Das sirenenartige Geräusch, womit sein Quartier einen unangemeldeten Besucher ankündigte, riss Captain Bax buchstäblich aus dem Gedanken-Holointerface. Dieses Warnsystem stammte noch aus dunkleren Zeiten, wo Paranoia ihn umhergetrieben hatte und er niemandem mehr vertrauen wollte, nicht mal seiner Crew. Diese neuerliche Erinnerung an diese Episode seines Lebens war vielleicht dazu geeignet diesen albernen Alarm endlich abzuschaffen. Da er immer noch etliche Einheiten BU 44/10 Erinnerungsserum im Blutkreislauf hatte, wurde jeder Gedanke an frühere Ereignisse hundertfach verstärkt. Mit purer Willenskraft unterdrückte er die Tausenden Verkettungen seiner eigenen Geschichte, die nach seiner Aufmerksamkeit schrien. Er schloss das Interfacegeschirr vor sich und zog sich die Diktiermanschette von den Fingern seiner linken Hand sowie die Elektrode von seiner Schläfe. Er seufzte und dachte schon an die fünfzehnte Version seines Scripts.
Immer wieder gab es Ablenkungen und Dinge, die nach seiner Aufmerksamkeit schrien. Vor fünf Jahren wäre er bei so einer lästigen Unterbrechung förmlich explodiert und hätte sich eine ziemlich kreative Strafe für den Störenfried einfallen lassen. Auch das hatte sich mittlerweile geändert. Paranoia und Hass bestimmten sein Leben nicht mehr. Trotz der Wichtigkeit dieses Script endlich voranzubringen, wusste er instinktiv, dass sein jüngstes Crewmitglied, der sogenannte Eindringling ihm gute Nachrichten bringen würde.
»Nachrichten vom Zentrum Trem?« Fragte er wissend lächelnd seinen Halbandroiden und treuen Adjutanten und verschränkte die Arme vor der Brust. Dieser verbeugte sich halb und nahm die erstaunliche Vorahnung seines Captains, wenn überhaupt nur stillschweigend zur Kenntnis.
Einer der vielen Nebenwirkungen, wenn man zur Hälfte eine Maschine war, bestand darin, das eigene Dasein recht emotionslos zu durchleben. Manche würden das einen Vorteil nennen, andere wiederum einen Raub an Möglichkeiten. Tremendous musste so oder so damit leben. So war es eben und so würde es bleiben. Er trat näher an seinen Captain heran und holte einen kleinen länglichen chromfarbenen Gegenstand aus seinem Seitenfach hervor.
»Nachrichten, Captain Baxry, vom Zentrum. Ich habe mit 97% Wahrscheinlichkeit errechnet, dass ich sie so schnell wie möglich aushändigen sollte.« Das war wohl seine Art, sich für sein Eindringen zu rechtfertigen, dabei war keine Rechtfertigung nötig. Trem´s blecherne Stimme klang heute besonders metallisch, fand Captain Bax, blinzelte aber kurz, um Zustimmung zu signalisieren. »Gewiss, Nachrichten vom Zentrum haben immer Vorrang vor allem Anderen.« Währenddessen erhob sich A.G. Baxry von seinem bequemen Mutolonen Sessel, der sich der Beschaffenheit des darin Sitzenden perfekt anzupassen vermochte.
Seiner Zeit hatte er auf Mutolon ein Vermögen dafür bezahlt. Heute würde er sich ohne zu zucken davon trennen, wenn es die Situation erfordern sollte. Mit einem zusätzlichen aufmunternden Klaps auf Trem´s Schulter nahm er den Holostab mit der Nachricht entgegen. Tremendous besah mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht seine Schulter, als hätte der Captain dort etwas für ihn hinterlassen. Solcherlei gut gemeinte körperlichen Zugneigungsbekundungen waren sehr befremdlich für ihn, erfüllten sie doch seiner Meinung nach keinen tieferen Zweck. Da sein Auftrag durch die Übergabe bereits beendet war und Captain Bax ihm keine weiteren Anweisungen gab, entfernte er sich leise wieder. Durch den Korridor nach rechts und dann zu seiner Lieblingslaufstrecke entlang der Längsachse des Schiffes. Er rannte seit einiger Zeit nur noch, darauf hatte er sich selbst programmiert. Irgendwie schien seine Biohälfte darauf lebhafter anzuspringen, als auf den Trab, den er zuvor gewählt hatte. Lebhafter war sehr gut für Tremendous, das sagte zumindest Samara, seine Schwester. Und außerdem konnte er dadurch einer weiteren Lieblingsbeschäftigung nachgehen, Zählen, Auswerten, Statistik führen. Wie viele Schritte würde er heute wohl brauchen und welchen Effizienzlevel an Energieumsatz konnte er wohl seiner Biohälfte abringen. Diese Fragestellungen waren einfach köstlich. Davon hatte er noch Tausend Andere im Speicher vorgemerkt. Trem lachte lauthals, während er seine eigenen Rekorde jagte.
Captain Bax schaute seinem Adjutanten noch eine Weile hinterher. Manchmal fragte er sich, wie viel vom alten Tremendous wirklich in seine neue Existenz hinübergerettet werden konnte. Immer noch mit einer Fülle an Erinnerungen kämpfend, die auf ihn einstürmten und eigentlich niedergeschrieben werden wollten, entrollte A.G. Baxry den Holostab feierlich wie eine alte Papyrusrolle. Die Sperre wurde durch seine DNA Erkennung ähnlich wie zuvor bei seinem persönlichen Holointerface entfernt. Zunächst wirkte die glatte Oberfläche grün mit feinen Linien durchzogen, dann projizierte sie eine Art Miniatur-Holointerface, die nur der jeweils Berechtigte sehen und hören konnte. Durch bestimmte Stimuli und Frequenzen wurde der Inhalt direkt in die Netzhaut und in die Ohrmuschel übertragen. Dieses Verfahren nannte man Imprägnierung. Er nahm jedes Wort vom Zentrum mit Genuss in sich auf und flüsterte mit bebenden Lippen, aber ohne einen Laut von sich zu geben unentwegt den einen Namen, der ihm wichtiger geworden ist, als sein eigener Name und sogar der von seinen verschollenen Kindern und seiner ermordeten Frau.
Das Innere der Engelsflügel glich einem Labyrinth von Gängen, Korridoren, Lagerräumen aller Formen und Größen und einigen Privatquartieren für die Crew und mögliche Gäste. Mit einer Gesamtfläche von fast 2,5 km² und einer Länge von 500 m war die Engelsflügel ein sehr geräumiges Nokischiff. Dies sah man dem geschmeidigen Rumpf von außen allerdings nicht an. Unterschätzt zu werden ist von Vorteil, vor allem im Krieg und in der Geschäftswelt. Dieser Leitsatz stand noch vor kurzem in der Messe über dem Ausgang. Wurde aber mittlerweile übermalt, da er nicht mehr so recht zum Image der Crew passte. Das fanden zumindest die Angeloiden an Bord, von denen Trem mal einer war. Er ließ diesen Gedanken so schnell vorbeiziehen, wie das letzte Fenster zum Kosmos an dem er gerade entlang kam und sich kurz darin spiegelte. Das eigene Spiegelbild, dachte er. Wie seltsam dieser Anblick für ihn immer noch war. Als hätte man ihm einen Platindeckel mit scharfen Kanten auf den Kopf geschraubt, der sich mal elegant, mal rustikal in das dunkle Fleisch seines ehemaligen Gesichts hineinfraß. Nun, der Anblick war gewöhnungsbedürftig, immer noch. Den anderen Lebewesen an Bord ging es wahrscheinlich noch schlimmer, wenn sie ihn sahen. Er seufzte innerlich darüber wie abstrakt ihm Gefühle und Meinungen anderer vorkamen. Also verließ er die Bedeutungslosigkeit seiner Gedanken und kehrte zurück, um über Zahlen, Daten und Fakten der Engelsflügel zu resümieren. Damit fühlte er sich viel wohler, hier kannte er sich aus.
Er rannte weiter in einem extrem schnellen Tempo durch die Schotts, als würde jemand hinter ihm her sein. Irgendwie erinnerte ihn das Tempo an etwas ganz Bestimmtes. Aber es wollte ihm einfach nicht mehr einfallen. Egal, er zwang sich stattdessen, über die Ausnutzung der Räumlichkeiten nachzudenken. Die Kapazität für alle Eventualitäten hat der Crew schon das eine oder andere Mal aus der Patsche geholfen. Einmal mussten sie gar eine ganze Kompanie Steelnox Androiden von der Fabrikwelt Vega nach Trea Vulmanach fliegen. Das bedeutete eine 8-wöchige Reise im Stream. Diese 6 Meter großen Verteidigungsdroiden sollten Teil der dortigen Planetenschutztruppe werden. Wären sie zu spät eingetroffen, hätten wahrscheinlich alle dortigen Kolonisten ihr Leben verloren und hätten sie weniger Androiden mitgebracht als die gesamte Kompanie, dann wären immer noch Tausende gestorben. Es war ein unmöglicher Auftrag und dazu noch schlecht bezahlt. Nur durch einen Zeitbonus, den sie erreicht haben, konnten die Unkosten für eine solche Lieferung wieder reingeholt werden. Der zuliefernde Fabrikgeneral hatte sie damals ausgelacht, als er ihr schlankes Nokischiff gesehen hatte. Er forderte Captain Bax gar zu einer Wette heraus. Als dann aber alle Androiden an Bord untergebracht waren, blieb ihm das Lachen im Halse stecken. Tremendous dachte mit Genuss daran zurück.
Dort hatte er das erste Mal begonnen seine Zählomanie, wie Samara es immer nannte, profitabel für andere einzusetzen. Ohne ihn hätten Captain Baxry und die anderen damals ziemlich alt ausgesehen. Noch heute wusste er die Anzahl der gestählten Gelee-Grünschrauben des rechten Oberarm-Hebemuskelstranges der Steelnox Androiden. Es waren 3455 auf die Schraube genau und sie waren deshalb ungerade, weil der Fabrikgeneral 5 Schrauben zu wenig geliefert hatte. Auch das konnte behoben werden. Mathematik ist so einfach. Rechnen ist so schön! Sinnierte er und sprang die Treppe rauf zur nächsten Ebene.
Trem kannte jeden Gang, jedes Schott, ja man könnte fast sagen jedes Kabel und jede Leuchtiode in und auswendig. Ein weiterer Vorteil, wenn man als Kybernetiker nahezu unbegrenzten Speicherplatz und Echtzeitdatenabruf in den biologischen Teil seines Gehirns hatte. Während er die Korridore der Engelsflügel durchstreifte, nahm er alle möglichen Details um sich herum wahr. Er zählte zum Beispiel seine Schritte und führte innerlich Statistik, über seine Effektivität bei Botengängen jeder Art. Das Alles geschah in Bruchteilen von Sekunden, wie ein Programm, dass innerlich ablief und lediglich das Ergebnis für seine Biohälfte bereitstellte.
Noch eine Abzweigung nach links und er würde an einer für ihn ganz besonderen Stelle im Schiff vorbeikommen. Jedes Mal, wenn er dort entlanglief, wurde ihm immer noch heiß und kalt. Er wurde automatisch langsamer, egal wie er auch versuchte, sich umzuprogrammieren. Es klappte einfach nicht. Die Ereignisse, die hier stattfanden, waren zu dramatisch. Sie haben sich im wahrsten Sinne des Wortes in ihn hineingebrannt. Daran konnte auch sein Emotionen Kalkulator, der alles Unnötige wie Angst oder Unruhe normalerweise herunter regelte, nichts ändern. Es war der Ort, an dem er gestorben war, verbrannt durch ein plasmatisches Feuer. Der dunkle rußige Fleck an der Metallwand wurde zwar übermalt, war aber durch die vielen kleinen Bläschen, die damals durch die Hitze entstanden waren dennoch klar zu erkennen.
Die Emotionen, die ihn immer noch heimsuchten, wenn er jenen Gang entlanglief hätten viele Menschen schlichtweg übermannt. Nur die Strenge, kühle Willenskraft seiner computergesteuerten Hälfte hielt ihn davon ab, jedes Mal einen Schock zu erleiden. Auch die körperlichen Schmerzen und die Phantomschmerzen seiner ersetzten Gliedmaßen und an seinem Schädel, die ohne Zweifel täglich vorhanden waren, wären ohne die Blocker, die seinem Blutkreislauf ständig zugeführt wurden unerträglich.
Säbelzahn, das war wohl der offizielle Name des Symanten, der als Meuchelmörder engagiert wurde um die Crew der Engelsflügel vor nunmehr 4 Jahren zu unterwandern und als alle seine Pläne fehlschlugen sie vom Weg abzubringen schließlich zu ermorden. Und das alles wegen dem wohl unglaublichsten Passagier, den das wendige Nokischiff je von A nach B transportiert hatte. Wobei A für Stellar Central stand, der überbevölkerten künstlichen Vampirsphäre der inmitten der drei Militärspähren Ungol, Paria und Ginglesh im tiefen Raum um einen einsamen Zwillingsstern schwebte, bis auch dort eines Tages alle Energie aufgebraucht sein würde und der Tross aus Sphären, Raumstationen und abertausenden Schiffen zum nächsten unbewohnten Stern fliegen würde. Dort würde sich der sogenannte Sonnenvampirismus erneut abspielen. Was machte das schon bei so vielen vorhandenen Sonnen.
Und B, tja, B stand doch tatsächlich für Utopia, das Paradies, dem Himmel der Himmel, dem Ort, den es angeblich nicht geben soll, den aber einige Crewmitglieder leibhaftig betreten haben wollen. Zumindest auf die ein oder andere Weise. Die Wahrnehmung und Interpretation jener Ereignisse war durchaus sehr unterschiedlich. Einige behaupten sogar heute noch felsenfest, es wäre alles nur ein Traum gewesen oder ein kollektiver Rauschzustand, der sie gemeinsam in sowas wie den Himmel versetzt hatte.
Im Laufe der letzten vier Jahre gaben die Crewmitglieder in ihrer Nachbetrachtung der Ereignisse viele verschiedene Theorien darüber ab, was denn wirklich geschehen sein mag und warum wir seit jenem Tag spezielle Anweisungen von einer ominösen Quelle erhielten und ohne zu zögern auch immer ausführten.
Tremendous selbst lag damals im komatösen Zustand auf der Krankenstation. Sein schwarz verbrannter Körper kämpfte ums blanke Überleben. Sodass er kein neutraler Augenzeuge sein konnte, wie nicht nur er es sich im Nachhinein gewünscht hätte. Die Reise dorthin entpuppte sich allerdings als großes Wagnis, wie seine eigene Begegnung mit dem Tod bereits hinlänglich bewies. Ihr Passagier, den der Meuchelmörder ursprünglich ausschalten wollte, erwies sich zwar spät aber nicht zu spät in der Tat als utopisch und mehr als fähig die Engelsflügel zu ihrem Bestimmungsort zu bringen.
Zu einem kurzen Kopfschütteln ließ sich der pfeilschnelle Semiandroid Tremendous hinreißen, für den all die Erinnerungen an jene Ereignisse in einer Millisekunde lebendig abliefen, bevor er auch schon bei der nächsten Biegung nach rechts abbog und gekonnt mit einem quietschenden Geräusch zum Stehen kam. »Angeber!« Rief die süßeste und liebevollste Stimme, die er im ganzen Kosmos kannte. Tremendous schüttelte langsam den Kopf, »Das war keine Angeberei, sondern lediglich das einfachste Manöver, schnell zum Stehen zu kommen, nachdem man mit hohem Tempo unterwegs war, so wie ich es tat.« Er sagte das ohne Arroganz. Für ihn war es die logische Parade auf die Falschaussage seiner Schwester. Samara schüttelte den Kopf, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen. »Wo warst Du so lange? Wir waren verabredet zum Screenen.« Sie hielt die Virtubrillen in die Luft und wartete auf seine Reaktion. »Boah, war das jetzt etwa ein Lächeln oder hast Du wieder Gesichtszuckungen?« Fragte sie direkt, als sie sein Gesichtsausdruck bemerkte. Trem schaute beschämt zu Boden. Ein Lächeln? Was dachte sie sich eigentlich dabei, sowas auch nur anzudeuten? Er bemerkte nicht, dass er immer noch lächelte, obwohl er auf den Boden schaute und so tat, als wenn nichts wäre. Das schiffsweite Kommunikationssystem läutete auf eine ganz bestimmte Weise und rettete Trem aus seiner eigentlich nur für ihn peinlichen Lage. Alle Crew Mitglieder horchten sofort auf. Es folgte eine Durchsage des Captains. Samara hörte auf, ihren Bruder herausfordernd anzustarren, und versuchte sich stattdessen auf die Stimme des Captains zu konzentrieren.
»Achtung es folgt eine Durchsage des Captains!« Sagte Pearl, die Stimme des Schiffscomputers grazil wie eh und jäh.
»Meine Lieben, es ist geschehen! Wir werden ein Treffen aller freien Pilgrims haben.« Godwin machte eine dramatische Pause. »Zoel hat uns allen einen klaren Auftrag dafür erteilt. Wir werden das Treffen organisieren und haben nur 7 Monate dafür Zeit. Darauf haben wir alle so lange gewartet und nun liegt es an uns, was wir daraus machen.« Captain Bax stoppte erneut, räusperte sich und gab seinen Schlussbefehl. »Alle Crewmitglieder treffen sich ohne Ausnahme um Null-Vierhundert morgen früh in der Mannschaftsmesse! Das gilt auch und insbesondere für Dich Collie! Captain Ende!«