Mittlerweile war es tatsächlich Nacht. Wolken zogen gemächlich am Himmel ihre Bahnen und verbargen den ansonsten silbrigen Schimmer des Mondes. Die Dunkelheit spielte ihnen in die Hände, mehr wollte und konnte der Blaubluter vom Schicksalsweber nicht verlangen. So er wolle würde dieses mit dem Jungen seinen Lauf nehmen.
»Hier Hauptmann. Der Bengel untersteht eurer Wacht. Lasst Lord Bestlin bloß nicht hören, was einer der Bälger des Bauern in Memnach getrieben hat.« Die Worte Ogriirs klangen verächtlich, sein Blick anmaßend wie strafend.
Dieser griff dem stolpernden Jungen unter die Armen und hielt ihn so aufrecht. Sein Miene verfinsterte sich, wirkte beunruhigend, als er den Geschundenen so sah. Seine Stimmbänder ließen seine Worte seltsam grollen. »Wenn dies dein beschissenes Werk war, schneide ich dir die Eingeweide heraus, du Bastard.«
Memnachs Hauptmann hob beschwichtigend die Hand und legte diese auf Kaydens Schulter. Er nickte ihm anerkennend. »Auch wenn ich es nicht verstehen kann, so hattest du doch recht, mein Junge. Dein Getreuer begibt sich, ohne nachzufragen, für dich in ungeahnte Gefahr.«
»Was soll das werden«, zischte Serfem fragend, der drohend seine Faust hob, an dessen Finger ein goldener Ring steckte.
Die Züge Ogriirs wirkten entkräftet und sein Blick heftete sich an den Kaydens, der wissend nickte. »Achte bei Sonnenaufgang auf den Glockenturm. Du wirst wissen, wann es Zeit ist, sich zu entscheiden.«
Der hinzutretende Wachhauptmann, eben jener, den Kayden als Eberhardt zu erkennen glaubte, zog die Stirn kraus. Er sah von einem zum anderen. »Ist der Blaubluter etwa bei einem der verbliebenden Müller auf Stippvisite gewesen? Ich wusste gar nicht, dass ihr Blauhäute so bleich werden könnt.«
»Geleite die Zwei vor die Stadtmauer und vergewissere dich, dass sie genau in die Richtung verschwinden, aus welcher sie kamen«, befahl Ogriir gepresst und verschwand hinter dem sich schließenden Tores zur Festung.
»Ich bin nun schon so lange in dieser Stadt, aber das eben, ist auch mir noch nicht untergekommen.«
»Bring uns zum Tor«, maulte Kaydens Begleiter als er bereits Anstalten machte in dessen Richtung zu marschieren. »Wir müssen fort.«
»Was hat der blaue Hund mit dir gemacht?«
Serfem blieb abrupt stehen und musterte den Wachmann. »Bist du auf dem zweiten Auge jetzt auch blind?«
Beschwichtigend drückte Kayden ihm die Schulter, so als sei nicht er der Jüngling, sondern sein Beschützer. Dieser warf fluchend, wenn auch kleinlaut, genervt die Arme in die Luft. Sein derzeitiges Verhalten ging weit über das geleistete Versprechen gegenüber Alric hinaus. Der Mann glaubte doch nicht ernsthaft, dass er so etwas wie sein Sohnersatz sein könnte ... oder?
»Eberhardt, das Land ist geteilt und die wenigsten glauben noch an Besserung.«
Nun war es an Angesprochenem sprachlos zu sein. Obwohl ihm bewusst war, dass dieser junge Mann in ihm jemanden sah, der gemeinhin vor so vielen Jahren verschied, drangen sich ihm Erinnerungen auf, die er als vergessen erachtete. Er ging nicht auf die Pointe ein und wies die beiden an sich wieder auf den Weg zu machen. Sein kurzes Stocken hingen, reichte aus, um bestätigt zu wissen, dass des ›Falken‹ Vermutung gar nicht so abwegig war.
Er sprach leise und verhalten über Dinge, die Kayden, so ahnte er, auch in weiteren Tagen nicht erfahren hätte.
So unter anderem, das Agrea nicht so entseelt sei, wie es den Erscheinungen nach zu urteilen wäre. Es sei hingegen schwer vorherzusagen, ob sich das gemeine Volk nach all den Jahren des Elends, dem Hunger wie der Folter, noch einmal erheben würde. Der Adel und dessen Angehörigen seien nahezu ausgelöscht oder unbekannt und weitflächig verstreut.
Die Obristen Memnachs wussten demnach von etwaigen Bewegungen althergebrachter Moralvorstellungen, gleichwohl sie seit geraumer Zeit nicht mehr einschritten. Das Verhältnis beider Parteien sei zurzeit ausgeglichen, sodass die augenscheinliche Ordnung und Ruhe von Bestand sein konnten. Eine fraglos schwierige Situation und ein Bündnis auf Spinnweben feinem Garn gewebt.
Viele, wie auch unzählige in Holmfirth, warten, hoffen und bangen.
Dennoch mahnt er den ›Falken‹ gleichauf, vorsichtiger sein zu müssen. Die halbe Stadt kenne mittlerweile die Schilderung von einem Jungen und seinem blauen Todesengel. »An diesem Abend ist uns deine Hinterlassenschaft nicht entgangen.«
»Was für eine ...«, begann Serfem neugierig und wurde harsch von dem Wachmann, der seinen Namen bisweilen nicht dementierte unterbrochen. »Nicht der rede wert, Mann. Du trägst etwas Gleichartiges selber am Finger.«
»Der Ring«, flüsterte Kayden und zwinkerte ihm zu.
Hinter dem Tor angekommen, standen Pferde fertig gesattelt an einem Wegepfosten bereit. Ogriir hatte augenscheinlich an alles gedacht und wollte die beiden schnellst möglich loswerden.
»Nur zwei? Wo ist Veyed?«
»Deinem Bruder geht es gut, er wird sich bei Breide weiter erholen.«
»Kayden, er ist noch unverbrannt. Er wird fortführen, was wir begonnen haben. Dein seltsamer Freund hier hat recht.«
»Wenn ihm etwas zustößt ...«
»Wird es nicht, versprochen.« Eberhardt nickte, um seine Aussage zu bekräftigen.
Noch bevor Kayden den Mund aufbekam, hob der Erbe der Myrefall seine linke Hand. »Ich habe eine Nachricht für den ›Falken‹. Wirst du sie überbringen?«
Serfems Blick huschte hinüber zu seinem aufsitzenden Begleiter, der munter dem Tier die Ohren kraulte. »Sofern es ihn denn gibt und mir über den Weg läuft.«
»Mehr kann ein alter Mann wohl nicht erwarten. Es gibt da eine Schenke. Eine in jener Nähe, wo einer der Wachposten mit der Hand in der Hose ohnmächtig aufgefunden wurde.«
Serfem konnte sich ein belustigtes Prusten nicht verkneifen und sah mit erhobenen Brauen zu seinem Schutzbefohlenen.
»Der Wirt lässt ausrichten, dass ihnen der Art Fehler nie wieder unterlaufen wird. Weiterhin täuscht das Offensichtliche.«
»Ich verstehe nicht. Was meint der Mann?«
»Dass nicht alle, die fragliche Dinge tun, uns feindlich gesinnt sind. Nicht minder wenige Gedungene und ehemalige Getreue, schämen sich ihrer Vergehen, tag für Tag. Solange ihnen niemand eine lebenswerte Perspektive bietet, sind sie in ihrem kläglichen Leben gepfercht.«
»Da ist etwas dran, Kayden. Es gibt etliche, die sich marodierenden Banden anschlossen, nur um diesen Pfuhl zu entkommen. Ich hörte während meiner Tage unter Bestlin von vielen, die sich bekannten lieber als ›Freie‹ sterben zu wollen, als von den ihren gehasst zu werden.«
Eberhardt nickte und seufzte demütig. »Mmh, so ist es und niemand kann etwas dagegen tun. Auch das Gerücht, dass sich im Verborgenen Truppen zu einem Gegenschlag sammeln würden, habe selbst ich bis vor Kurzem noch als lächerlich abgetan.«
»Was hat sich geändert«, wollte der junge ›Falke‹ von ihm wissen.
Dieser sah auf und sein mutmaßlich erblindetes Auge schien für einen winzigen Moment zu erstrahlen. »Du hast einem gebrochenen Mann an etwas erinnert, was er vor vielen Jahren einst schwor.«