ANNA
Mit schnellen Schritten laufe ich durch den Wald. Ich versuche zu entkommen. Wieder verfolgt mich dieser Wolf. Wieder nimmt mich die Dunkelheit ein und lässt mich panisch werden. Lässt die Angst in meine Knochen fahren. Dann, ohne es verhindern zu können, stürze ich. Ich will mich wieder aufrappeln, doch ich kann nicht. Wie gelähmt bleibt mein Körper auf diesem kalten, feuchten Waldboden und bewegt sich nicht. Ich warte nur darauf, dass dieser Wolf mich erreicht. Dass er endlich, das macht, worauf er schon so lange gewartet hat. Dass er es endgültig beendet. Mich endgültig erlöst. Ja. Es wäre eine Erlösung oder etwa nicht? Nicht mehr ständig Angst haben zu müssen. Dann höre ich es. Der Waldboden, der die Geräusche des Wolfes wiedergibt. Das Laub und die Äste die unter der Last des Wolfes nachgeben. Die roten Augen, die mich anstarren. Voller Panik halte ich meinen Atem an. Versuche nicht zuzulassen, dass ich ihm meine Angst zeige. Die roten Augen kommen immer näher und schon bald spüre ich den heißen Atem auf meinem Gesicht. Es ist soweit. Er wird es hinter sich bringen. Um es mir selbst einfacher zu machen, schließe ich meine Augen. Der heiße Atem wandert an meinem Hals entlang zu meinem Haaransatz...und dann? Ich höre Knochen brechen. Höre schmerzerfülltes Stöhnen. Was zum Teufel? Langsam öffne ich meine Augen und beim Anblick, der sich mir bietet, scheint mein Herz zu zerspringen. Die blauen Augen die mich jetzt anblicken. Wie ist das nur möglich? Als sich ein Lächeln auf seine Lippen legt kann ich mich nicht länger zurückhalten. Ich schlinge meine Arme um ihn. Will seine Wärme fühlen. Will mich vergewissern, dass er es ist. Will mich freuen ihn endlich wieder zu sehen.
"Anna."
Das ist nicht Alex's Stimme. Wer ist das?
"Hey, Anna, raus aus dem Bett. Wir sind spät dran."
Vollkommen verwirrt öffne ich meine Lider und das Licht der Lampe brennt in meinen Augen. Das darf doch nicht wahr sein. Jetzt träume ich diesen Traum schon das gefühlt tausendste Mal und dann sehe ich endlich Alex und werde geweckt. Auch, wenn es nur ein Traum war. Ich war glücklich als ich in seine Augen geblickt habe. Wollte mehr davon. Wollte ihn endlich wieder in die Arme schließen. Ich bin wütend auf David obwohl ich es nicht sein sollte. Er konnte es ja nicht wissen.
"Konntest du nicht noch ein paar Minuten warten?"
Verwirrt über meine, etwas zu aggressive Frage starrt er mich an. Und sofort tut es mir leid. Er kann nichts dafür. Aber trotzdem bin ich enttäuscht darüber, dass ich den Traum nicht zu Ende träumen konnte. Ein paar Sekunden mehr, in denen ich Alex näher war, als in den letzten Wochen.
"Tut mir leid. Wollte nicht so wütend klingen."
"Ist schon in Ordnung. Ich wusste nicht, dass du von ihm träumst."
"Woher weißt du...?"
Er unterbricht mich und ein mitfühlendes Lächeln legt sich auf seine Lippen.
"Du hast seinen Namen gerufen."
Ich nicke wissend.
"Ich hatte diesen Traum einfach schon so oft. Als ich Alex kennengelernt habe und mich mit dieser Welt beschäftigt habe, hatte ich keinen dieser Träume. Und jetzt...jetzt beginnen sie wieder von vorne. Doch dieses Mal gehen sie weiter. Sie hören nicht einfach auf, so wie früher. Dieses Mal war es anders. Ich habe Alex gesehen. Seine blauen Augen. Auch, wenn es nur ein Traum war. Ich war so glücklich."
"Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich hatte auch oft solche Träume, nachdem Mum gestorben ist. Das Gute daran ist, dass wir eine kleine Chance haben, Alex zu retten. Und darum musst du dich jetzt auch beeilen. Wir müssen los. Sonst werden unsere zwei Sonnenfanatiker noch zu Grillsteaks."
Obwohl ich vor wenigen Sekunden nicht gedacht hätte, dazu fähig zu sein, wandert ein Lächeln auf mein Gesicht. Genau das ist es, was ich brauche. Ich brauche jemanden der mich wieder nach oben bringt und mich nicht fallen lässt. Der mir zeigt, dass es noch mehr gibt, als sich selbst in Trauer zu suhlen.
Damit wir pünktlich hier wegkommen, muss ich mich nun wirklich beeilen. Wir sollten vor Sonnenaufgang in New York ankommen. Ansonsten würden Melina und Nathan wirklich verbrennen. Ich habe mich heute deswegen gleich nach der Arbeit auf's Ohr gehauen. Ja, ich weiß. Ich habe auch noch eine Arbeit. Auch wenn die Wochen, in denen mich Nathan, Salivana und alle anderen beansprucht haben, noch so anstrengend waren, muss ich noch immer zur Arbeit. Ich war zwar in der Zeit meines Zusammenbruchs nicht dort, aber Peter hat Charly irgendetwas von wegen Depressionen aufgetischt. Ja gut. Es war ja auch eine ausgewachsene Depression. Auch wenn ich es nur eine Trauerphase nenne. Jedenfalls habe ich danach wieder zu arbeiten begonnen. Jedoch auf den Vorschlag von Charly hin, nur mehr ein paar Stunden in der Woche. Somit habe ich jetzt mehr Zeit, mich auf die wichtigste Sache zu konzentrieren: Alex zu finden und ihn wieder zurückzubringen. Peter ist ebenfalls mehr hier, als in der Arbeit und ich denke, dass Charly deswegen bald durchdrehen wird. Zwar lässt er es noch durchgehen, da Pete mich als kleine Ausrede vorschiebt und Charly ihm noch glaubt. Doch lange wird das nicht mehr funktionieren.
Ich habe gleich nach der Arbeit meine Taschen gepackt und mich auch bereits mit meinen Sachen schlafen gelegt. Ich wollte keine Sekunde meines Schlafes verschwenden. Also gehe ich nur noch schnell ins Bad um meine Haare zu einem Zopf zu bändigen. Dann packe ich meine graue Sporttasche und meinen Rucksack und folge den Stimmen, die laut durch den Gang hallen. Irgendwie bin ich nervös. Ich war noch nie in New York und auch wenn es aus einem Grund heraus ist der uns beschäftigen wird, freue ich mich dennoch.
Die Jungs, Luna und Melina stehen bereits in dem großen Vorraum und scheinen alle vollkommen aus dem Häuschen zu sein. Ich freue mich ja auch, aber dermaßen nervös wie die alle sind, bin ich wohl auch nicht.
"Hey, Leute. Wieso seit ihr so aufgeregt?"
Alle Blicke richten sich erschrocken auf mich und alle verstummen. Luna und Peter treten nervös von einem auf das andere Bein und ich versuche mir irgendwie einen Überblick über das Geschehen zu verschaffen. Irgendetwas ist hier falsch. Irgendetwas stimmt hier nicht.
"Was ist?"
Als mir keiner antworten will, werde ich wirklich wütend und lasse meine Tasche fallen. Langsam gehe ich auf die Truppe zu und starre jeden Einzelnen davon an.
"Ich habe etwas gefragt. Was ist?"
Alle blicken sich gegenseitig an, bevor Luna vortritt und meine Hand ergreift. Ihr Blick verrät nichts Gutes und ich bin gespannt, welche Nachrichten sie mir jetzt schon wieder überbringt. Was ist passiert? Wieder etwas das sich uns in den Weg stellt? Das die Chance, Alex zu retten aussichtslos erscheinen lässt? Während Luna nach Worten zu suchen scheint, werde ich immer ungeduldiger.
"Bitte mach dir nicht zu viele Sorgen. Aber ich kann nicht mitkommen. Ich muss etwas wirklich Wichtiges erledigen und das kann nicht warten."
"Was ist wichtiger, als Alex zu finden?"
Verärgerung legt sich in meine Stimme. Eigentlich sollte ich sie verstehen. Sie haben alle noch ein Leben. Haben alle noch andere Aufgaben, als Alex zu suchen. Doch für mich ist das derzeit die einzige Bestimmung. Und nichts wird mich davon abhalten.
"Bitte versteh mich. Ich muss etwas erledigen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Aber ich weiß auch, dass ihr das ohne mich schaffen werdet."
Ich bin enttäuscht darüber, dass sie mir die Wahrheit nicht sagen will. Aber ich muss es auch akzeptieren. Ich kenne sie mittlerweile schon gut genug, um zu wissen, dass sie mir nichts sagen wird, was sie selbst nicht als richtig empfindet. Mit einem resignierten Blick antworte ich ihr.
"Ist schon in Ordnung. Ich bekomme das schon hin."
"Ich weiß. Darum mache ich mir keine Sorgen."
Sie legt die Arme um mich und drückt mich noch einmal fest zum Abschied. Was immer sie auch zu erledigen hat, ich denke, es ist nicht einfach. Nach ihren Worten zu urteilen, muss es wirklich von großer Bedeutung sein. Am liebsten würde ich jetzt wissen wollen, was es ist, doch ich weiß, sie wird es mir eines Tages sagen. Bis dahin, werde ich wohl mit der Frage leben müssen
Am Weg zum Wagen verabschieden wir uns nochmals bei Salivana und John, der sich jetzt wieder eine Weile um das Haus kümmern wird. Ich steige bei Nathan, David und Peter ein. Im zweiten Wagen fahren Melina, Mike und Marius. Da Nathan eher ein Nachtmensch ist, fährt er die Strecke nach New York.
***
Wir sind schon eine Weile unterwegs und seit ungefähr einer Stunde ist es ruhig geworden. Peter und David schlafen auf der Rückbank. Als ich einen Blick zurückwerfe muss ich lächeln. Kaum vorzustellen, dass sich die beiden in wenigen Sekunden in ein völlig anderes Geschöpf verwandeln können und jetzt gerade schlafen wie zwei Baby's. Dann lehne ich meinen Kopf wieder an die Seitenscheibe und starre hinaus in die dunkle Nacht, wo ab und an wieder Lichter an uns vorbeizischen und mit ihnen auch immer wieder die Gedanken an Alex. Was er wohl jetzt gerade durchmacht? Ob er ebenso an mich denkt wie ich an ihn? Oder ob er mich bereits vergessen hat?
"Mach dir keine Sorgen. Wir werden ihn finden. Marius weiß, was er tut."
Nathan legt eine Hand auf meinen Oberschenkel und versucht mich damit zu beruhigen. Doch ich habe bei dieser Berührung nur Erinnerungen an Alex. Er hat das immer gemacht. Hatte immer die Hand auf meinem Oberschenkel während er gefahren ist. Ich vermisse ihn. Vermisse seine Berührung. Vermisse sein Lächeln.
"Ich weiß, ich sollte mir keine Sorgen machen. Aber ich kann nicht anders. Was ist wenn wir zu spät kommen?"
"Wir werden nicht zu spät kommen. Hast du Marius nicht gehört. Sie braucht ihn und dass mit seiner Seele. Also wird sie auch dafür Sorgen, dass er durchhält. Und wir werden ihn aus dieser Lage befreien. Jetzt wo es nicht nur mehr um ihn geht, sondern um die gesamte Welt. Um unsere Welt. Nichts ist jetzt wichtiger als Salivana aufzuhalten."
"Ich werde sie höchstpersönlich umbringen."
Jetzt blickt er zu mir und lächelt mich an. Seine Augen haben nach wie vor diese Wirkung auf mich. Doch an seine Gegenwart bin ich mittlerweile gewöhnt. Genieße sie sogar. Nicht auf diese Art. Aber ich genieße es, dass er mich nicht ansieht, als wäre ich schwach. Er behandelt mich als wäre nichts passiert. Er ist teilweise sogar wirklich hart zu mir. Vor allem beim Training.
"Du wirst sie auf keinen Fall umbringen. Nicht du. Du bist zu unschuldig. Wenn ihr Jemand das Licht auslöscht, werde ich es sein. Ich kann damit leben. Ich habe schon zu viele Leben ausgelöscht und weiß, wie ich damit umgehen muss."
"Aber ich habe solche Wut auf sie. Ich muss das machen. Sie hat mir alles genommen. Sie hat jeden kontrolliert und nur Unruhe gestiftet. Sie ist verantwortlich für diesen ganzen Scheiß."
"Ich weiß, dass du wütend bist. Verletzt und enttäuscht. Aber lass dir eins sagen. Es wird das Geschehene nicht rückgängig machen. Im Gegenteil. Jedes Leben das du auslöscht, nimmt auch einen Teil deiner Seele. Und glaub mir, eine Seele wieder zusammenzusetzen ist nicht einfach."
Ich lasse mir seine Worte nochmals durch den Kopf gehen und ernte am Ende seiner Moralansprache ein Augenzwinkern. Ich weiß, dass es mich begleiten wird und ich weiß auch, dass ich vielleicht nicht damit umgehen kann. Aber ich habe so einen innerlichen Drang es zu tun, dass ich nicht anders kann. Jede Nacht, wenn ich in meinem Bett liege, stelle ich mir vor, wie es ist, wenn ich ihr das Leben nehme. Ich weiß, ich bin vielleicht ein irrer Serienpsychokiller, aber ich kann nicht anders. Rache und die Chance Alex wieder zu bekommen, ist das Einzige was mich am Leben hält. Was mich antreibt. Was mir Energie gibt. Und ich werde es definitiv beenden. Ich werde ihr dieses gottverdammte Licht auslöschen.
Nach weiteren Stunden und zwei Pausen, die extra für mich eingelegt wurden, kommen wir erschöpft in dem Lichtermeer an. Die Leute laufen noch immer auf den Straßen herum, obwohl es mittlerweile vier Uhr Morgens ist. Das ist wirklich eine Stadt die niemals schläft. Nach dem großen Rummel, biegen wir in eine Seitenstraße und halten vor einem etwas heruntergekommenen Haus an. Alex's Haus. Noch eine weitere quälende Erinnerung an ihn. Nur dass ich diese noch nicht kenne.
Nathan und Melina setzen uns vor dem Haus ab und fahren dann weiter. Er hat gesagt, dass er hier Jemanden kennt, der ihnen eine Vampirgerechte Schlafgelegenheit bieten kann. Wir haben vereinbart, dass wir uns bei Sonnenuntergang hier treffen. Bis dahin müssen ich und die Jungs noch zu Marius's Kontakt. Wir verstauen die Sachen und ich muss zugeben, dass ich es mir ein wenig gemütlicher vorgestellt habe. Alles ist verstaubt und mit Tüchern überdeckt. Mike zeigt mir das Zimmer von Alex und verschwindet dann wieder die Treppen hinunter. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und mit zittriger Hand greife ich auf die Türklinke. Hier hat Alex geschlafen. Ja gut. Nicht in letzter Zeit. Aber das hier ist ein Stück von ihm. Sein Reich. Seine Energie. Mein Atem wird schneller als ich langsam die Klinke hinunterdrücke.
Die weiß gestrichene Tür gibt ein leises Knarren von sich. Und schon sehe ich das Bett in der Mitte des Raumes. Ein großes weißes Lacken ist darüber geworfen worden und die Vorhänge sind noch immer zugezogen. Hier hat er also geschlafen, als er nicht bei mir war. Ich spüre, wie sich langsam eine Träne in meinem Augenwinkel bildet. Am liebsten würde ich jetzt aus Leibeskräften schreien. Würde ihn gerne in meinen Armen halten. Ich vermisse ihn so sehr, dass mein Herz schmerzt. Und nicht nur einfach so wie in einem Spruch. Nein. Ich spüre wirklich einen Schmerz darin. Meine ganze Brust zieht sich zusammen. Es schmerzt, nicht zu wissen ob ich ihn jemals wieder sehen werde.
Nach einigen Minuten die ich einfach so in diesem Zimmer gestanden bin, habe ich mich wieder etwas beruhigt und gehe auf das Fenster zu, um die Vorhänge zu öffnen. Als ich durch die staubige Scheibe nach draußen bicke, kann ich erkennen, dass die Sonne bereits ihre ersten Strahlen am Horizont verteilt. Ich hoffe Melina und Nathan haben es noch rechtzeitig geschafft. Und dann blicke ich nach unten. Obwohl es nicht gerade einladend aussieht, freue ich mich dennoch darüber. Ein kleiner Garten, der zu diesem Haus gehören muss. Nach den Grasbüschel und dem zugewuchertem Weg nach zu urteilen, wurde hier schon länger nichts mehr gemacht. Aber es ist trotz allem schön, ein Fleckchen Grün zu haben.
"Komm, Anna. Wir müssen gleich los."
Ich schrecke hoch, als ich Marius Stimme wahrnehme. Ich drehe mich um und finde ihn im Türrahmen.
"Ist gut, bin gleich unten."
Obwohl wir alle geschafft sind von der langen Fahrt, müssen wir weiter zu Marius's Kontakt. Eigentlich bin geschafft, denn die anderen können ihre Reserven schneller aufladen als ich. Aber ich muss trotzdem mit. Laut Marius, wird er uns nur helfen, wenn eine Hexe mitkommt. Egal ob begabt oder nicht. Und ich bin eher das Zweitere. Also drehe ich mich um und folge ihm nach unten. Ich hoffe, dass er uns helfen kann. Er muss uns helfen. Denn wo sollten wir sonst Hilfe bekommen?