Die Reihen der Arbeitstrupps zogen links und rechts an ihr vorbei, als hätten sie es eilig zu ihren niederen Arbeitsplätzen zu gelangen. Was zog sie alle dorthin? Warteten Strafen auf sie, wenn sie zu spät kämen? Oder trieb sie etwas Anderes an? Vielleicht hatten sie schon alle resigniert und sich damit abgefunden ein kurzes und schweres Leben in den Arbeiterkolonien zu führen. Ein schrecklicher Gedanke für Gloria. Für immer gefangen zu sein in diesem sinnlosen Kreislauf des Schuftens, Essens und Schlafens. Für was war das alles gut? Gloria bemerkte wie ihre alte Sehnsucht nach Bedeutung, Identität und Ewigkeit zurückkehrte. Instinktiv sah sie über die Schulter und schaute, ob ein Gedankenwächter oder schlimmere Aufpasser in der Nähe waren. Sie musste aufpassen. Dad hatte sie gewarnt, sowas nicht mal zu denken. Die Aufpasser hatten ihre Augen und Ohren überall. Sogar Gedanken sollen sie lesen können. Gloria wusste nicht, ob das stimmte, hatte aber davon gehört, dass immer wieder Leute spurlos verschwanden. Leute, denen man nachsagte, seltsames Gedankengut zu verbreiten. Das schürte natürlich die Angst in den Kolonien und hielt alle davon ab über sich hinaus zu denken. Aber Gloria konnte sich dem nicht erwehren. So gefährlich es auch war, sie wollte und musste über diese Dinge nachdenken. Über Freiheit und andere Welten, andere Kulturen und fremde Spezies. Sie wollte einfach träumen dürfen. Die Gedanken sind frei, hatte sie einmal auf einer Wand in ihrem Distrikt gelesen. Es war in rotbraun geschrieben. Damals dachte sie, woher der Maler wohl die schier unbezahlbare Farbe herhatte. Doch heute war sie nicht mehr so naiv. Es war Blut, wahrscheinlich das Blut des Zeichners selbst, so viel war ihr heute auch klar. Wie verzweifelt jemand sein musste mit seinem eigenen Blut etwas an eine Wand zu schreiben, dass zutiefst den Lehren der Konstellationsherrscher widersprach. Das war wohl das Todesurteil des Künstlers. Eine einfache Blut-Analyse würde ihn überführen. Vielleicht wollte der Zeichner aber auch genau das. Einen schnellen Tod und dazu noch eine Parole der Freiheit hinterlassen. Insgeheim bewunderte Gloria die Tapferkeit jenes Märtyrers. Am nächsten Tag war Gloria wieder dorthin gegangen, aber der Spruch war nicht mehr da. Stattdessen eine frisch gestrichene weiße Wand. Ein seltener Anblick in ihrem Distrikt. Obwohl der Spruch nicht mehr dort stand, war die weiße Wand eine ebenso klare Botschaft. Eine Mahnung der Unterdrücker, Individualität zu vernichten und gleichzeitig eine Trotzreaktion der Unterdrückten sich nicht unterkriegen zu lassen. Denn zumindest die Gedanken sind frei. Dachte Sie und bäumte sich innerlich gegen die Resignation auf.
Eine Hand packte Gloria unsanft an der Schulter. Etwas zersprang in ihr. Es war ihr Herz. Ihre zarte Flamme der Freiheit, wurde jäh ertränkt in einem Ozean der Angst, der jetzt über sie hereinbrach. Sie wurde doch erwischt und ihre törichten Gedanken brachten sie ins Gericht. Sie erstarrte förmlich und wartete auf eine Elektroklinge an ihrem Hals. Stattdessen hörte sie ein mürrisches »Mädchen, du solltest hier nicht so rumstehen. Das gehört sich nicht.« Sie drehte sich um und sah einen alten Grünstatus-Arbeiter mit gebrochenen leeren Augen, der sie unsanft weiterschubste. Ihre Erleichterung ging wie ein Stromschlag durch ihren Körper. Sie fühlte sich, als hätte sie auf einmal 50 Kilogramm weniger auf den Rippen. Sie nickte kurz verlegen, drehte sich um und nahm das Tempo der Arbeitermassen wieder auf. Bloß schnell untertauchen und unsichtbar werden. Sie war nur eine von Vielen. Um ihre Gedanken zu beruhigen, rezitierte sie ein Mantra der Arbeiterschaft. Ich bin Teil der Kosmischen Konstellation. Mein Platz in der Kosmischen Konstellation ist gut und unveränderbar. Die Gestalter werden mich einst belohnen. Ohne die Kosmische Konstellation bin ich verloren.
Sie glaubte kein Wort davon, schon lange nicht mehr. Zumindest konnte sie so ihre Gedanken unter Kontrolle bekommen. Sie blickte sich nochmal um, doch den alten Mann sah sie nicht mehr. Er war ebenfalls untergetaucht in der anonymen Masse. Direkt neben ihr erbrach sich ein weiterer Schwall gelb gekleideter Arbeiter aus den Wohnkomplexen. Fast wie eine Schlange mit gelben und schwarzen Punkten, die sich durch die Energiezäune unter- und oberhalb der Komplexe auf den durchsichtigen Zubringerwegen dahinschlängelte. Gloria Evatra war wieder Teil des Ganzen geworden. Ihre Gedanken unter Kontrolle gebracht. Sie würde die nächsten fünf Stunden ihres Zehn-Stunden-Tages in den weit entfernten Industrieanlagen der inneren Wüste ihre Pflicht erfüllen und dann am nächsten Tag wieder und dann wieder bis zum Ruhetag. Die hohen Beamten hatten sich von der Zehn-Tage-Woche verabschiedet und sind zur Fünf-Tage-Halbwoche übergegangen, da sie einen höheren Effizienzlevel erreichen wollten. Ihr Dad sagte allerdings auch, dass sie nur einen Ruhetag am Stück haben sollten, damit es keine Zusammenrottungen gebe. Auf diese Weise kommt man auch nicht aus seinem Distrikt heraus, geschweige denn, aus seiner Megastadt. Dass wäre eine mehrtägige Reise. Ziemlich clever, unsere Unterdrücker, dachte Gloria auf eine verdrehte Art geradezu anerkennend. Sie sah sich wieder um, ob sie beobachtet wurde. Das war nicht der Fall. Ein kurzes Seufzen entwich ihr noch, bevor sie den Eingang zum Trizkomplex betrat, den zehnstöckigen Heimatbahnhof.
Während dessen befand sich ein unangekündigtes Schiff in sphärischer Nähe um Nunteus. Angeblich ein Händler mit KK-Freibriefen für lebende Waren der Bedürfnisbefriedigung. Das silbergraue, schlanke Schiff wartete anständig in der Schleife, bis die Frachtpapiere und das Personal gecheckt waren. Der zuständige Beamte dritten Grades, ein gewisser Heriko Glal, ein dicklicher, unangenehmer Wichtigtuer, hielt noch einmal Rücksprache. »T.L.L. Hynewolvv, hier spricht Officer Glal vom Sphärenfrachtüberwachungsdienst. Ihre Daten scheinen soweit in Ordnung zu sein. Nur der Zweck Ihres Aufenthaltes ist mir nicht ganz schlüssig. Zumal sie auch unangekündigt hier aufgetaucht sind. Als Händler mit KK-Freibriefen müssten ihnen die Statuten doch hinlänglich bekannt sein, Captain … äh.«
Der Beamte räusperte sich, ließ die Sprechtaste los und versuchte fieberhaft den komplizierten Namen des Captains aus seinen Dateien vorzulesen.
»Captain Brychialkowitzkowskislawobini, Officer Glal, Sie scheinen ein Mann von Format zu sein.« Schmeichelte der Captain dem Beamten durch die Audioübertragung. »Meine Geschäfte dürfen laut dem Freihändlerkodex geheim bleiben, solange sie nicht die Abläufe der KK Unternehmungen betreffen. Bei meiner Fracht handelt es sich um Bioware verschiedener Spezies. Gedacht zur Bedürfnisbefriedigung von wichtigen Personen des Öffentlichen Lebens.« Die Stimme war zuckersüß. Jedes Wort hatte eine gewisse Eleganz und Glätte in sich selbst. Eben ein typischer, schmieriger Schmuddelhändler. Dachte Glal und leckte mit seiner Zunge über seine Oberlippe. Er wusste, dass bei solchen Gelegenheiten immer was herauszuholen war. Er drückte den Knopf, der die offizielle Aufzeichnung unterdrückte, um informell etwas aushandeln zu können. »Nun, Captain Brychialkowolobimbi, Verzeihung Brychialkowitzkislini, hä, hä, …, Sie verstehen schon.« Glal lief rot an, das Aussprechen speziesfremder Namen fiel ihm schon immer etwas schwer. »Also der Ablauf wird so aussehen. Ich werde an Bord kommen müssen, um gewisse Biokontrollen selbst durchführen zu können. Sie verstehen sicherlich, dass ich das bei ihrer äh, heiklen Fracht nicht einem Androiden Scanner überlassen kann Captain B.?« Glal verzog seine Mundwinkel nach oben. Er hatte die Karten in der Hand und würde bald eine angenehme Ablenkung vom Alltag erleben dürfen. »Im Dienst für die KK und ihre Statuten, versteht sich natürlich von Selbst Captain B.« »Selbstverständlich Officer Glal, eine Kostprobe meiner Fracht gegen eine genehmigte Einreise, abgemacht.«
Bestätigte Captain B. und blickte ernst in die Gesichter seiner Bordbesatzung. »Ihr, wisst, was auf uns zu kommt und was ihr zu tun habt. Alles, wie besprochen.«
»Abgemacht Captain B., um das Protokoll zu erfüllen werde ich jetzt gleich noch einen Standardtext herunterleiern müssen, Sie verstehen schon, um Diskretion zu wahren.« Glal schnalzte mit der Zunge und rieb sich die Hände vor Entzückung. Der Knopf für Aufzeichnungsunterdrückung leuchtete noch drei Sekunden, dann würde wieder aufgezeichnet werden. »Verstanden, Officer Glal, ich sehe Sie sind ein Geschäftsmann, wie ich.« In der Stimme des Captains schwang etwas Erleichterung mit.
Glal betätigte wieder die Aufzeichnung und sprach seinen einstudierten Text. »Herzlich Willkommen auf Nunteus, dem produktivsten Arbeiterparadies der goldenen Straße. Ihre Daten sind in Ordnung, Ihre Papiere ebenfalls. Ich übermittle Ihnen anschließend die Koordinaten der Landungsstraße und ihren zugeteilten Hangar. Es wird eine Biokontrolle als Vorsichtsmaßnahme notwendig sein, darum verlassen Sie bitte nicht ihr Schiff, um eine eventuelle Kontamination zu vermeiden. Der entsprechende Officer vor Ort wird sie durch die Protokolle geleiten, sobald er bei Ihnen eintrifft. Vielen Dank, dass Sie sich entschieden haben Ihren wichtigen Platz als Händler der Konstellation einzunehmen und unsere Kolonie mit ihren Waren zu bereichern. Officer Glal, Sphärenfrachtüberwachungsdienst, Ende.«