Ich wusste schon lange, dass meine Mutter nicht mehr viel Zeit hatte. Ich hätte vorbereitet sein müssen, als es soweit war. Aber ich war es nicht. Nicht mal ansatzweise. Erst jetzt weiß ich, dass mich nichts auf der Welt auf einen Tod vorbereiten kann.
Der Tod kommt überraschend, egal wie lange du weißt, dass er bald kommt. Es wird dich immer dann treffen, wenn du es am wenigsten vermutest. Wenn du denkst, dass es nicht schlimmer geht und du langsam erkennst, dass es immer schlimmer geht.
Als ich meine Mutter in ihrem grün-blauem Hemd vom Krankenhaus sah, realisierte ich, dass es kein Entkommen gab. Nie. Hat er dich einmal auf der Liste, ist es fast unmöglich davon zu verschwinden. Er findet dich immer und überall.
Sie war so schmal, so bleich, so ... leblos. Es brach mir das Herz sie so zu sehen und gleichzeitig zu wissen, nichts tun zu können. Außer ihr beim Sterben zu sehen zu müssen.
Und das ist fast noch schlimmer als selbst zu sterben.
Ich wusste, dass ihr nur noch ein paar Minuten blieben, aber ich schaffte es nicht, ins Zimmer zu gehen und ihr etwas zu sagen. Ich wusste, wenn ich sie sie ansehen würde, dann würden nur die Tränen fließen.
Aber es war meine Mutter! War ich wirklich so schwach, dass ich mich nicht mal von meiner Mutter verabschieden konnte? Von der einzigen Frau, die mir mehr beigebracht hatte, als alle Lehrer zusammen konnten? Die mir mehr über das Leben erzählt hatte, als es sonst einer vermochte?
War ich denn so verblendet von meiner Trauer, dass ich meiner Mutter mit dem Wissen sterben lassen wollte, dass ihr ihre einzige Tochter nicht beim Sterben half und ihr die Last abnahm? Es ihr leichter machte?
Ich straffte meine Schultern und ging auf ihre Tür zu, hinter dem sich ihr Raum verbarg. Ich spürte gleich, dass sie nah an der Schwelle des Todes stand, also beeilte ich mich, zu ihr zu kommen.
"Na, mein Engel?", flüsterte sie. Krampfhaft versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten, aber es gelang mir nicht ganz.
"Hallo, Maman", wisperte ich traurig. Sie zu hören, machte alles so real. So echt.
"Wie geht es dir jetzt?", fragte ich sie. Ich wusste, dass es ihr schlecht geht. Aber viele Patienten sagten, dass man sich kurz vor dem Tod schwerelos und so leicht anfühlt. So, als wäre man nicht krank, sondern kerngesund.
"Nicht gut, aber ich habe kaum noch Schmerzen", erklärte sie mir und lächelte zaghaft.
Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich die Erkenntnis traf, dass es sich vielleicht nur noch um Sekunden handeln könnte.
"Maman. Ich weiß, ich habe es dir zu selten gesagt. Wir haben uns zwar oft gestritten und ich habe dich oft hinter meine Freundinnen gestellt, aber eins sollst du wissen; du warst, bist und wirst immer meine Königin sein. Ich habe durch dich so viel gelernt. Was hätte ich nur ohne dich machen sollen, als ich mein erstes Praktikum hatte? Du hast mir so geholfen, ich hätte es ohne dich nie hingekriegt! Oder als mich Julo verlassen hat. Wer hat mir in der Zeit erklärt, dass alles völlig normal ist? Wer hat mich da aufgebaut? Du! Du warst immer mein Fels in der Brandung, mein Anker, mein Licht in der Dunkelheit. Danke. Danke für alles. Ich weiß, es hilft dir jetzt nicht mehr, aber es tut mir Leid, was ich dir alles im Laufe der Zeit an den Kopf geworfen habe. Du weißt gar nicht, wie sehr ich das jetzt bereue." Mir läuft eine Träne herunter, als ich realisiere, wie hart es meine Mutter gehabt haben muss und wie ich zu ihr war.... Wenn ich könnte, würde ich alles ändern. Nur damit es nicht so endet.
"Tara. Ich weiß, du denkst es ist alles deine Schuld, aber das ist es nicht. ich wusste schon lange, dass etwas nicht stimmt, wollte euch aber nicht beunruhigen. Ich hatte Angst, dass es euch zu sehr belastet. Doch jetzt weiß ich, dass euch das hier viel mehr zusetzt, als das, was früher passiert wäre. Aber genug davon, ich habe nicht mehr lange, jeden Moment könnte es zu spät sein.", krächzte sie. Ihre Stimme war rau und ihre Lippen spröde. Ich fühlte mich genauso schlecht, wie sie aussah. Aber ich lächelte tapfer und wischte meine Tränen weg. Ich beugte mich runter und drückte sie leicht. So musste ich nicht sehen, wie es ihr immer schlechter ging. Gleichzeitig war ich ihr so nah.
"Tara, mein Stern. Du weißt, ich habe dir gesagt, wenn es soweit ist, bekommst du den Kristall an der Kette. Ich weiß, dass du keine Ahnung hast, was das bedeutet, aber glaube mir, du wirst es erfahren, wenn die Zeit reif ist. Er wird dir immer den Weg weisen, immer für dich da sein und dir auch helfen, wenn es am dunkelsten scheint. Trage ihn stets bei dir, es ist ein Erbstück. Du musst gut auf ihn aufpassen, denn wenn nicht... Arghh!", stöhnte sie.
"Mum? Was ist los? Mum? Sag doch was! SCHWESTER!", rief ich verzweifelt.
"Nimm die... Kette... so lange ich... noch da bin", hauchte sie, kurz bevor ihr Körper schlaff wurde. Schnell zog ich mir die Kette über und beobachtete dann, wie sie uns verließ.
In dieser Nacht bin ich mit ihr gestorben.