ANNA
Das Erste was ich wahrnehme, als sich der Nebel zurückgezogen hat, ist Marius Stimme. Ich befinde mich noch immer auf diesem Platz und die Jungs sind ebenfalls wieder dort, wo sie verschwunden sind. Doch der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen wirkt, als würde ich sterben.
"Anna, es tut mir so leid. Ich wusste es nicht. Es tut mir leid."
In Marius blickt liegt Sorge und ich zweifle keine Sekunde an seinen Worten.
"Keine Sorge, mir ist nichts passiert."
Ich versuche ihn zu beruhigen und lege meine Handfläche auf seiner Schulter ab. Doch sein Blick wirkt ungläubig, fast so, als würde er glauben das ich lüge.
"Aber....er hat gesagt du müsstest mit deiner Kraft bezahlen!"
"Sagen wir mal so...ich hatte gerade den Schock meines Lebens, aber mir geht es gut. Aus irgendeinem Grund hat er es nicht gemacht. Also habe ich meine Kräfte noch und mir geht es gut. Wirklich. Mach dir keine Sorgen."
Erleichterung legt sich über seine Züge, auch wenn noch etwas von Unglauben in seinem Blick liegt. Nach einem langen Moment scheint er meine Worte zu akzeptieren und blickt ungeduldig zu den Jungs, die mich noch immer anstarren, als würde ich gleich tot umfallen.
"Also, was habt ihr herausgefunden?"
"Vieles. Aber es hier preiszugeben ist nicht gut. Also, kommt schon, lasst uns zurückgehen."
***
Zurück an dem Ort, wo mich alles an ihn erinnert, scheint den Jungs eine schwere Last von den Schultern zu fallen. Mir geht es nicht anders. Es ist, als wäre ich hier in Sicherheit. Als wäre dies mein goldener Käfig, der mich beschützt. Ich weiß es klingt absurd, aber ich fühle mich hier wohl. Auch, wenn es mich an Alex erinnert. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Die Jungs lassen sich sichtlich erschöpft auf die Couch fallen und legen ihre Füße auf den kleinen Holztisch, der davor steht. Marius scheint noch immer ein wenig Aufregung in sich zu tragen und läuft nervös auf und ab. Solange bis Mike aufsteht und ihm auf die Schulter klopft.
"Jetzt komm schon, beruhige dich. Ihr ist nichts passiert und du konntest es nicht wissen. Also.. was geschehen ist, ist geschehen. Und jetzt lass uns Anna auf den neuesten Stand bringen."
Mike's Worte zeigen Wirkung und er atmet tief ein, um dann mit den wichtigen Informationen rauszurücken.
"Okay, also Folgendes: Der Allwissende hat gesagt, dass sich die Kräfte überall befinden. Ansonsten könnten sie nicht alles kontrollieren. Jedoch gibt es auch ein Zentrum ihrer Macht. Aber die Kräfte habe sich auch vor diesem Fall geschützt. Sie verlagern das Zentrum ihrer Macht ständig. Der Haken an der ganzen Sache ist jedoch, dass sie dieses Zentrum nur an einem energiereichen Ort verlagern können. Und für diesen Fall, kann uns nur eine Hexe den Zutritt ermöglichen. Eine mächtige Hexe..."
Plötzlich sind alle Augenpaare auf mich gerichtet und ich habe keine Ahnung warum. Ich bin nicht mächtig und das ganze Gerede darüber, dass ich mächtig sein soll, macht mich noch verzweifelter. Ich weiß doch selbst am besten, dass ich nicht annähernd so eine Macht besitze wie andere Hexen. Ich schüttle abwehrend meinen Kopf um ihnen endlich klar zu machen, dass sie mich nicht so anstarren sollen.
"Dann müssen wir uns wohl eine mächtige Hexe suchen."
"Anna, du bist mächtig. Nur glaubst du selbst nicht daran. Du musst endlich mit diesen Selbstzeifel aufhören und auf deine Kräfte hören. Du kannst das. Hier geht es um Alex."
"Ich weiß, dass es hier um Alex geht. Glaub mir. Ich weiß das jede verdammte Sekunde. Aber ich kann das nicht."
Obwohl ich es nicht vorhatte, ist meine Stimme lauter als sonst. Ich bin aufgebracht. So, als wüsste ich nicht, dass es hier um Alex geht? Ich bin nur wegen ihm hier. Ich werde alles für ihn tun. Dafür ihn wieder zurückzubekommen. Doch ich weiß auch, wie weit meine Kräfte gehen. Und diese sind alles andere als mächtig. Der Ärger über Marius's Worte schwirrt noch immer in meinen Gedanken herum, als David mich an der Hand packt und mich nach oben zieht.
"Jetzt reicht es, komm mit."
In seinem Ton liegt Verärgerung. So kenne ich David nicht. Nicht mit mir. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Er zieht mich an der Hand in die Küche und dann zur Hintertür. Plötzlich steht er mit mir am Treppenabsatz der zu dem kleinen Garten hinabführt. Der Garten, den ich vom Fenster aus gesehen habe. Er ist von einem hohen Holzzaun umgeben und somit abgeschottet von den Nachbarhäusern. Er zieht mich weiter nach sich, bis der Rasen unter meinen Füßen nachgibt und wir mitten in dem Gestrüpp stehen, dass sich um meine Beine wickelt. Dann greift er nach meinen Schultern und starrt in meine Augen.
"Wenn du es nicht wahrhaben willst, dann lege ich jetzt mein Leben in deine Hände. Es tut mir wirklich leid, Anna. Aber du wirst es nicht anders lernen."
Er stellt sich vor mich und plötzlich werden seine Augen rot. Feuerrot. Seine Zähne schießen hervor. Er jedoch bleibt in seiner Menschengestalt und mit tiefer Stimme ruft er mir noch einmal zu, bevor er sich ein paar Schritte von mir entfernt.
"Versuche, mich zu stoppen."
Dann sehe ich wie er seine Finger über die Stelle seines Herzen's legt. Plötzlich sehe ich Blut unter seinen Fingern, das sein graues Shirt an dieser Stelle in ein tiefrot färbt. Seine Finger bohren sich in seine Haut und Panik streigt in mir auf. Die Jungs bleiben weiterhin am Absatz der Treppe stehen und beobachten das Geschehen mit überraschtem und dennoch schockiertem Blick.
"Stopp! David, hör sofort auf!"
Meine Stimme ist von Verzweiflung getränkt. Ich versuche ihn zu stoppen. Ich will ihn aufhalten und gehe auf ihn zu, doch er stoppt mich mit schmerzverzerrten Worten.
"Anna. Bleib. Verdammt. Nochmal. Stehen. Ich werde erst aufhören, wenn du mich mit deinen Kräften dazu bringst."
Die Angst in mir wächst, als sich seine Finger weiter in seine Brust wandern und noch mehr Blut aus der Wunde quillt.
"Jungs, helft mir. David. Hör auf damit. Bitte."
Schon spüre ich Tränen die über meine Wange laufen. Er wird sich umbringen. Ich erkenne seinen Schmerz. Keiner der Jungs scheint etwas dagegen unternehmen zu wollen. Ich bin verzweifelt. Er wird sich umbringen. Die Schmerzen in seinem Gesicht und sein Stöhnen zerreißen mich. Es macht mir solche Angst. Ich weiß nicht, wie ich es stoppen kann. Ich kann es nicht. Ohne es aufhalten zu können schließe ich meine Augen und möchte nur noch fliehen. Will es nicht wahrhaben. Will nicht sehen, was sich gerade vor meinen Augen abspielt. Also lasse ich wieder einmal alles um mich herum verschwinden. Doch dann höre ich eine leise Stimme in meinem Kopf.
"Anna, du schaffst das. Ich weiß es. Konzentriere dich darauf."
Wie ist das möglich? Es ist die Stimme von Alex. Ich muss es mir einbilden. Ich bilde es mir ein. Eine Wunschvorstellung. Ich flüchte mich in eine Welt, in welcher alles gut ist. In dieser Welt ist Alex bei mir. Dann spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und höre die Stimme noch einmal.
"Anna. Hör auf nachzudenken. Stoppe ihn einfach. Du kannst das. Du musst nur die Konzentration auf ihn lenken. Stell dir seine Hand vor. Stell dir vor, wie du die Hand wieder aus seiner Brust ziehst. Stell dir vor, du hast die Kontrolle über seinen Körper."
Eindeutig Alex's Stimme. Ohne es zu bemerken liegt meine Hand über dem Anhänger der Kette. Die Kette, die mir Alex damals in meine Hand gelegt hat. Bei meinem ersten richtigem Zauber. Sie hat mir geholfen und nachdem er gegangen ist, habe ich sie nicht mehr abgelegt. Ohne zu zögern, versuche ich die Worte in die Tat umzusetzen. Ich versuche mich auf David's Hand zu konzentrieren. Versuche, mich wieder in die reale Welt zurückzuholen. Dann öffne ich langsam wieder meine Augen. Vor mir steht noch immer David mit der Hand tief in seiner Brust und schmerzverzerrtem Gesicht. Jetzt oder nie. Auch, wenn ich mir Alex's Stimme nur eingebildet habe. Er ist bei mir. Jede Sekunde. Ich will ihn finden und will niemanden mehr verlieren. Meine Hand umgreift noch immer den Anhänger und meine Augen sind auf David's Hand gerichtet. Ich versuche die Worte in meinem Kopf zu ordnen. Konzentriere mich auf seine Hand. Versuche sie so zu lenken, als wäre es meine. Ich spüre, wie alles um mich herum verschwindet. Und plötzlich spüre ich Schmerz. So, als würde die Hand über meinem Herzen liegen. Ich muss ihn stoppen. Ich kann das nicht zulassen. Also stelle ich mir vor, dass ich die Hand jetzt vorsichtig aus meiner Brust ziehe. Ohne das wertvolle Organ darin zu verletzen. Langsam, ohne es richtig zu realisieren, sehe ich, wie seine Hand langsam wieder aus seiner Brust hervorkommt. Blutverschmiert. An seinem Blick ist die Anstrengung nicht zu übersehen. Fast so, als würde er dagegen ankämpfen. Doch dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ist die Hand wieder vollständig zu sehen. Die klaffende Wunde mitten in seiner Brust jedoch auch. Ich will, dass sie wieder heilt. Will, dass er keine Schmerzen mehr hat. Langsam aber doch, scheint sich die Wunde zu schließen. Ich sehe, wie das Blut stockt, das Fleisch sich wieder schließt und die Haut sich über das riesige Loch legt, das noch vor wenigen Sekunden auf David's Brust existiert hat.
Erleichtert sieht er mich an und ein Lächeln spiegelt sich auf seinem Gesicht. Ich jedoch bin vollkommen aufgebracht. Ich bin so wütend auf ihn.
"Du bist völlig krank. Du hättest dich hier fast."
Vorsichtig kommt er auf mich zu und will seine Hand auf meine Schulter legen. Doch ich zucke zurück. Ich realisiere erst jetzt, was gerade passiert ist.
"Anna. Bitte. Es musste sein."
"Einen Scheiß musste das!"
Die Wut übernimmt mich und ich kann nicht anders als zu flüchten. Ich brauche einen Moment für mich alleine. Brauche Abstand von diesem ganzen übernatürlichem Scheiß. Also drehe ich mich kurzerhand um und bewege mich auf den kleinen Gang neben dem Haus zu. Ich will hier weg. Doch Peter stellt sich mir in den Weg und versucht mich aufzuhalten.
"Bitte. Lauf nicht weg. Du hast ihn aufgehalten. Es ist nichts passiert."
"Bitte, lass mich einfach nur hier weg. Ich verspreche, dass ich bald wieder zurück bin. Aber ich brauche Zeit um das Ganze hier zu verdauen."
Sein Blick wirkt unsicher. Fast so als würde er gerade in seinem Kopf die Optionen abwägen. Doch dann nickt er und macht mir den Weg frei, damit ich durch den engen Durchgang gehen kann. Hinaus auf die Straßen New York's. Für einige Minuten sauge ich die herbstlich warme Luft in meine Lungen und versuche mich zu beruhigen. Doch was ich jetzt noch lieber machen würde, ist einfach zu gehen. Ich will einfach meinen Ärger verdrängen. Also setze ich einen Fuß vor den anderen und gehe in die selbe Richtung, in die wir auch vorhin schon gegangen sind. Ich hoffe diesen Weg nicht vergessen zu haben und so überlege ich auch nicht, wo ich mich genau befinde. In meinem Ärger gehe ich einfach weiter. Als würde ich mich wieder einmal in meiner Traumwelt befinden.
Die Sonne verschwindet bereits hinter den Dächern der Hochhäuser, als ich das nächste Mal aufblicke. Keine Ahnung, wie lange ich nun schon hier herumwandere, aber ich habe definitiv den Überblick verloren. Also versuche ich mich orientieren. Zu meiner linken befindet sich ein Gebäude, das ich schon einmal gesehen habe. Gut. Jetzt weiß ich wenigstens wieder die Richtung in die ich gehen muss. Also setze ich mich wieder in Bewegung und mache mich auf den Weg zurück zu den Jungs. Der kleine Spaziergang hat Wunder gewirkt. Ich habe mich wieder einigermaßen beruhigt und bin auch nicht mehr so wütend auf David, wie ich es vorhin war. Auch, wenn es mich trotzdem noch beschäftigt. Seine Aktion hat mich echt an meine Grenze gebracht. Es war nicht körperlich anstrengend. Aber mein Kopf ist noch immer vollkommen überfordert von dem Geschehenen.
Nach weiteren Minuten, komme ich an eine Kreuzung. Zu meinem Bedauern, bin ich mir nicht mehr sicher, welchen Weg ich einschlagen muss. Verdammt. Ich weiß es nicht mehr. Doch was habe ich schon zu verlieren? Irgendwer wird mir schon helfen, wenn ich mich wirklich verlaufen sollte. Also folge ich meinem Gefühl und biege rechts, in die mit Hochhäusern gesäumte Straße, ein. In der Hoffnung wieder zurück zu finden.