Grau.
Grau wie einer der vielen anderen Tage in London, bemerkte Bert. Er stand auf, wischte sich die kreidegebleichten Hände an seiner dunklen Hose ab legte und die zerschlissene Mütze neben sich auf die Bank.
Dennoch erkannte er, dass es ein anderes Grau war. Etwas veränderte sich.
Bert betrachtete zufrieden sein Kunstwerk. Eine Aneinanderreihung von mehreren kleinen Bildern. Eine Parklandschaft, ein See, ein Laubwald im Herbst… das Letzte, auf das er besonders stolz war: Ein wolkenverhangener Himmel. Und auf einer Wolke, kaum sichtbar aber doch vorhanden, ein dunklerer Punkt.
Nur für ihn hatte dieser winzige Punkt eine Bedeutung. Niemand der anderen sah es. Darum beneidete er sie nicht.
Von diesen kreidenen Wolken schaute er in die echten empor. Die grauen, die am Himmel schwebten. Mit Freuden hätte er auch dort einen kleinen Punkt gefunden. Doch so sehr er auch suchte, seine Augen zusammenkniff… nur grau.
Irgendwo da oben, dachte er, irgendwo da ist sie. Beobachtet alles von ihrem Platz aus. Hoch in den Wolken.
„Schade, dass ich jetzt nicht in den Bildern verschwinden kann“, murmelte er. „Nicht wahr, Mary Poppins, nicht wahr?“
Der Wind kam von hinten und wehte den feinen Kreidestaub, den er hinterlassen hatte, den Weg hinunter. Die meisten Menschen, die hier und dort entlanggingen zogen nun ihre Mäntel fester um sich. Andere kuschelten sich fester bei ihrem Partner ein. Und wieder andere blieben kurz stehen, bewunderten Berts Arbeit, warfen ihm ein, zwei Münzen in die Mütze und eilten hastig weiter.
Erleichtert stellte er die Veränderung fest.
Der Wind drehte.
XXX
Der Himmel hatte sich nicht verändert. Gestern hatte es geregnet, was ihn veranlasste, seine Kunstwerke erneut zu malen. Natürlich wurden sie anders. Er wählte andere Motive, andere Farben. Eines blieb: Die Wolken blieben grau und der Punkt den niemand sah.
Schon drei Tage sind vergangen, aber sie wird kommen, wenn sie gebraucht wird. Immer wieder wiederholte Bert diesen Gedanken. Als würde er verloren gehen, sobald er ihn nicht mehr dachte.
„Und wenn sie nicht gebraucht wird?“ Entsetzt über diesen neuen Gedanken, bemerkte er nicht, dass er ihn laut ausgesprochen hatte.
„Wer wird nicht gebraucht?“, fragte eine Kinderstimme neben ihm.
Er schaute auf und legte die Kreide beiseite, ein grünes Stück. Das kleine Mädchen welches vor ihm stand, schaute ihn verwundert an. Sie war vielleicht um die acht Jahre alt, hatte braune, lockige Haare und grüne Augen.
Da ist es wieder, dachte er: Grün, wie die Kreide. Grün, wie die Bäume, die hoch in den Himmel reichen. Die näher an den grauen Wolken waren als er.
„Eine gute Freundin von mir, sie könnte vielleicht wieder hier sein, aber vielleicht wird sie dieses eine Mal nicht hier gebraucht und ist woanders. Wer weiß.“
„Oh“, machte sie.
In diesem Moment brach Sonnenschein durch den wolkenverhangenen Himmel und warf Schatten über seine Bilder.
„Was ist das für ein Punkt?“, fragte die Kleine weiter.
Bert war überrascht, zu überrascht um noch einen zweiten Schatten zu bemerken. Der Schatten gehörte zu einer Frau, die angesichts des Wetters einen dunklen Mantel trug und deren Hut etwas zu extravagant war, um der gängigen Mode zu entsprechen.
„Du siehst ihn?“, fragte er verwundert zurück.
„Ja, du etwa nicht?“ Das kleine Mädchen wich etwas von ihm ab.
„Doch, doch“, beruhigte er sie. „Da wohnt sie.“
„Bert, erzähle nicht wieder solch eine Geschichte“, schalt ihn eine helle Stimme von hinten. „Du darfst ihm nicht glauben, Sophie. Dort wohne ich nicht.“
Er schrak hoch. Und registrierte den zweiten Schatten neben ihm.
„Mary Poppins!“ Er lüftete seine Mütze, oder er hätte es getan, würde sie nicht wieder auf der Bank neben ihm liegen, und verbeugte sich stattdessen. „Wie schön, dich zu sehen. Du hast dich überhaupt nicht verändert.“
Sie war hier.
Endlich.