanäle, sodass sie, anstand unterhalb der Stadt nunmehr mittendrin lebten. Niemand schien sie zu beachten, die Viecher waren allgegenwärtig.
Ebenso auffällig auch hier, grob zerschlagene Stilisierungen des vormals herrschenden Adels. Wüst zerstörte Schnitzerei, die einstmals feinst gearbeitet Fresken wie Simse zierten.
Nirgendwo in der gesamten Stadt blieben Merkmale der Myrefall noch das ihres Leittieres zu erkennen.
Eigenartig. War es doch ausgerechnet ein unscheinbarer Junge, der ihm zeigte, worauf er achten musste. Die vielen Zeichen waren allgegenwärtig und für jedermanns Auge gut sichtbar. Thule trat das Erbe einer langen und heilsbringenden Regentschaft mit Füßen.
Wäre dieser Schmuddel nicht gewesen, Kayden würde zwar die zerstörerische Wut, die in der Stadt getobt haben musste sehen aber gemeinhin nicht zu werten wissen.
Da er jedoch wusste, worauf er achten muss, erhaschten seine Augen Dinge, die andere mutmaßlich missachteten. Grob und ungelenkes geritze in Balken wie losen Putz und Gestein. Sein Interesse hingegen weckten nicht diese versteckten Hinweise, vielmehr waren es schmale tiefe Einkerbungen. Ausgerechnet sein Bruder Veyed brachte ihn auf diese widersinnige Idee.
In jeden dieser stopfte er zwei klein gefaltete abgerissene Zettel. Auf dem einen presste er das Siegel seines Ringes, welches auf dem ersten Blick nicht auffallen dürfte, auf dem Zweiten eine haltlose Nachricht.
Niemand würde auf einem leeren oder mit einer Floskel beschriebenem Stück abgewetzten Papier Wichtiges vermuten, außer, dass da jemand war, der jemanden anderen vorhatte zu verärgern gar zu verspotten.
Sollte jedoch eine wissende Person etwas Kohlestaub oder einfacherweise Schmutz darüber streichen ...
Kayden hoffte einfach, das jene die er gedachte hiermit zu erreichen, entsprechend seine Nachricht werteten.
Seit er durch die Gassen zog und überall dort, wo er diese Markierungen vorfand, seine Hinterlassenschaften daließ, wurde er beobachtet.
Ein Junge, vielleicht so um die dreizehn Jahre alt, verfolgte ihn von dem Moment an, wo er die Herberge verließ. Stets hielt sich der Knabe im Schatten außerhalb seiner Sicht. Huschte unter Büschen hinweg oder krabbelte durch abgesenkte Kanäle. Zweifelsfrei war diesem das Auskundschaften im Deckmantel von Schmutz und Unrat nicht fremd.
Kayden ertappte sich wiederholt dabei, seinen jungen Verfolger aus den Augen zu verlieren. Immer dann, wenn er glaubte, er sei auf und davon oder er hätte ihn abgeschüttelt, bedeutete ihm sein Innerstes ihn abermals auf der Schliche zu sein.
Ob es derselbe Knabe war, der ihn erst kürzlich auf die Zeichen hinwies? Er kannte ihn doch, weshalb zeigte er sich nicht ganz offen? Vor allem fand er es befremdlich, dass sich sein unbedarfter Beobachter mit einem weiteren abwechselte.