„Nein. Sherlock, das ist idiotisch.“
„Aber du kannst nicht tanzen!“, erwiderte der Detektiv mit deutlicher Gereiztheit. Er war davon ausgegangen, dass John seinen Vorschlag ohne Protest annehmen und ihn nicht aus unerfindlichen Gründen ablehnen (und beleidigen!) würde.
„Woher willst du das wissen?“, schoss er sofort zurück.
Sherlock schritt ungeduldig durch das Wohnzimmer der Baker Street. „Ich weiß es!“ Dann drehte er sich um und deutete auf seinen besten Freund. „Es ist offensichtlich: Du hast nie einen Tanzkurs belegt.“
John atmete tief ein, ein Versuch sich selbst zu beruhigen. „Schon gut. Woran siehst du es?“
Also bitte, dass John ihm diese Frage wirklich stellte! Es war doch mehr als offenkundig. „Das passt nicht in deinen Charakter.“
„Aber du kannst tanzen?“, fragte John ungläubig.
„Durchaus. Ich bin vor einiger Zeit auf dem Wiener Opernball gewesen und habe einen Menschenhandelsring aufgedeckt. Mycroft ließ sich ja nicht dazu herab unter Menschen zu gehen. Darum hat er mich nach Wien eingeladen. Im Zuge dessen ward ich gezwungen, Tanzen zu erlernen.“
John nickte langsam zu seiner Erklärung. „Walzer kann ich. Mary hat ihn mir beigebracht.“
„Und die anderen Tänze?“, erkundigte sich Sherlock sofort. Natürlich kannte er selbst die Antwort. Doch damit John seine eigene Situation erkannte, musste er selbst zur Erkenntnis kommen, dass Walzer für eine Hochzeit nicht ausreichend war.
„Nein“, gab John schließlich zu.
„Ha! Sagte ich doch. Wie wäre es mit etwas Leichtem? Discofox? Ja, das ist einfach. Die elemtarste aller Grundlagen.“ Sherlock stellte sich in der Mitte des Zimmers auf und sah John abwartend an.
„Jetzt?“
„Natürlich jetzt.“ Wie immer schien Sherlock die menschliche Seite an seinem Vorschlag nicht zu bemerken. Er sah Johns Verlegenheit, konnte sich aber nicht erklären, worauf sie zurückzuführen sei. „Wann sonst? Auf deiner Hochzeit ist es zu spät. Du legst doch Wert auf… Gesellschaftliches.“
John seufzte. Er wusste, dass es sinnlos war, Sherlock Gefühle erklären zu wollen. „Sherlock. – Das wird noch mehr Gerede geben als es so schon gibt.“
Abwertend zeigte Sherlock um sich herum. „Hier ist keiner. Nicht einmal Mrs Hudson ist da.“
John blickte automatisch auf die Fenster.
Sherlock folgte seinem Blick mit einem Stirnrunzeln, bevor er verstand. „Oh, wirklich? Die Fenster bereiten dir Sorgen? Glaubst du ernsthaft, irgendjemand würde uns durch die Fenster beobachten? Das ist mehr als unwahrscheinlich. Du bist irrational ängstlich.“ Bei Johns andauerndem Blick ging er zu den großen Fenstern. „Wenn du meinst, die Fenster würden etwas ändern: Gut. Ich schließe die Vorhänge. Bist du zufrieden?“
„Sherlock. Das ist-!“ Er begriff nicht. Nun, Sherlock wusste, dass es ihm nicht um die Fenster ging. Jedoch wusste er nicht, dass irrationale Ängste genauso wenig mit Johns Zögern zu tun hatten. Es war einfach lächerlich von Sherlock Holmes Tanzunterricht zu bekommen. Und gerade diese Lächerlichkeit würde Sherlock nie verstehen.
Also konnte er auch genauso gut aufgeben und Sherlocks Vorschlag ohne weitere Auseinandersetzungen annehmen. „Fein. Discofox. Aber nur Discofox.“
Sherlock grinste kurz. „Gut. Stell dich neben mich, nimm Haltung an. Genau… so. Und jetzt trittst du mit dem linken Fuß nach vorn. Dann rechts nach vorn. Links und Tip. Und das ganze zurück. Nein, nicht das Gewicht verlagern. Der Tip ist eine Andeutung, du darfst das Standbein nicht ändern. Und nicht so große Schritte machen…“
Nach mehreren Stunden hatten sie neben dem hart erkämpften Discofox noch Foxtrott und andere Tänze, an deren Namen sich John nicht erinnern konnte, durchgekaut. Es erstaunte ihn, wie penibel Sherlock bei etwas sein konnte, dass in gewisser Weise mit anderen Menschen zu tun hatte. Immerhin benötigte ein richtiger Tanz immer zwei. Ob er sich es selbst beigebracht hatte? Möglich wäre es. Die Geschichte vom Wiener Opernball kaufte er Sherlock kein bisschen ab. Aber darauf würde er zu einem geeigneteren Zeitpunkt zurückkommen.
John schwirrte der Kopf von Takten, die Sherlock angezählt hatte, von eins, zwei, drei, Tips, von kurzen und schnellen Schritten… und Drehungen. Immer wieder Drehungen. Drehungen vorwärts, rückwärts, seitwärts, eindrehen, ausdrehen… die Handhaltung ändern, die Handhaltung nicht ändern… und nicht auf die Füße gucken. Nie auf die Füße gucken!
„Du wirst besser“, merkte Sherlock irgendwann an. „Und damit du Mary nicht auf die Füße trittst, stell dir vor, ich sei Mary.“
„Was? Du bist nicht Mary.“
„Stell dir vor, ich sei Mary“, wiederholte Sherlock trocken. Irgendetwas an seiner Aufforderung holte wieder die Unschlüssigkeit in John hervor, die er zuvor bemerkt hatte. Sherlock versuchte sie abzuschwächen: „Nun, abgesehen von dem Größenunterschied. Wir können auch auf Mrs Hudson warten und sie hinauf bitten. In einer halben Stunde sollte sie wieder zurück sein. Sie würde dir mit Freude die lateinamerikanischen Tänze beibringen. Ich denke, sie sucht insgeheim nur nach einer Gelegenheit sich wieder zu profilieren. Du würdest ihr sogar einen Gefallen tun.“
Doch seine Worte bewirkten eher das Gegenteil. Johns Unsicherheit wurde noch stärker, nahm gar einen Hauch von Abweisung an. „Nein.“ John wich zurück und schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht, Mrs Hudson.“
„Na, dann.“ Sherlock streckte linken Arm aus. Eine Aufforderung an John, seine Hand zu nehmen.
„Oh, Gott. Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich mache“, murmelte er, als er die Hand des Detektives ergriff.
Sofort korrigierte Sherlock Johns Haltung: „Deine Hand ist immer unter ihrer, du stützt sie sozusagen. Und deine rechte Hand ist beim Walzer immer auf ihrer Schulter. Nirgendwo anders. Da wir im Moment aber bei den anderen Tänzen sind, ist deine Hand an ihrer Taille.“ Unentschlossen blieb John stehen, bis Sherlock die Augen verdrehte. „Wir können auch tauschen. Du bist Mary. Dann würde unser Größenverhältnis wieder besser passen, selbst wenn wir dann den Sinn der Übung verfehlen würden. Oder soll ich Musik anstellen? Hilft dir das, im Takt zu bleiben?“
„Nein! Schon in Ordnung“, unterbrach er Sherlock. „Daran liegt es nicht. Welchen Tanz zuerst?“, fragte John schließlich, da er sich sonst nur noch mehr in Verlegenheit reden würde.
„Zuerst: Foxtrott. Du führst.“
„Ich weiß. Ich bin der Mann“, sagte John, doch machte keine Bewegung. Irgendwie wartete er darauf, dass Sherlock etwas machte.
„Du musst mit rechts anfangen. Nach vorn. Und dann links schräg nachsetzen“, half Sherlock nach einer Weile.
„Ich weiß!“
Nachdem er Sherlock gefühlte hundert Mal auf die Füße getreten war, oder über seine eigenen stolperte, Sherlock sich seine Kommentare generös verkniff, merkte dieser irgendwann helfend an: „Du darfst nicht auf deine Füße sehen. Sieh Mary an.“
John hob seinen Blick, um Sherlock ins Gesicht zu sehen. Er wirkte oberflächlich kühl wie immer. Trotzdem schien ihm diese ungewöhnliche Situation Spaß zu bereiten. Vielleicht war es auch nur Belustigung über Johns klägliche Versuche. „Du bist dir sicher, dass du Walzer kannst?“
Ja, er lacht mich tatsächlich aus, entschied John. „Natürlich bin ich mir sicher.“
Sherlock schien unzufrieden mit seiner Antwort zu sein. „Wir werden es sehen. Discofox: Taktwechsel: Eins, zwei, Tip… nein, John mit dem linken Fuß. Discofox fängt mit links an... Und zweischritt Walzer!“
Überrascht vom unangekündigten Wechsel der Schritte, stolperte John kurz, doch fing sich wieder auf. „Du bist viel zu steif, Tanzen bedeutet Dynamik, John. Rhythmus. Eleganz. Vielleicht sollte dir Mrs Hudson doch helfen.“
„Ich weiß, was Tanzen bedeutet, Sherlock.“
„Wie ich höre, kommt sie gerade die Treppe hinauf“, fuhr Sherlock fort, als habe er den Protest seines besten Freundes nicht wahrgenommen. In dem Moment flog die Tür auf und Mrs Hudson platzte herein, noch bevor John auf Sherlocks Aussage reagieren konnte.
„Ist alles in Ordnung, Sherlock? Ich habe es poltern gehört und dachte, Sie hätten das Möbiliar mal wieder-“ Sie verstummte als sie Sherlock sah, dessen Hand auf Johns Schulter ruhte, und John, dessen Hand auf Sherlocks Schulterblatt lag. John, dem die Röte ins Gesicht schoss und Sherlock, der sie irritiert musterte.
„Mrs Hudson, Sie unterbrechen uns“, erklärte er ruhig.
„Nein. Nein, überhaupt nicht“, warf John sofort ein, ließ Sherlock los und trat ein paar Schritte zurück.
„Warum sind Sie eigentlich die Frau, Sherlock? Wäre es nicht andersherum besser?“
John unterdrückte ein genervtes Seufzen, doch Sherlock schien ihre Frage ernst zu nehmen. „Wir üben für die Hochzeit.“
Mrs Hudson begann auf einmal wie ein junges Mädchen zu strahlen. „Ach, wie schön…“ Dann zeigte ihr Gesichtsausdruck Verwirrung. „Wirklich? Aber ich dachte, der erste Tanz gehöre immer dem Pärchen, oder habe ich was verpasst?“