Immerwährender Winter auf Hoshobel
In der Sprache der Hosho gibt es kein Wort für Jahreszeiten, auch die Begriffe Frühling, Sommer oder Herbst sind völlig unbekannt. Nur den Winter, den kennt man zur Genüge. Für ihn hat man 15 verschiedene Worte, um ihn näher zu beschreiben. Woran das liegt, ist eindeutig. Denn Winter ist eigentlich immer auf Hoshobel. Auf der eiskalten Heimatwelt der Hosho ist nur eines ganz gewiss, die Unerbittlichkeit des nächsten frostigen Tages. Immerhin gibt es die Sonne Brawana, die ihnen allen ein wenig Licht und Wärme für einige Stunden des Tages spendet. Sagen zumindest die Hosho untereinander - genügsam, bescheiden und mit dem Wenigen zufrieden, was ihnen ihre Winterwelt zu bieten hat. Erwähnenswert ist allerdings noch ein Lichtphänomen, das es so scheinbar nur auf Hoshobel gibt. In der Nacht leuchten zehn Monde am Himmel Hoshobels. Und die Eiswüsten, Kristallseen, die schneebedeckten Berge und die restlichen Winterlandschaften verwandeln sich in glitzernde Farbenparadiese. Der sonst so blasse, weiße Teint des gefrorenen Wassers erscheint plötzlich in tausend Farbfacetten und beginnt zu leuchten. Es ist eine Art Leuchten, die zwar Licht bringt, allerdings keine Helligkeit, wie es die Sonne Brawana vermag. Dieses wundersame Leuchten und Funkeln des Schnees ist eine wahre Augenweide. Als ich, der ich selbst nur ein niederer Chronist in Diensten meines Lords, dem berühmten Entdecker Obeloron bin, einst selbst die Schönheit dieses Spektakels betrachten durfte, blieb ich gleich drei Nächte am Stück wach, um fotografisch und filmisch festzuhalten, was ich mit Worten nur schwer beschreiben kann. Und ob es nun an dem besonderen Licht der zehn Monde liegt oder an der Beschaffenheit des hiesigen gefrorenen Wassers oder an was auch immer, ist für mich nicht von Bedeutung. Denn für mich ist und bleibt es ein Wunder.
Genug der Vorrede. Über Obeloron, meinem Lord, wurden viele Berichte und Geschichten verfasst. Einige sogar von mir. Unter anderem über die erste Begegnung mit den edlen und körperlich sehr großen, vor allem zotteligen Hosho. Ebenso die Geschichte der Acht Helden vom Hochgipfel und meiner gemeinsamen Reise mit ihnen ist eine äußerst delikate und spannende Episode, die ich miterleben durfte. Auch meine Reise zum Riesenberg war ein gewaltiges Erlebnis. Ehrlich gesagt war es sogar das einschneidendste Erlebnis meines ganzen langen Lebens. Doch in dieser kurzen Abhandlung möchte ich mich unbedingt einer uralten Legende der Hosho widmen, die zu meinen bisherigen Studien über die wahre Herkunft des Lebens, der Völker und der Weltensphären einen erheblichen Beitrag leistet. Welche ich, meinem weisen Lord sei Dank, immer wieder nebenbei betreiben darf.
Obwohl man meinen würde, dass das Leben auf einer Eiswelt wie Hoshobel nur eine triste, harte und verkümmerte, auf den Überlebenskampf ausgerichtete Kultur, hervorbringen könnte, wurde ich durch die Hosho ein ums andere Mal eines Besseren belehrt. In meiner Zunft, der des Schreibens und des Chronologisierens, ist man gut beraten, wahrhaftig, offen und objektiv zu bleiben. Denn Wahrheit hat Bestand über alle Zeitalter hinweg. Die Lügen und Legenden und Spinnereien mancher Gruppierungen oder Individuen werden vergehen und ihre Schriften wird man verachten und vergessen. Sie können also davon ausgehen, dass ich erpicht darauf bin, alles wahrheitsgemäß und so, wie es mir überliefert wurde, auch wiederzugeben. Um meinem Lord, meiner Zunft und auch meinem Familiennamen, der mir nach dem Viergenerationen-Frondienst erteilt wurde, Ehre zu machen, hielt ich es außerdem für richtig, mich jeglichen Kommentars und jeglicher Beurteilung gänzlich zu enthalten.
Mein Name ist Kemlin Lo Rasor, ein Emblischon und Vierfron-Chronist des edlen Lord Obeloron von Ith, dem Dritten.
Und dies ist die Legende der Hosho über die Zeit vor dem ewigen Winter.
Von den Hosho selbst wird die Geschichte „Als Brawana noch Flügel hatte“ genannt. Sie wird seit unzähligen Generationen jedem Kind in ganz Hoshobel erzählt.