Eine Kurzgeschichte aus dem hohen Norden Ydargors.
Aus dem Nebel trieben ihnen aufgedunsene Leichen entgegen. Die Trommeln auf der 'Fjordsegler' verstummten aprupt und die Drachenkrieger zogen ihre Ruder ein. Berem, der Skalde, wechselte Instrument samt Melodie und das dumpfe Schnarren seines Trumscheites erklang zum 'Totenreigen'.
Nur das Flattern der Segel und das Rauschen der Wellen zerschnitten die Ruhe. Gebannt starrten die Nordmannen in das undurchsichtige Grau. Plötzlich stieß der Rumpf eines gekenterten Langbootes aus dem Dunst. Sachte staken die kräftigsten Ruderer die 'Fjordsegler' durch das Felsenriff. Ein schwieriges Unterfangen, denn dieses Gewässer schien das Schiff förmlich gegen die kantigen Unterwasserfelsen zu saugen. Doch die Mannschaft empfahl sich ihrem Mut. Zu ihrem Glück.
Der Anblick auf die von Nebelschwaden umringten Rümpfe der beiden Drachenschiffe, an denen sie gerade vorüberglitten, besorgten den Drachenführer. Sollte er manche Gerüchte für bare Münze nehmen, dann konnten Leichname ihre Augen öffnen, wenn der Nebel über sie kroch.
"Kreaturen des Zwielichts", murmelte Teodgar Enkundam und spuckte ins eiskalte Meer hinaus. Jeder hier im Norden fürchtete sich vor diesem Schicksal. Darum mochte niemand so verrückt sein und lachend in den grauen Schleier fahren. Teodgar hielt sich für eine Ausnahme, er fürchtete sich nicht vor den Fantasien verrückter Seefahrer. Tote waren tot. An dieser Tatsache gab es nichts zu rütteln.
In der Farbe so fahl wie die Haut verstorbener Menschen, baute sich die Grenze ins graue Land vor seinem Schiff auf. Ganz so, also wollte ihn dieser dichte Nebelvorhang am Vordringen hindern. Bald stahl der trübe Schleier selbst den starren Augen des Drachen die Sicht. Der Drachenführer sah keine zwei Armlängen voraus.
Leidenschaftlich strich er über die feuchte Holzfigur.
'Wohl machte dir die Sicht ohnehin nichts aus', dachte Teodgar und wandte sich von dem geschnitzten Abbild des geflügelten Lindwurmes ab.
Das Deck knarzte unter den routinierten Bewegungen seiner Krieger. Kettenhemden rasselten und leises Getuschel drang an seine Ohren, doch verschluckten die Dunstschwaden deutliche Worte.
Zu Teodgars Leidwesen zog sich abermals ein Felsenriff auf. Das Nordmeer hier zeigte sich als seicht und unberechenbar. Da behagte ihm die stürmische See im Süden mehr.
"Und erst dieser verfluchte Nebel", knurrte er. "Sollte mich nicht überraschen, wenn uns Gnarsall irgendwo auflauert und verschlingt. Möge es den Gottriesen gelingen, dieses Schlangenvieh mit ihren Hämmern zu zerquetschen!"
So dicht wie zu dieser Fahrt, hatte der Drachenführer Nebel noch nie gesehen. Überhaupt segelte er zum ersten Mal so weit nördlich. Und er wollte noch weiter hinauf denn es die meisten Abenteurer bisher gewagt hatten. Seit zwei Tagen erschien die Etappe kräfterzehrender denn je. Daran trug die Windstille ihre Schuld.
So strich auch jetzt keine Brise über seine bärtige Mähne, oder kräuselte die wenigen, nicht zu Zöpfen geflochtenen, Haarsträhnen.
Umkehren konnte Teodgar trotz der aufkeimenden Unruhe dennoch nicht. Er hatte einem Drachenfürst in Temgor geschworen, den Verbleib dessen ausgesandter Expedition zu untersuchen. Längst hätten jene fünfzehn Schiffe zurückkehren sollen. Teodgar vermutete allerdings, dass diese auf Dimgurmaan oder Fajeror rasteten und Vorräte aufstockten. Den Auftrag nahm er trotzdem an - für einen Heuersold, welcher ihm ein Vermögen einbringen würde.
Grinsend fuhr Teodgar die Wöllbungen und Linien an der Bordkante nach. Diese geschuppten Schnitzereien gaben den Drachenschiffen ihren Namen.
Endlich ließen sie die Wracks endgültig zurück. Das leise, aber bestimmte Trommeln zum Rudertakt nahm seine Regelmäßigkeit abermals auf. Berem, der jüngliche Skalde welcher auserkor seine Fahrten zu begleiten, stimmte trotzdem keine Ballade an. Ob er kein passendes Stück aus seinem Wissen vortragen wollte oder eben kein passendes fand um der wankelmütigem Stimmung entgegenzuwirken, ahnte Teodgar nicht. Für ihn bot das Rauschen der Gischt oder das Plätschern kleiner Wellen Melodie genug. Dies ersetzte allemal den Klang eines Trumscheites.
Viele weitere Tage dünkelten sie durch das Grau. Allmählich gingen die Vorräte zuende und die Mannschaft drängte darauf, bald festen Boden unter die Füße zu bekommen.
"Da!", rief einer seiner Mannen; es war Ifirs Stimme. "Ich seh eine Bergspitze!"
Die Stimmung lockerte daraufhin rasch auf, sobald das Ufer der Insel Dimgurmaan in Sichtweite kam. Wohlbekannte Noten schlugen an und Teodgar wandte sich zum Skalden um. Ein schauerliches Prickeln fegte ihm über den Nacken, welches ihm die Härchen seiner muskulösen und von Narben übersähten Arme sträuben ließ. Nicht die plötzliche Windböe verursachte diese Gänsehaut; sondern jene Töne, welche Berem zu einem dunklen Klang strich.
"Im Norden kein Licht ihr seht,
kein Rauch auf der Insel weht
und übern steinern Vallor zieht;
seht zu dass ihr alle flieht!
Denn das Feuer dort ist kalt,
wo der Nebel sich ans Ufer krallt."
Das klagende Schnarren verstummte aprupt und Stille umarmte die Drachenkrieger. Totenstille.
Teodgar bildete sich gar ein, dass sein Drache für einen Lidschlag zum Leben erwachte und fürchterlicher denn vorhin noch sein Maul spreizte. Auch seinen Mannen ging diese Strophe ins Gewissen.
Die schwebende Silhouette des versteinerten Riesenkindes konnte er über den unzähligen Felsen und Latschen, welche das Eiland über dem Wasser hielten, ausmachen. Kein Feuerschein erhellte das grimmige Antlitz der Statue. Selbst durch diese Nebelschwaden hätte das Leuchtfeuer den Schiffen die sichere Route in die Bucht weisen müssen. Stattdessen schien eine spürbare Düsternis von diesem Ort auszugehen. Wie einst, als das Riesenkind hier die Weltenschlange Gnarsall mit einem Stein beworfen hatte, jene ihn daraufhin tötete und er so als erster seines Volkes versteinerte. Nahm man die Legende beim Worte, dürfte es ein erwachsener Vallor - so bezeichneten sich die Riesenkinder selbst - namens Dimgur gewesen sein.
Verloschene Fackeln am Steg gaben sich als zweites dunkles Omen zu erkennen. Der lange Steg, welcher die Bucht wohl gern in zwei Hälften geschnitten hätte, müsste stets beleuchtetsein; zumindest meinten das die älteren seiner dreiundvierzig Drachenkrieger, die genauso skeptisch wie ihr Drachenführer die Küste inspizierten. Langsam staken die Ruderer das Schiff an den Steg. Keine Menschenseele erwartete ihre Ankunft. Von den Inselbewohnern, welche hier in der Abgeschiedenheit Erdenlands den Gottriesen huldigten schien es niemanden zu kümmern, dass Fremde sie besuchten.
Flüsternd teilte Teodgar seine Mannschaft auf und herrschte sie an, ja wachsam zu sein. Dann sprang er auf die Holzpfosten und marschierte mit zwanzig Mann hinauf zur Statue. Jene befand sich auf einer der größeren Felsklippen, welche vorhin der Nebel verborgen hatte. Anbei fanden sie das Langhaus am Hafen leer vor, in dem die Inselwächter wohnten.
Das Laub verwelkter Sträucher knirschte unter ihren Stiefeln und der ätherische Geruch nach Harz schwängerte die Luft, wo der Trupp an Latschen vorbeitrabbte. Je weiter sie die steilen Trampelpfade erklommen, desto schwerer lagerte diese seltsame Beklommemheit in der Luft.
Plötzlich öffnete sich der Nebelschleier und gab den Blick direkt auf den steinernen Vallor frei. Rufe des Erstaunens drangen aus den rauen Kehlen.
Kein Steinmetz hätte Gesichtszüge so detailliert in Granit meißeln können. Filigrane Härchen sprossen aus dem Stein dort, wo das Riesenkind einst Felle getragen haben dürfte und erst diese Augen… Teodgar kam sich beobachtet vor. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Dennoch begaffte er unentwegt die hohe Statue; wohl maß diese dreißig Schritte und mehr. Die Legende könnte einen wahren Kern besitzen, da kein Mensch in ganz Ydargor an solch gigantischen Abbildern arbeitete.
"Teod! Die Asche ist kalt!", rief ihm sein Landsmann Ifir zu und verteilte die verkohlten Scheiter mit seinen Füßen.
"Hat sonst jemand etwas gesehen, was uns Aufschluss über den Verbleib der Inselwächter gibt?", fragte Teodgar.
Verneinendes Nicken war Antwort genug.
"Dann schwärmt in Gruppen zu je fünf Männern aus; Ifir, Balter und Nojarl übernehmen die Führungen. Sucht nach Anzeichen der Bewohner."
Die drei stellten ihren Trupp zusammen und marschierten davon. Eine Handvoll Männer würde der Drachenführer selbst befehligen.
Angestrengt überlegte Teodgar. Nach einem Überfall vom Festland sah es nicht aus; das hätte blutige Spuren hinterlassen. Ein anderer Gedanke erlangte dafür seine Aufmerksamkeit. Die Legenden über die Untoten.
'Es gibt sie aber nicht!', redete er sich ein, wenngleich ihm da wohl die halbe Mannschaft widersprechen würde. Gesehen hatten von ihnen die lebenden Leichen noch nie wer. Höchstens der alte Sem mochte eine Ausnahme darstellen.
Es gab Tage, zumeist allerdings Nächte, an denen dessen Verstand kränkelte und wirr schien. Da mochte es gut sein, dass er sich manchmal Untote in seinem Wahnsinn einbildete.
Berem gesellte sich zu Teodgar.
"Was in seinem Kopf jetzt vorgehen wird?", stellte der Skalde die Frage und deutete ein Nicken zu Sem an.
"Er ist seit den letzten zwei Wochen bei Verstand", brummte Teod.
"Das wohl. Doch was mag er denken? Etwas beschäftigt ihn. Oder warum sonst, steht er nun schon die ganze Weile am Felsvorsprung und beobachtet den Nebel?"
"Das Meer", verbesserte der Drachenführer.
"Du bezweifeltst die Vergangenheit. Warum? Legenden sind keine Sagen. Legenden sind wahre Überlieferungen vergangener Winter. Sie untermalen Heldentaten und lehren das sonst längst vergessene. Legenden sind einzigartig", sprach Berem und seine Augen leuchteten in der Überzeugung, wie es eines wahren Skalden würdig war.
"Warum?", wiederholte Teodgar und atmete schwer aus. "Die Geschichte wiederholt sich, eine Heldentat nicht. Eine Legende kann nicht Teil der Menschheitsgeschichte sein, da sie sich nicht wiederholen wird."
Darauf folgte Schweigen. Aus den Augenwinkeln entdeckte der Drachenführer einen fingerbreiten Riss in der Statue. Etwas in ihm riet ihm anzuzweifeln, ob dieser Riss denn vorhin auch schon vorhanden war.
'Natürlich', sagte er sich. 'Wahrscheinlich hatte nur der Fall eines Schattens diese Stelle verborgen.'
"Und wenn die Legende Wirklichkeit ist?"
Verwirrt drehte sich Teod zum Skalden um.
"Wie?"
"Vielleicht leben wir in der Legende", murmelte Berem und entlockte seinem Drachenführer ein trockenes Lachen.
"Du klingst wie Sem… Und das schon in deinen jungen Jahren!"
Kopfschüttelnd wandte sich Teod ab. Doch noch im selben Moment zuckte sein Blick wieder zur Statue. War der Riss eben um einen Fingerspann länger geworden? Skeptisch bemaß er den Stein. Es mochte am herankriechenden Nebel liegen, doch sah es aus, als stiege Rauch aus dem Stein und sammelte sich im allgegenwärtigen Dunst, welcher den alten Sem als erstes verschluckte. Die anderen drei Männer rückten zu ihm auf. Wie wasserscheue Kinder kamen sie Teodgar vor. Nur waren sie alle erwachsen und das Wasser hatte eine andere Zusammensetzung. Ein Stein klackerte irgendwo den Hang hinunter und etwas gab dort draußen ein Zischen von sich.
"Sem, komm her. Ich will nicht, dass deine Füße den Weg dort hinunter nehmen", rief Teod.
Keine Antwort.
"Sem! Alter, das ist ein Befehl!"
Wieder kein Wort das folgte. Auch konnte man Sems leicht gebückte Haltung, welche jener stets verdammte, nicht aus der Nebelwand erkennen.
"Wahrscheinlich ist er wieder weg", meinte Nolg, ein glatzköpfiger Mann den Teod in Temgor angeheuert hatte und welcher mit seiner Axt umzugehen wusste wie ein Bader mit der Zange. Der Krieger tippte sich gegen die Schläfe, um seinen Worte mehr Ausdruck zu geben. Genervt huschte Nolg in den Nebel. Teodgar verkniff sich eine Bemerkung. Er sah ihm fünf Schritte lang nach und hoffte, dass er den Alten mit Verstand zurückführte.
'Wahrscheinlich ist Sem einfach mit der Orientierung überfordert.'
Ein krächzender Ausruf Nolgs folgte aprupt. Stille. Der Nebel ließ kein Geräusch mehr entkommen. Des Drachenführers Herz pochte wir verrückt.
Auf einmal erklang irres Gelächter. Sems Gelächter!
"Bei den Großen Riesen, was geht hier vor?", stieß einer seiner Männer aus.
"Sem!"
Das Lachen steigerte sich zu hysterischen Rufen, welche jedoch keinen Sinn enthielten.
"Nolg! Hast du den Alten gefasst?", schmetterte der nächste Kamerad dem Dunst entgegen.
Doch meldete sich nur Sem zu Wort: "Da seid ihr ja!" Gekicher begleitete den Mann auf seinen Weg zurück zu den Kameraden. Teodgar Enkundam atmete erleichtert auf. Jetzt musste nur der Glatzkopf wieder kommen.
Welcher scheinbar diesmal an die Reihe kam, nicht aufzutauchen. Auf die Rufe seiner Waffenbrüder fand er kein Gehör. Langsam erdrückte den Teod die Ungewissheit. Die Furcht, ein Fluch laste über diese Insel, nistete sich in seinem Kopf ein. Die Sorge über seine Männer und die Ungeduld weil der Alte doch nicht in Erscheinung trat, sondern sich sein Gekicher gar wieder entfernte, trieben ihm den Schweiß heraus. Teod zögerte, ob er sich in den Nebel wagen sollte; wie alle Nordmannen, scheute er vor dem Dunst.
Irgendwo dort, wo die Klippe sich am von Geröllbrocken übersähten Strand brach, segnete Sems Stimme aprupt das Aus. Teodgar vernahm nur ein grausiges Knacksen in der tristen Stille.
Keinen Moment zu früh lichteten sich aufeinmal die Schwaden und warme Sonnenstrahlen rangen für den Platz um die Statue bis zum Felsvorsprung. Doch die Wärme fand nicht in das Herz der Drachenkrieger. Stattdessen blickten die Männer betroffen in die Tiefe. Der Tod kannte nur Kälte.
'Warum haben wir ihn nicht miteinander von der Kante zurückgeholt?'
Teod zwang sich nicht wegzusehen. Wenigstens diesen Respekt wollte er Sem zollen. Der Alte war ein guter Mann gewesen; der Klügste auf der 'Fjordsegler'.
'Weil ich keinen Befehl dazu gegeben habe. Alles meine Schuld…'
"Es wird auf Dimgurmaan,
ein Feuer brennen dann;
vom Menschen entfacht,
der bis zuletzt hat gelacht."
Nun griff Berem nach seinem Trumscheit und strich hohle, düstere Klänge an, bis die dunkle Melodie so gach endete wie der erste Ton sie erschaffen hatte und der Skalde fortfuhr:
"Um den Alten werden wir noch trauern,
wenn uns die Tode schon auflauern,
nachdem die Reue von uns verlangt zu wein'.
Kommt es so, dann lass das leben sein."
"Gehen wir", ordnete Teod an, nachdem er befand, dass sie ausreichend geschwiegen hatten. Jetzt galt es den Leichnahm zu bergen und Nolg zu finden. Außerdem wollte er beim Schiff auf die anderen Patrouillen warten und die aufkeimende Unruhe bekämpfen, welche seinen Männern bis ins Mark gedrungen war. Er war zwar kein Hund, trotzdem hätte er den Hauch einer Furcht gerochen, wenn nicht die Blicke seiner Mannen so viel mehr aussagten.
'Furcht wegen ein paar mickriger Nebelschwaden, die-", Teod presste die Lippen aufeinander.
Der Nebel erschien hier mächtiger als in der Heimat. Hier glaubte auch er an das Übel, welches man den Schwaden nachsagte - oder vorhersagte.
Balter wartete bereits auf ihn. Entgegen Teodgars Anweisung brannten keine Fackeln am Steg, dafür im niedrigen Langhaus, welches verwittertes Reet vor den Wettereinflüssen schützte. Immerhin schien ihnen unten die Sonne ebenso gnädig.
Noch bevor Balter etwas sahen konnte, schnitt ihm Teod das Wort mit einer unmissverständlichen Geste ab.
"Trommel die Männer zusammen."
Derweil marschierte auch Ifir mit seinen Mannen heran. In einer notdürftig zusammengebundenen Trage lag der zerquetschte Leichnahm Sems. Auf seine Anweisung hin schlichteten die ersten Männer bereits Geäst und Scheiter zu einem Haufen auf einen brusthohen Felsquader, welcher wohl von den Inselwächtern für derlei Sitten herangeschaft worden war, wie sich am geschwärzten Stein zeigte. In wenigen Worten teilte Teodgar seinen Männern mit, was beim Vallor an der Klippe geschah.
Für das Totenritual wollte er warten, bis Nojarl zurückkehrte.
Doch jener verspätete sich zunehmend und ließ auf sich warten. Teodgar überlegte, ob er einen Trupp losschicken sollte, damit sie Nojarl in Kenntnis setzen. Zudem wollte auch Nolg nicht auftauchen. Teod fürchtete, dass es dem Krieger ähnlich wie Sem erging.
Schließlich beriet er sich mit seinen engsten Vertrauten und beschied, der nordländischem Sitte schnellstmöglichst nachzukommen. Der Skalde und Balter hatten ihm freilich gut dabei zugesprochen.
Die beiden glaubten an die Legende.
Angeblich holte sich der Nebel die Toten und erweckte sie zum Leben, um sie zu Dienern des ewigen Zwielichts zu knechten, welches den Gottriesen feind war. Nur Feuer zeigte Wirkung gegen diese Verwandlung.
Da auf der Insel der Nebel allgegenwärtig schien, fühlten sich die Drachenkrieger vom Bösen der Welt umringt.
Sem wurde aufgebahrt und eine Fackel davor in die feuchte Erde gesteckt.
"Männer!", rief Teodgar eindringlich, aber nicht zu laut, sodass sich die Nachzügler vom Schiff herbeeilten. "Heute wird ein Recke weniger die Ruderbank mit einem von uns teilen, wenn wir nach Fajeror fahren."
Einen Moment lang ließ er die Nachricht sickern. Auch sammelte er Worte, wie er den Selbstmord umschreiben konnte.
"Die … Nebel haben Sem Tegdam in den Tod getrieben. Wir fühlten uns unwohl im Dunst und ließen Sem in Stich, bewahrten nicht sein Leben, als er sich zu den Klippen hin entfernte und auf das weite Meer blickte, als suche er etwas. Vielleicht kann er nun dort hinreisen, wohin sein Blick nicht reichen konnte. Ihr wisst, er war nicht mehr jung, doch sicher noch nicht alt genug um seine letzte Reise nach Arsengor anzutreten. Mögen die Gottriesen seinen Ruf dennoch erhören. Sem Tegdam soll als tapferer Name meinem Drachen folgen! Das schwöre ich bei Bor!"
"Bei Bor", murmelte die versammelte Mannschaft.
"Das verspreche ich bei Dur!", setzte Teod die Huldigung des zweiten Gottriesen an.
"Bei Dur!", riefen die Krieger.
"Das beteuere ich bei Fyr!"
"Bei Fyr!", ertönte der schallende Chor seiner Mannschaft um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.
Dann trat Balter vor Sems kalten Körper.
"Und bei Irin!", schrie er und die Kehlen der Temgorenen und Atagonen folgten ihm gleichermaßen, unabhängig davon, dass man in Atagor der Gottriesin Irinvell nicht huldigte.
Teodgar ergriff die Fackel und legte sie zu Füßen des Alten Sems nieder. Eifrig fraßen sich die Flammen knisternd und knackend in das Holz. Der Leichnahm gehörte ihnen.
Und mit dem Zerfall der Kohle zu Asche, verging auch der Tag.
Teodgar wollte die schummrige Helligkeit noch nutzen um sich mit den Unterführern abzusprechen. Nojarl mochte auf seiner Patrouille etwas zugestoßen sein - oder aber er hatte etwas gefunden, wie Teod meinte. Doch hätte er Nojarl mit soviel Bedacht eingeschätzt, dass dieser zumindest einen seiner Männer hergeschickt hätte.
So kam es, dass bis auf eine Handvoll Krieger, welche die Wache für die 'Fjordsegler' stellten, alle Mannen die Insel absuchten.
Bald zeichnete sich Erfolg bei der Suche ab. Ein Mann Ifirs eilte in diesem Moment zu ihm. Der Bote wirkte ernst und zierte sich zu reden, was Teodgar ein mulmiges Gefühl bereitete. Der Gedanke, dass seinen Mannen etwas zugestoßen war, ließ ihn nicht mehr loß. Der Drachenführer trieb den Krieger geradezu an und nicht nur einmal stolperten sie beide über Steinbrocken oder knorrige Wurzeln.
Sie erreichten geradewegs den Platz, an dem das Grauen auf Teodgar gewartet zu haben schien.
Es roch nach Blut und Urin. Am penetrantesten jedoch nach dem ekeleregenden, süßlichen Mief des Todes. Der Drachenführer stierte in die Mitte des Platzes. An einem Pfahl hingen die schlaffen Körper zweier Leichen, gehenkt mit einem Strick. Der felsige Untergrund wiederspiegelte eingetrocknetes wie frisches Blut, wenn die Fackeln der umhereilenden Krieger den Lachen nahe kamen. Der Drachenführer mochte dem ersten Eindruck erlegen sein, denn zwei seiner Mannen holten die geschundenen Körper vom Pfahl und da regte sich der Kopf eines Toten. Die Nordmannnen zischten und rissen ihre Waffen empor. Sie meinten, einen Untoten vor sich zu haben. Allerdings beschwichtigte Ifir die Männer schnell.
Teod trat näher an die zermürbte Gestalt heran, welche er als Frau identifizierte. Mineg, der Bader, bewahrte seinen kühlen Kopf und schnürte der Frau den verstümmelten Arm ab. Zäh quoll das Rot aus ihren Adern. Die Wunde musste ihr erst vor kurzem zugefügt worden sein, ansonsten wäre sie längst verblutet.
"Sie ist eine Wächterin der Insel", murmelte Mineg und wischte mit einem feuchten Laken über die Stirn der Wächterin. "Seht, das Brandmal auf der Stirn. Möge der Herr Fyr sich ihrer annehmen." Kleinlaut wiederholten die Atagonen letzteren Satz. Jener Gottriese stand in ihren Land für Zuversicht und Hoffnung.
Mit einer Bahre trugen die kräftigsten Drachenkrieger die Verwundete zur Bucht hinunter. Den Leichnahm des Inselwächters verbrannten sie vor Ort.
In diesem Feuerschein bemerkte Teodgar plötzlich einen eingedellten Helm mit ledernem Nackenschutz am Rand des 'Schlachtplatzes', welchen er als zu seiner Mannschaft zugehörig erkannte. Einen ähnlichen hatte Nojarl getragen.
Böses ahnend wies er eine Handvoll Männer an, das Umfeld ein weiteres Mal zu durchforsten.
Letztlich stand die dumpfe Gewissheit fest. Es hatte hier ein Gemetzel stattgefunden. Die Kampfspuren, all das Blut und zerfetzte Stücke einer Wollkleidung zeugten verbitterte Gesichter. Nojarls Trupp hatte sich hier ein blutiges Gefecht geliefert. Stumm schickte Teod ein Gebet zu Fyrwall hinaus aufs Meer; er hoffte dass es dennoch Gutes verhieß keinen weiteren seiner Männer tot vorgefunden zu haben.
Mehr aber noch wurmte Teod die Frage, warum sie von diesem Gemetzel nichts wahrgenommen hatten. Derartiger Lärm sollte die ganze Insel aufschrecken lassen!
Berems Blick traf forsch auf den seinen. Der Drachenführer schnaubte. Es musste ein anderer Überfall dahinter stecken; lebende Leichen gab es nur in abergläubischer Phantasie! Möglicherweise wurden seine Männer mit einem Gift oder Rauch betäubt - allen Zweifeln zum Trotz, da derlei Mittel in der hiesigen Kriegsführung nicht eingesetzt wurden. Außerdem blieb immer noch die Frage, warum hier die Erde roter war denn die Schlachtbank eines Metzgers, und seine Männer - oder deren Leichnahme - verschwunden waren. Die beiden Inselwächter hätten nie so viel Blut verlieren können.
Teodgar war nahe daran den Auftrag des Fürsten abzubrechen und umzukehren - mit vier besetzten Ruderbänken weniger.
"Sieben Mannen… Kein Sturm holt sich mehr Leben denn an diesem Tag."
"Werden wir umkehren?", fragte ihn Ifir.
In dessen Gesicht konnte Teod nicht lesen. Sein Kamerad warf ihm aber keine Schuld vor, so gut kannte er ihn.
"Seit unserer Ankunft sind sechs Krieger verschwunden und Sem ist tot. Wenn ich es nicht besser wüsste, ich würde meinen, diese Insel sei verflucht."
"Dann sehen wir zu, dass wir aus der Wächterin schlau werden. Dass hier irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht glaube ich auch. Der Skalde meint ja…"
Ein gefährliches Zischen erklang aus dem Mund des Drachenführers.
"Schweig besser", wies Teodgar den Krieger zurecht. Nach einer Weile peinlichen Schweigens, begleitet vom Knacken des brennenden Holzes, meinte Teodgar: "Ich werde morgen früh das Ting einberufen."
Das Gewissen plagte den Drachenführer so sehr wie noch nie. Trotzdem blickte er nicht zurück. Er und seine Männer hatten diese Entscheidung getroffen. Nolg, Nojarl und die anderen Mannen; keiner erschien bis zum Morgen beim Steg. Wohin sie verschwunden waren, konnte Teodgar beim besten Willen nicht erahnen. Die Männer weilten nicht mehr auf der Insel.
Im Falle, dass jene dennoch zurückkehrten - woher auch immer - ließ Teod Proviant in der kleinen Halle am Steg zurück. Er hegte Zweifel, dass er seine Krieger wiedersehen würde, wenn sie von der Expedition zurückkehrten, denn so hatte es seine Mannschaft im Ting beschlossen; sie würden bei der Heimfahrt nochmals anlegen.
Zu des Drachenführers Unmut gab es genügend Feiglinge an Bord, deren Mut in den letzten Stunden verloren gegangen war. Anderen missfiel das zurücklassen ihrer verschwundenen Kameraden. Eigentlich konnte er es diesen Männern auch schlecht verübeln. Doch waren sie alle Nordmänner - und das hatte er ohne Hehl in die Versammlung eingebracht. Dieses Argument zog und brachte die Zweifler wieder auf seine Seite.
Der nächste Hafen und zugleich letzte Anlegestelle an festem Boden würde Fajeror sein. Eine wenig größere Insel denn Dimgurmaan. Hier lebten die letzten Menschen, danach gab es nur mehr den einsamen Norden. Jene Insulaner mochten Eigenbrötler sein und nicht viel für die Machenschaften der Länder südlich von ihnen übrig haben, doch versorgten sie seit Jahrhunderten die Wächter auf der Nachbarinsel.
Ganz leise drang das Wimmern der verwundeten Wächterin herauf an Deck. Der Tod war ihr sehr nahe. Das meinte auch Mineg. Zu Teodgars Verbitterung hatten sie nichts aus der Frau herausbekommen, in ihrem Blick schien das Leben bereits verloschen und die Lippen bewegten sich nur im Fieber. Darum erhoffte er sich von den Fajeronen Informationen.
Im Gegensatz zu der unwirtlichen, felsigen Fauna auf Dimgurmaan, gab das flache Land zwischen den zwei Fischerdörfern Fajerors karge Felder und eine Schafweide her. Ein knorriger Latschenwald nahe dem größeren Dorf sah zum einzigen Ausguck auf, welcher an einen Schiffsmasten erinnerte. Von dort behielten die Fajeronen den Überblick über ihre Insel und das Meer rundherum.
"Wieder kein Licht." Teodgar musterte die dunklen Silhouetten der Langhäuser im matten Mondschein. Der Nebel hatte sich seit dem Morgen zurückgezogen und die klare Sicht hielt auch noch spät an.
"Bläst in das Drachenhorn", wies Teod zwei Männer an.
Die Bewohner sollten früh genug von ihrer Ankunft erfahren. Der tiefe Ton dieses mächtigen Holzinstrumentes überrollte die Nacht und erzeugte ein angenehmes Kribbeln unter Teodgars Haut.
"Ich sehe keine Boote", sprach Ifir und gesellte sich zu seinem Drachenführer an den Bug.
Der Lindwurm sah unbeeindruckt zum Dorf hinüber. Für jenen mochte es eines von vielen sein, wo er auf Artgenossen traf.
Teodgar grunzte. Ifirs Beobachtung entsprach der Wahrheit.
"Dann musst du dich eben alleine im Hafen räkeln", flüsterte er seinem Schiff zu und tätschelte die geschnitzten Schuppen.
"Ruder einziehen!", befahl er und gab seinem Freund zu verstehen, dass die Boote bereit gemacht werden sollten.
Die Strömung würde ausreichen und die 'Fjordsegler' nah genug an die Insel heran bringen. Zuerst wollte sich Teod aber vergewissern, ob sie überhaupt anlegen durften - sofern er Menschen vorfand.
Ein Boot führten Drachenschiffe dieser Größe immer im Schlepptau mit, ein zweites deckten soeben Männer unter Ifirs Anweisung ab. Gemeinsam mit den Ruderern schoben sie das Boot über drei breite Pfosten an die Reling. Dabei neigte sich das Drachenschiff unter der ungleichen Belastung zur Seite und das Wasser verschluckte die Malereien, welche traditionell über der Wasserlinie jedes Langbootes aufgetragen wurden. An einem Tau entließ die Mannschaft das Boot wieder über drei ins Meer führende Pfosten; ein Plantschen quittierte das gelungene Manöver. Dass die 'Fjordsegler' stark schaukelte störte das Dutzend Krieger nicht, welche flink in die Boote übersetzten. Als letztes folgte Teod und führte mit seinem Boot an. Er genoss es vorne seinen Platz zu haben, während seine Mannen ruderten. Er fühlte sich als wahrer Drachenführer. Ein Hauch von unbezwingbarer Macht umgarnte ihn.
Diese Illusion verflüchtigte sich jedoch so schnell wie morgens der Nebel in seiner Heimat. In keinem Fenster der zehn Langhäuser brannte wärmendes Feuer, auch nicht am Steg, welcher äußerst glitschig war.
"Riecht gefährlich", äußerte sich Balter, strich mit dem Finger über die Pfosten und schleckt diesen ab. "Ist gefährlich. Entzündet erst am Festland die Fackeln, sonst gehen wir hier in einer wahren Feuersbrunst auf!"
Ifir fluchte. "Welche Narren verschütten hier ihr Brandfett?"
"Wir werden es herausfinden", erwiederte Teod und kramte seinen Feuerstein hervor.
Nicht ein Bewohner der Insel hörte ihr Rufen, noch zündete jemand eine Kerze im Inneren der Hütten. Zudem schoben sich momentan Wolkenfetzen über den Mond und Finsternis breitete sich aus. Teodgar tat gut daran, seine Männer hier nicht in Gruppen zu splitten. Etwas böses lauerte hier. Da vertraute er eher auf den Schildwall seiner Krieger.
Jemand seiner Mannen platschte in eine Pfütze, zwei weitere folgten. Plötzlich entfuhr dem Mann ein fluchender Aufschrei. Sofort rückten die Drachenkrieger zusammen und hoben ihre Schilde vom Rücken, bereit dem Feind entgegenzutreten.
"Hier ist alles voller Blut", krächzte der Mann, dessen Stiefel ein rotes Bad genommen hatten.
Nun beleuchteten auch die anderen Fackeln den besudelten Pfad zwischen den Langhäusern, welcher sich gar zu oft von Tor zu Tor zog.
"Ich werde nicht schlau daraus. Keine Toten… nirgends!", murmelte Ifir mit Nachdruck.
"Vielleicht haben sie sich ins Innere gerettet", erwiederte ein muskulöser Temgorene.
Teodgar deutete vieren seiner Mannschaft vor dem Tor des Hauses zu warten, mit der restlichen Mannschaft drang er ein. Der Fackelschein warf hektische Schatten auf die blutbespritzen Wandteppiche und verdüsterte die Stimmung der Krieger. Nichts sprach hier mehr von einem Überfall. Ansonsten wäre das Dorf gebrandschatzt worden, zumal Nordmänner kein solches Blutbad anrichteten. Und es fehlten wieder Leichen. Teodgar strich über das bereits eingetrocknete, rotbraune Blut, das den Teppich verklebte.
"Das Gemetzel ist schon einige Tage vergangenen. Vermutlich hat der torfige Boden die Lachen draußen am versickern gehindert", meldete sich Ifir zu Wort.
"In das gegenüberliegende Sippenhaus!", wies Teod seine Mannen an. "Und bleibt zusammen; wer auch immer hierfür verantwortlich ist, kennt keine Gnade. Haltet besonders nach Toten ausschau!"
Harsch fasste Teodgar einen Unterführer an der Schulter.
"Balter, gib du der 'Fjordsegler' das Signal zum anlegen. Wenn sich hier Feinde aufhalten, möchte ich die gesamte Stärke meiner Mannschaft bei mir haben."
Auf sofortigen Geheiß marschierte jener zurück zum Steg, mit zwei Kriegern im Schlepptau.
Wie sich zeigte, boten nur die Langhäuser, welche dem Hafen am Nächsten lagen, Spuren des Kampfes. Dass es einer gewesen war, zeigte sich nicht nur am Blut, sondern auch an zerbrochenen Äxten und Schilden. Leichen tauchten keine auf; wenn man von dem verschmorrten Arm absah, welchen einer der Krieger in einer Feuerstelle vorfand.
So ließ Teodgar drei weitere Männer beim Steg zurück, damit sie die auf der 'Fjordsegler' zurückgebliebene Mannschaft von seinem Vorhaben in Kenntnis setzten. Mit dem Rest der Schar folgte er dem Weg zur anderen Ortschaft, welche er ungleich größer vorfand. Teod meinte zu wissen was er in diesem Dorf vorfinden würde, weil auch hier kein Boot und kein Schiff an den Stegen ruhte. Dafür erstreckte sich unweit des Hafens eine beinahe majestätische Wand über das Wasser, welche sich in ihrem Grau deutlich von der herrschenden Finsternis abhob und die Schwärze am Horizont gar verschluckte.
So einschüchternd hatte der Drachenführer noch nie Nebelschwaden gesehen. Auch seine Mannen nicht. Zu ihrem Behagen bewegte sich dieser Schleier nicht. Trotzdem trieb Teodgar seine Kameraden zur Eile an, trauen tat er dieser tückischen Wettergewalt nicht.
Weit kamen sie nicht ins Dorf. Der wiederkehrende, schwache Mondstrahl fiel günstig zwischen die Häuser in die breite Straße und erschuf dunkelstes Rot am glänzenden Boden. Blut. Viel mehr Blut! Aber selbst das mochte für Atagonen wie Temgonen in seiner Mannschaft kaum so prägend sein wie das Muster, welches die in die Erde eingeschlagenen Knochen bildeten. An den meisten hingen noch Fleisch- und Hautfetzen.
"Bei den Göttern!", entfuhr es Ifir. "Ich hab schon einmal ein solches Muster gesehen."
Das gab auch Teod den Anstoß, sich die Linien genauer anzusehen und den Blick vom Nebel zu nehmen. Wahrhaftig, die Knochen bildeten schlangenförmige Linien, welche allerdings einer strengen Anordnung folgten; gar einem ihm zu gut bekannten Symbol…
"Lauft!", schrie Berem urplötzlich. "Lauft um euer Leben, 'sie' kommen! 'Sie' kommen!" Blanke Furcht überschlug dessen sonst stets besonnene Stimme.
Nie hätte Teodgar gedacht, dass ein Nordmann solche Angst empfinden könnte. Dann versagte auch ihm der Mut. Die Nebelwand kroch nicht auf sie zu, sie floss auch nicht auf sie zu, sondern sie fegte regelrecht auf sie zu, als wären sie Beute, welche es zu verschlingen galt. Bis auf den Skalden starrten alle auf die wabbernde Masse.
'Beute.'
Teodgars Gedanken drehten sich um die Legende.
'sind Beute.'
"Es gibt sie nicht. Tote leben nicht.", stammelte er.
'Wir sind Beute.'
Diese Erkenntnis saß. Teodgar raffte sich auf und blaffte seine Männer an, ihren Mum zu wahren. Er verwünschte sie in den dreckigen Untergrund der Meere und schrie sie an als wäre er ein Dämon höchstpersönlich. Das zeigte Wirkung. Jene, welche sich am meisten fürchteten rannten am schnellsten. Ihre Flucht glich einem heillosem durcheinander.
Ob ihm seine Augen einen Streich gespielt hatten oder ob er paranoid wurde, wusste Teodgar nicht. Doch in den Schwaden glaubte er Fratzen gesehen zu haben. Gleich darauf stieß er einen trockenen Lacher aus. Warum hatte er sich nochmal zur Flucht verleiten lassen? Durch Berem, den Angsthasen. Keuchend hielt er inne.
"Mannen, kommt zurück ihr Feiglinge!", rief er den vordersten zu und bedeutete den Nachzüglern zu halten. Mit Fassung wandte er sich zum Nebel um. "Drachenkrieger! Das ist nur ein-", grollte er und noch im nächsten Augenblick stockte ihm der Atem.
Dort nahte das Unmögliche...
"Das… es gibt sie nicht." Alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
Deren Beine berührten nicht den Boden, sondern schwebten auf dem unheimlichen Nebel. Verstümmelte Leiber torkelten aus dem Grau hervor. Die Untoten waren Wirklichkeit.
Ifir riss seinen Drachenführer herum und schubste ihn weiter. Teodgars Autorität schien dahin zu sein. Sein Weltbild erlitt eine Zerstörung.
Ein Dutzend Untote verfolgte die Nordmänner und holte bedenklich schnell auf. Deren Kleidung konnte unterschiedlicher nicht sein. Mancher Tote trug zerbeulte Brustpanzer und andere wiederum teure Pelzmäntel, doch die Mehrheit war oft kaum von den Lebenden auseinanderzuhalten, wenn man von der bleichen Hautfarbe und den verschorften Wunden absah.
Ein Drachenkrieger schmiss panisch seine Fackel in den Nebel, als der Dunst ihn zu verschlingen drohte. Im selben Augenblick fuhr das Beil eines Untoten auf ihn nieder. Mit mehr Glück denn Verstand traf seine Fackel auf des Wiederbelebten Brust und verhinderte das Todesurteil. Ein Wirbel aus feuchtem Aschestaub stob auf. Zischend zerfiel die Hülle des Untoten. Überrascht von diesem Ergebnis fassten die Flüchtenden neuen Mut und Teodgar überwand letztlich seinen Schrecken. Mit schwacher Stimme, welche jedoch bald mit der üblichen Kraft Befehle erteilte, scharrte er seine Mannen um sich.
Der kühne Krieger indess traute seinen Augen kaum. Im plötzlichen Sinneswandel schürzte er entschlossen die Lippen und stierte angriffslustig in das undursichtige Grau. Und seine Augen trauten nicht dem Wurfspieß, welcher Fleischgewebe zerreißend seinen Leib durchbohrte. Dagegen mochte ihn sein dickster Mantel nicht schützen. Mit entsetztem Blick ging er zu Boden, wo er blutspuckend sein Leben aushauchte. Keinen Lidschlag später trat ein Hüne aus dem Nebel, welcher jeden Krieger der 'Fjordsegler' um sicherlich zwei Köpfe überragte. Ein zweiter Speer suchte sich das nächstes Opfer und ein Grinsen umspielte die blutleeren Lippen des Hünen, als frischer Lebenssaft umherspritzte und die Moral der Nordmänner schwächte.
Teodgar ergriff tatbewusst die Fackel eines Kameraden und stellte sich dem Feind entgegen. Ein erbitterter Zweikampf entbrannte und der Drachenführer hatte alle Geschicklichkeit anzuwenden, um mit seinem Schwert die Angriffe des Untoten abzuwehren und gleichzeitig mit der Fackel dessen Verteidigung zu schwächen. Ifir erbarmte sich seines Landsmannes und stürmte mit erhobener Axt empor und riss den überrumpelten Hünen zu Boden. Sofort stieß Teod mit der Fackel zu. Augenblicklich verdichtete sich der Nebel. Die Flamme erlosch zischend in der feuchten Erde wo sich der Hüne weggerollt hatte. Dafür näherte sich eine Handvoll anderer Untoter, jedoch von kleinerer Statur. Diese trugen kaum einen Fetzen auf der Haut. Wohl aber nicht aus Verschleiß, sondern weil unzählige bläulich schimmernde Tätowierungen die Körper entstellten. Untote aus fernen Ländern.
Wie auf Kommando schlugen die Nordmänner mit ihren Waffen auf die Schilde und stimmten den Schlachtruf an. Dann prallten die toten und scheinbar stummen Krieger auf die brüllenden Mannen der 'Fjordsegler' und ein erbittertes Gefecht erstreckte sich des Weges.
Wohl dankte der Drachenführern den Gottriesen, dass das Zwielicht nicht noch mehr solch toter Ausgeburt hervorbrachte, denn dann wäre hier und heute ihr Untergang gekommen. So aber besiegten die tapferen Nordmänner die Untoten und schleppten drei ihrer Gefallenen Waffenbrüder zurück zum Hafen, wo die 'Fjordsegler' auf ihre Ankunft wartete. Die Überlebenden hasteten zum rettenden Steg, der eine oder andere blickte nicht nur einmal zweifelnd zurück. Darum kam es wie es kommen musste. Ein Drachenkrieger rannte in Balter rein, welcher mit seiner Fackel die Truppe anführte, und plötzlich ergoss sich, schneller als es das Auge zu erfassen mochte, ein verheerendes Inferno über die Holzbalken. Auf dem Langschiffe wurden entsetzte Rufe laut und die mühsam aufgestellte Ruhe Teodgars ging im aufkeimenden Chaos unter. Fluchend sprang Ifir ins Wasser und weitere folgten seinem Beispiel um weiteren Verbrennungen zu entgehen. Andere sprangen von Schmerzen gepeinigt über den Steg, rissen sich die schwere Pelzkleidung von den Leibern und schrien, als wäre das Ende der Welt angebrochen.
All dies verfolgte Teodgar Enkundam wie in Trance. Mit dem Gefühl, ein Fass Met alleine geleert zu haben, registrierte er das Leiden seiner Männer und seine Zähne mahlmten knirschend aufeinander, als er den Verlust in Dimgurmaan dazuzählte.
Er war ausgezogen, weil diese Mission im Mund des Fürsten ungefährlich geklungen hatte. Er wollte nicht den Tod so zahlreicher Männer beklagen! Nicht nocheinmal…
Wie sollte er den Verbleib der fürstlichen Expedition ausfindig machen, wenn er jetzt scheiterte. Womöglich mochte eben diese mit selbigen Geschehnissen gekämpft haben. Irgendwie müssten jene es trotzdem weiter gen Norden geschafft haben, sonst hätte er ihre Schiffe gesehen.
In diesem Moment endete der Kampf zwischen Feuer und Wasser und der verkohlte Steg brach in sich zusammen. Erleichtert nahm Teod zur Kenntnis, dass sich alle Überlebenden zu den zwei Booten oder bereits auf die 'Fjordsegler' gerettet hatten. Nur die Gefallenen hatten Flammen und Meer zu sich geholt.
Ein Boot ruderte zu ihm heran und Teodgar hangelte sich hinein. Nur einen Blick nach Hinten genehmigte er sich noch. Dorthin, wo der Nebel am dichtesten war und 'lebte'. Bei diesem Erlebnis zog sich ihm eine eisige Gänsehaut auf und ein juckender Schauer jagte über seinen Rücken. Instinktiv wollte er das Grauen abschütteln. Vergebens.
An eine Umkehr dachte keiner mehr. Zu viele Nordmannen gaben in den letzten Tagen ihr Leben, als dass ihre Kameraden aus Furcht vor den Nebel wieder in sichere Gewässer ruderten und beschämt vor dem Fürsten ihre ergebnislose Rückkehr rechtfertigten. Stattdessen brannte in den Gemütern der Männer Stolz und das Verlangen nach Rache. Ihr Blut rauschte wie an jenen Tagen, als ihre Vorväter mit den Schiffen zu Plünderfahrten an fremde Ufer segelten; das gab ihnen die Moral zurück, welche Teodgar zum führen seines Drachens benötigte.
Der Skalde spielte auf seinem Instrument und die Trommeln untermalten wie in früheren Tagen das Plätschern der Ruder. Diese Tage blieb den Kriegern der Anblick Untoter verschont. Nur der immerwährende Dunst wollte ihr ständiger Begleiter sein. Jener füllte die Lungen mit stechender Kälte, je weiter sie sich nördlich wagten. Nicht wenige Männer sehnten sich nach einem Feuer und gebratenem Fleisches, doch verbot ihnen dies die gestrenge Vernunft. Aus diesem Grund aßen sie rohen Fisch oder geräucherte Ziege mit Sauerkraut und reichten trockenes Schwarzbrot dazu.
Teodgar zeichnete gewissenhaft die Route auf seinen Karten ein und ergänzte jene, wenn sie neben Sandbänken oder Riffen einhertrieben. Auch vermerkte er am Rand die anhaltende Windstille. Auf das Tagholz merkte er besondere Vorkommnisse an. Dort konnte jeder ablesen, dass es um die Wächterin nicht besser stand. Sie haderte mit ihrem Leben. Oder mit dem Tod. Sterben wollte sie trotz der Schmerzen nicht, dafür zollte Teodgar ihr tiefen Respekt.
Diese zum Alltag werdende Gewohnheit wurde durch einen aufgeregten Ruf des Ausgucks gestört. Der Drachenführer trat sogleich an Deck.
Er kannte die Friedhöfe in den südlichen Ländern und zog mit diesen einen Vergleich mit dem, welcher sich vor ihm erstreckte; mit der Ausnahme, dass diese Kreuze von gigantischem Ausmaße waren. Auch hier glichen die Masten einem dürren Wald, doch um vieles größer den jener, an welchem sie vor einigen Tagen vorbeistakteten. Zerbrochene Planken und halbversunkene Rümpfe säumten das Meer dazwischen und bildeten unsichere Brücken zu den Riffen.
Jedem Drachenkrieger stand ins Gesicht geschrieben, mit was sie diese Drachenschiffe in Verbindung brachten. Das Ende der Expedition. Entgegen aller Vernunft ruderten sie weiter, bis das Schiff nah genug heran trieb und die Männer abermals mit langen Latten am Meeresgrund entlangstaken und die wendige 'Fjordsegler' durch den Friedhof lenkten. Es war kein Befehl ihres Führers nötig, jeder Mann rüstete sich zum Kampf und bald leuchteten Fackeln die trübe Umgebung aus.
Auf einmal bildete sich Teod ein Rufen ein, welches merklich an Lautstärke zunahm und bedeutete seiner Mannschaft innezuhalten. Sofort herschte Stille auf seinem Schiff. Wahrlich, schrilles Geschrei durchbrach kaum hörbar die Dunstschwaden. Eine Anspannung schmiegte sich um den Drachenführer, wie er erst selten eine gespürt hatte. Die Stimme wurde lauter und hässlich lallend, wie die eines Betrunkenen.
"Oder eines Irren", brummte Teod unhörbar für seine Kameraden und beobachtete den ruckartig bewegende Schemen im nahen Nebelschleier.
Ein halbgekenterter Drache zur Rechten bot eine provisorische Anlegestelle im seichten Gewässer und die Männer sprangen von Bord, sobald die ersten Taue an hölzernen Fragmenten diverser Schiffsbestandteile, welche einigermaßen massiv wirkten, Halt fanden. Keine hundert Schritt entfernt torkelte die gebückte Gestalt eines Untoten umher. Sofort rief Teodgar nach den zwei Armbrüsten, welche er teuer angeschafft hatte, um sich in Seegefechten einen Vorteil zu verschaffen. Allerdings waren diese Fernwaffen um das vierfache größer, denn die herkömmlichen und dementsprechend hatten je zwei Mann an einer zu tragen. Deshalb wartete Teodgar deren Einsatz nicht ab und teilte seine Mannschaft abermals in zwei Trupps. Jener unter dem Kommando Ifirs blieb beim Schiff und bereitete die Verteidigung auf das vor, was kommen konnte - denn wie sonst wäre es hier zur Vernichtung der Expedition gekommen?
Den anderen Trupp führte der Drachenführer zielsicher auf das zerstörte doch ungesunkene Wrack. Vorsichtig näherten sie sich der Gestalt.
Zu Teods Verblüffung stellte sich die Gestalt als Überlebender dar; als Mensch. Dessen Haut mochte wohl blass sein, doch die Wangen und Lippen zeugten von gesunder Röte.
"Kehrt um, Verrückte!", kreischte der Mann. "Kehrt nie, niemals wieder zurück! Und nehmt mich mit! Bitte! Die Nebel machen mich wahnsinnig."
Bettelnd stürzte er auf Teodgar Enkundam zu. Sein Haar war zerzaust wie sein Gewand, sein Bart sammelte wohl Algen und die abgemagerten Muskeln ließen nur schrumpelige Haut zurück. Solch erbärmliche Leute gab es nichteinmal in den Armenhäusern der Städte.
Bestimmt hätte Teod Mitleid verspürt, wenn sich da nicht der glasige Blick in den Augen des Überlebenden widerspiegelte. In ihnen las Teod Gier. Mehr noch Angst, eingeschüchtert von den vielen Nordmännern, die so plötzlich hier erschienen. Der Glanz in den Augen nahm zu und der Mann torkelte rückwärts. "Kehrt um", warnte er die Drachenkrieger erneut. Die heisere Stimme drohte ihn zu ersticken, denn er würgte. Teodgar entging dies nicht und näherte sich ihm, während er beruhigend auf ihn einredete. Er wollte, dass ihm dieser einstige Drachenkrieger, welcher er bestimmt war, berichtete, was geschehen war. Wie die Antwort lauten würde, spürte Teod und das ließ ihn frösteln.
"Bist du der einzige Überlebende der Expedition?', fragte er und der Mann nickte und setzte sich auf eine zerbrochene Kiste.
"Wie ist dein Name?"
"Gobek", flüsterte dieser. "Von der Sippe…"
Teodgar verstand die leisen Worte nicht länger und beugte sich vor.
"Wie ist dein Vatersname?"
"Odr... Odrerdam, Führer. Ich bin …war Rudermann."
"Wer hat euch angegriffen?"
Der Blick Gobeks trübte sich ausgerechnet in diesem Moment und starrte unberührt auf Teods Brust.
"Gobek, wer? Wer ist der Feind?", wiederholte Teodgar mit Nachdruck und stieß den gebrochenen Mann an.
Da riss der Überlebende besessen die Augen weit auf und zischte: "..denn sein Blut straff' aller Taten Lug. Als das Wasser jenen Leichnahm trug, da galt derer ruhlos wandelnder Ruf,
dem Zwielicht…"
Der Auszug aus der Nordwindeballade erstarb noch auf seiner Zunge, als er plötzlich den Mantel Teodgars erkrallte und den Drachenführer aus dem Gleichgewicht brachte. Faulige Zähne blitzten zwischen den Lippen auf, welche ein Wimmern ausstießen und mit ihrem süßlichen Mundgeruch Teodgar den Atem stahlen.
'Welches Untote schuf', ergänzte Teodgar die Ballade für sich. Harsch lockerte er Gobeks Griff. Dieser Mann glich zwat keinem Untoten, allerdings auch keinem richtigen Menschen mehr.
In des Drachenführers kurzer Geistesabwesenheit griff der irre Drachenkrieger nach Teods Messer und holte zum Stich gegen den ungeschützten Hals aus. Im Anflug der Panik riss Teodgar den Arm des Mannes instinktiv zur Seite und versetzte jenem einen Kinnhaken. Das Messer verfehlte Teod nur knapp. Gobek schrie enttäuscht auf. Das brachte seine Wut zum kochen und tränkte dessen Gesicht in Purpur. Einen kurzen Augenblick später kam das Geschrei zu einem jähen Ende.
Gobeks Gesicht zersprang und Teodgar wurde in einer Fontäne aus Blut und Hirnmasse geduscht. Noch im selben Moment stürzten mit kreischenden Lauten schwere Schatten aus dem Nebel und fielen über das Massaker her. Blinzelnd versuchte der Drachenführer seine Umgebung zu realisieren. Um ihm herum schlangen die Kraren, auch Aasfresser der Lüfte genannt, an den Leichenteilen und zetterten dabei herrisch, während sie triumphierend mit ihren schwarzgefiederten Flügeln schlugen. Hungrig schlugen diese großen Vögel ihre Schnäbel und Krallen in das frische Fleisch. Balter schmeckte das garnicht. Genervt vom Gekreische, trat er hinzu und scheuchte die Aasfresser vom Boden auf. Krächzend beobachteten ihn die Vögel mit ihren schwarzen Augen. Teod meinte einen lauernden Glanz in den Augen zu erkennen. Ächzend erhob sich Teodgar und bedachte seinen Freund mit dankendem Blick. Balters besudeltes Beil erzählte genug.
Die Schreie von seiner Mannschaft rührten jedoch aus einen ganz anderen Grund her. Federknäuel schoss dort über die Köpfe der Drachenkrieger und stürzten koordiniert auf jene herab, welche keinen Helm trugen. Teodgar fluchte, nahm seine Axt wieder in die Hand und ergriff blitzschnell die Gelegenheit. Eins, zwei, gar drei der übergroßen Aasfresser fielen alsbald unter seinen Hieben, während Balter einen vierten abmetzelte, welcher entkommen wollte. Der Mann rümpfte seine Nase. Es stank nach dem Krarenfleisch.
Das Kreischen wurde im zwielichten Himmelsgrau eine Spur schriller, verflüchtigte sich aber unter verstummendem Krächzen, als endlich die Schützen vom Schiff mit den Armbrüsten die Vögel nach der Reihe abschossen. Erleichtert stützte sich Teod auf seine Axt. Das erwartete Siegesgejohle blieb allerdings aus.
Rund um sie herum verdichteten sich die Dunstschwaden und schnitten Teodgars Trupp von der Schiffsmanschaft ab. Die Drachenkrieger sammelten sich um ihren Führer und starrten mit einer Mischung aus Misstrauen und Abscheu in den Nebel. Ein verlauster Untoter torkelte hervor und griff Balter an. Der zögerte nicht, blockierte den Hieb mit seinem Rundschild und schmetterte seine Axt gegen die ungeschützte Brust. In diesem Moment ertönte ein Grollen und dutzende, und aberdutzende Gestalten des Zwielichts lösten sich aus den Schwaden, welche unter leichten Windböen zerfielen.
Furcht griff um sich wie ein Waldbrand. Mit fester Stimme befahl Teodgar Fackeln zu zünden. Rasch hielt jeder Nordmann das vernichtende Feuer in seinen Händen. Rachsüchtig warteten sie auf den Tod der Untoten.
"Stellt euch Rücken an Rücken", herrschte Teod sie an und trat neben einen blonden Jüngling, welcher seine erste Drachenfahrt vor sich hatte. Teod sah die Angst, das Entsetzen in Efert - so nannte sich der Bursche - und ermutigte ihn mit einem schiefen Lächeln. Dass ihn sein Gewissen dafür schalt blendete er ab. Einmal noch sah er gen Himmel und packte feste das Holz seiner Waffe.
'Alle Hoffnung verliert sich dort, wo kein Sonnenstrahl niederfällt. …Hier ist es kalt.'
Mit einem Aufschrei riss er seinen Schildarm herum und blockte den Schwung des Beiles, das ihm oder Efert den Tod wollte, und starrte in 'das' Gesicht. Die Züge des Hünen schienen aus dieser Nähe verhärmter.
"So sieht man sich wieder", zischte Teod und ging seinerseits in die Offensive über.
Der riesenhafte Untote kannte seine Waffe und wusste diese ausgezeichnet zu schwingen. Der Drachenführer ließ sich schnell abdrängen, denn der Hüne schien eine übermenschliche Stärke zu besitzen. Dieser Umstand machte auch Efert zu schaffen, welcher tollpatschig die Hiebe seines Kontrahenten abwehrte. Ein weiterer Untoter sah im Jüngling leichte Beute und stürzte auf ihn los. Mit mehr Glück denn Verstand stieß Efert seine Fackel in den verfaulenden Bauch. Ohne den Mund zu verziehen löste sich der Untote auf. Todeschreie folgten nur von den Drachenkriegern.
In einem unachtsamen Augenblick schrammte das scharfe Stahlblatt des Hünen über Teods Oberarm und schlitzte seinen Überwurf bis in sein eigen Fleisch auf. Das Leinenhemd soff sich sogleich am Blut voll. In den Augenwinkeln erkannte er bereits die nächste Gefahr.
Wütend blaffte er Efert an: "Schild hoch!"
Dann riss er den Burschen zu sich herum. Kein Zögern später ließ der untote Hüne sein Beil gegen den Teods Schild krachen. Holzsplitter rieselten zu Boden. Teodgar indess warf dem Untoten seine Fackel auf den Pelz. Dann packte er seine Axt, biss die Zähne zusammen und holte aus. Wuchtig hackte das Metall in den brennenden Körper und zertrümmerte das Schlüsselbein. Die Flammen lechzten über die verbrennende, tote Haut bis einzig und allein schwarze Asche auf dem blutigen Boden zurückblieb. Der Tod war endgültig!
Doch nicht jeder Nordmann schlug sich ähnlich wacker wie Teodgar Enkundam. Sechs seiner Mannen lagen auf den gestrandeten Fragmenten der Langboote. All ihre Tapferkeit für den Tod eingebüßt und mit gräßlich entstellten Leibern, da dieser Brut des Zwielichts nach Blut dürstete. Zusammen mit Efert erschlug er einen Untoten, welcher seine Zähne im Hals des treuen Balters vergrub. Bitterkeit durchspülte Teodgars Gaumen und in ihm schrie dieser Verlust. Er knirschte mit den Zähnen und schlachtet noch einen Menschenfresser ab. Einen weiteren erschlug er, angetrieben von Rache.
Dann erkannte Teod erst die Furcht in den Augen seines Schützlings. Efert hatte Angst vor ihm, mehr zwar noch vor den Untoten; doch der Bursche fürchtete 'ihn'. Das traf den Drachenführer. Der Jüngling musste denken, dass ihn Teodgar geradewegs zum Sterben mitschleppte. Mühsam besann er sich, unterdrückte den Berserker in ihm und scharrte seine verbliebenen Krieger um sich. Gemeinsam wagten sie den Vorstoß zum Schiff. Davor jedoch, zündeten sie so viele ihrer verstorbenen Kameraden an, wie es im Angesicht der feindlichen Überzahl möglich war. Mehr als die Hälfte der Gefallenen würde sich der Nebel einverleiben. Teodgar hoffte inbrünstig, dass diese nicht auferstanden. Dieses eine Mal würde er den Kraren ihr Festmahl gestatten.
Bis die Mannen beim Schiff ankamen, ließen noch zwei Mannen ihr Leben. Kaum angekommen, erfasste sie das Toben eines wahrhaftigen Gemetzels. Es wurde mit einer Verweiflung und Grausamkeit gekämpft, mit welcher ihre Vorväter wohl nie gemordet hätten. Die Männer unter der Führung Ifirs drohten im Ansturm Untoter unterzugehen.
Und dann zeigten sich die fahlen Gesichter Nojarls und seines Trupps. Zorn quoll in Teodgar auf. Er ließ dem Zwielicht seinen Hass spüren und verfluchte den Nebel! Entschlossen führte er seine Mannen an und stürmte auf die Armee lebender Toter zu. Ganz in der Nähe zu Ifir schlugen sie eine Bresche in die Untoten und nicht nur ein Nordmann wütete unter dieser Brut wie ein Berserker.
Schwitzend ließ sich der Drachenführer zurückfallen. Ein Stich in seiner Seite machte ihm schwer zu schaffen. Es hatte keinen Sinn mehr. Sie wurden abgeschlachtet wie die Krieger der Expedition. Ihr aller Ende stand bevor.
Da gebar Teodgar aus der Not heraus einen verzweifelten Einfall. Er kämpfte sich zu Ifir durch und weihte ihn in seinen Plan ein.
Jener sollte sein Kommando übernehmen. Dann verdrückte Teod sich und stieg unter Deck. In seinem Tatendrang glomm ein Hoffnungschimmer. Dem falschen Gefühl gab er sich aber nicht zur Gänze hin. Ob der Tod - oder der Untot ihnen auflauerte, das wollte er göttergefällig entscheiden.
Ein hämisches Grinsen stahl sich in sein Gesicht.
'Der Einfall ist irr.'
Das Trampeln der Stiefel dröhnte hier unten doppelt so laut und der Lärm des Gefechts füllte seine Ohren. Schon erspähte er im tanzenden Fackelschein die Fässer.
Wie jeder vernünftige Drachenführer ließ er stets ausreichend Obstbrand aus Kernfrüchten einlagern - das beugte Unmut und Zwist unter der Mannschaft vor.
Rasch hackte er in den erstbesten Behälter und der unverkennbare Geruch des Schnapses legte seine Fahne über den Frachtraum. Eine Spur Widerwillen legte sich in Teods Stirnesfalte, als er den bekleckerten Finger abschleckte.
"Schade um den guten Brand. Dafür wird er umso höllischer brennen!"
Der Schrei eines tödlich Getroffeben beschleunigte seine Hiebe auf das nächste Fass. Schnell ergoss sich immer mehr des Destillates über die Dielen. Nach dem dritten Fass floss der Alkohol bereits bis zur Mitte des Schiffes. Dort stapelten sich Kisten mit Zunder und etwas schwarzes Pulver. Ein Seufzen etwich seinen Lippen. Ein letztes Mal tätschelte er voll Reue über die Innenwand seiner 'Fjordsegler'. 'Welch Schande…' Eine einzelne, verlorene Träne glitt seine schmutzige Wange hinab.
Mit einem Kloß im Hals schmiss Teodgar die Fackel in das sich Rinnsal und flüchtete die untersetzten Treppenstufen zum Deck hinauf.
Ein heller aufblitzender Lichtschein bezahlte seine Aktion. Dann leckten Flammen am Alkohol und hüllten augenblicklich alle zehn Fässer ein. Krachend brach eine gewaltige Hitzewelle aus und Feuerzungen sprengten den Laderaum. Ein Ruck ging durch die Drachenschiff. Die Luke, aus welcher Teod kam, spieh eine Flammenfontäne hoch, welche den Untergang des Schiffes einläutete und Lebende wie Tote und Untote verbrannten. Blutspritzende Leiber gingen über Bord. Ein jeder Schmerzensschrei ging dem Drachenführer durch Mark und Bein.
Teodgar stolperte. Beißender Rauch hüllte ihn ein. Hastig versuchte er aufzustehen, doch jemand hielt seine Beine fest. Jemand schweres. Etwas kantiges.
"Verdammter Holzbalken", zischte er. Pochender Schmerz zog sich seinen Oberschenkel hinauf. Es hatte ihn schlimm erwischt. Alleine kam er nicht mehr hoch. Überall Chaos. Keine Hilfe. Diese Pein! Kraftlos ließ er sich zurückfallen. Weitere Bemühungen scheiterten ebenso. Dazu fühlte sich seine verwundete Seite an, als wäre er schwer wie ein Karren voll Blei. Alles um ihn herum dunkelgrau vom Rauch. Ein einziges glühendes Inferno. Der gräßliche Qualm stahl ihm den Atem, ein Hustenanfall schüttelte ihn. Noch immer drang das panische Gelärm an sein Ohr, jedoch viel leiser und weiter weg.
Teodgar fragte sich in diesem Moment vieles. Ihn plagte die Antwort auf die Frage, ob all seine Männer sein Handeln verstanden, verstanden hätten. Ifir tat es. Berem wohl auch, der junge Skalde mochte sowieso den Drang zur Dramaturgie haben. Doch Mineg, Efert und seine anderen Mannen?
Das Denken fiel ihm schwer.
Sein Blick verschleierte sich. Trotzdem erkannte er den Glatzkopf wieder, welcher sich zu ihm herunterbeugte.
"Nolg", krächzte Teodgar, "du bist hier? Ich… wusste, dass du noch lebst … nicht verschwunden bist."
Der vermisst geglaubte Temgorene erwiederte nichts, lächelte nur und bettete Teodgar Enkundams Kopf auf seinen Unterarm. Tief schaute sie sich in die Augen. Das strengte den Drachenführer an. Gar nichts war mehr klar zu erkennen.
'So rauchig und nebelig. Ich sehe nichtmal sein zerfurchtes Gesicht.'
"Deine Narbe, Nolg. Warum bist du so blass im Gesicht? Gar deine ganze Haut ist so fahl..."
Die Augen trübten sich. Ein brennender Stich durchfuhr seine Brust.