„Gonrar, Gonrar!“ raunte die zuckersüße Stimme ihm zu. „Du hast doch längst gewusst, dass es die andere Seite gibt. Oder hat Dir Deine Mami etwa nicht aus der Kindervala vorgelesen? Wie gefällt Dir Phase fünf, meine Phase?“ Das Lachen, das daraufhin folgte, war unecht und spröde. Gonrar konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich dabei um eine Frauen- oder Männerstimme handelte. Noch nie in seinem ganzen Leben war er solch einer Panik verfallen. Er selbst hatte den Mepholon heraufbeschworen durch seine gierigen und sadistischen Taten. Immerhin war er stinkreich, von der Öffentlichkeit weitesgehend abgeschirrmt, Konzernchef eines der zehn größten Unternehmen überhaupt und ausgestattet mit einer kleinen Privatarmee. So konnte er seine Experimente der Reihe nach ungestört durchführen. Aber an irgendeinem Punkt hatte er es übertrieben, war zu weit gegangen. War es die letzte Vorstandsabstimmung, die er durch unlautere Mittel zu seinen Gunsten gedreht hatte? Oder waren es tatsächlich G-Han 89, dieser Trottel Undall und der verdammte Krugan Gemek? War die Unterwelt doch echt? War das Gottes Strafe für ihn?
Egal! Jetzt fiel jedenfalls alles in sich zusammen. Das Ding, der Dämon, der ihn mit seinen Scherenarmen aufgespießt an die Wand drückte, verschluckte den letzten Rest seines falschen Lachens. „So langsam macht es Klick bei Dir. Nicht wahr, Gonrar? Und weißt Du, was das Beste ist?“ Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte Machnir Gonrar den Kopf. Er wollte etwas sagen, aber es kam nur ein Schwall Blut aus seinem Mund. „Nein? Ich sags Dir. Das Beste ist, das hier hört niemals auf. Wir können für immer miteinander spielen. In Deiner Realität ist es gleich zu Ende, aber in meiner fängt der Spaß erst an.“ Die Kreatur zog ohne Vorwarnung die Scherenenden aus Gonrar’s Körper, sodass er an der Wand herunterrutschte. Eine weitere schnelle Bewegung des Scherenarmes und sein Kopf landete neben ihm auf dem Boden. Das Letzte, was er in dieser Welt sah, war sein zerschnittener Körper mit einem Stumpf auf den Schultern, wo eigentlich sein Kopf sein sollte.
Die Bestie, die ihm das angetan hatte, leckte an ihrer rechten Schere das Blut ab. Dann bellte die Kreatur einen kantigen Spruch in die Ecke des Raumes. Dort lauerte eine Schattengestalt von der anderen Seite, die nur die Kreatur selbst wahrnehmen konnte.
„Hast du gesehen, wie man das macht, Exon? Hast du endlich mal aufgepasst? Hä? Das hier hättest du machen können, wenn du dich auf Gron-Handalo mehr angestrengt hättest und clever vorgegangen wärst. Aber du wolltest ja lieber deine großen Alptraumfantasien unter die Leute bringen, als zu manifestieren. Trottel! Deswegen wirst du jetzt wieder etliche Jahre in der Unterwelt als Quäler dienen müssen. Denn ich kann gerade keine Versager gebrauchen. Großgeneral Ukmok hat mir scharlachrote Befehle erteilt und du weißt ja, was das heißt. Hast du mich verstanden Exon?“ Dronkalis, die Bestie mit den Scherenarmen baute sich drohend vor Exon’s Schattengestalt auf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Aber das musste er gar nicht. Denn auch in seiner dämonischen Welt gab es Hierarchien, die niemand zu durchbrechen wagte. Und schon gar nicht Exon, das Schweinemonster.
„Ja, mein Oberdämon. Ich verstehe mein Meister. Unverzüglich werde ich mich zu Quälmeister Okkroff begeben.“ Untertänigst verbeugte sich Exon vor seinem Oberdämon und sah zu, dass er noch rechtzeitig aus dem Raum herauskam, um nicht die messerscharfe Schere seines Vorgesetzten zu spüren zu bekommen. Denn, wenn Dämonen und böse Geister in Stoffliche Wesen hineinfahren, begeben sie sich ins Zwielicht. Und im Zwielicht können sie sowohl die Stoffliche Welt berühren, wie auch die Geistliche Welt.
Dronkalis sah sich im Raum nochmal geringschätzend um, fand aber nichts, was es wert gewesen wäre länger betrachtet zu werden. Er spießte Gonrar’s abgetrennten Kopf auf eine seiner Scheren und hielt ihn direkt vor sich, seufzend zu sich selbst. »Schade, dass ich hier in so einem abgelegenen, dreckigen Geheimversteck festsitze. Hättest du dir nicht was Zugänglicheres aussuchen können, Gonrar? Etwas mit mehr Zulauf?«
Prompt ließ er den Kopf fallen und begann heftig zu zittern und zu zucken. Er riss an dem Fleisch des armen S’Tueto, dessen Körper er seit ein paar Minuten besaß, bis nur noch blutige Fetzen übrigblieben. Mit einem letzten Aufheulen verließ er seine geschundene Hülle und rematerialisierte als Schattengestalt in der Geistlichen Dimension. Mit einem Schnipsen seiner Scheren öffnete sich vor ihm praktisch aus dem Nichts eine versiegelte Papierrolle. Das scharlachrote Siegel verriet Befehle, die von höherer Stelle kamen, als nur von seinem Hordengeneral. Vielleicht sogar von Lurkevon, seinem Dämonenfürsten oder einem Schattengrafen Mepholon’s. Das Siegel brach, indem er das gerade noch abgeleckte Blut Gonrar’s auf die Rolle spuckte. Die Rolle löste sich von selbst und das Siegel schmolz dahin. Eine Stimme, so gewaltig und klar, dass sie nur einem gehören konnte, sprach durch die Rolle zu ihm den Satz, den er schon immer hören wollte. „Dronkalis, geschätzter Oberdämon, ich habe einen wichtigen Auftrag für Dich. …“
Dronkalis Nüstern spien Feuer vor lauter Aufregung.