Anmerkung: Ich halte mich nur oberflächlich an die geschichtlichen Ereignisse. Über Boudiccas Töchter ist ja kaum etwas bekannt, sowohl Namen als auch die Lebensgeschichte der beiden sind frei erfunden.
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Wer diese Zeilen nun liest und glaubt, es fällt mir leicht diese zu schreiben… Nun. Der gehört wohl zu jenen Menschen, die nicht allzu viel nachdenken. Den Menschen, die sich gar nicht erst die Mühe machen, zwischen den Zeilen zu lesen.
Ich kann nicht einmal mehr zählen, wie viele Versuche ich unternommen habe, meine Gedanken niederzuschreiben und vielleicht werde ich auch dieses Schriftstück nie vollenden.
Was ich zu erzählen habe ist keine Geschichte über einen ruhmreichen Sieg, denn wir mögen einige Schlachten gewonnen haben, doch nicht den Krieg. Und selbst für einige Schlachten, aus denen wir siegreich hervorgingen, schäme ich mich. Der Geruch von verbranntem Menschenfleisch werde ich für den Rest meiner Tage immer in mir tragen- und diese Tage, da mache ich mir keine Illusionen, könnten schneller vorbei sein als mir lieb ist. Dennoch möchte ich hier meine Geschichte erzählen, wie ich sie erlebt habe, nicht, wie ein paar Römer sie darstellen möchten. Mein Name ist Yelva und dies ist die Geschichte unserer Familie- und ihres Niederganges.
Meine Mutter, möge sie ihren Frieden finden, war eine kluge Frau. Diese Klugheit war ihre grösste Stärke, in einem von Römern belagerten Land aber auch eine grosse Bürde. Wäre sie ein Mann gewesen, vielleicht wäre es ihr dann gelungen, auf einer anderen Ebene mit den Römern zu verhandeln. Doch was rede ich da? Egal wo die Römer durchmarschieren, immer hinterlassen sie eine Spur aus Verwüstung und Leichen. Und meine Mutter stand ihnen in dieser Hinsicht in nichts nach.
Begonnen hat die ganze Misere vor nicht einmal drei Jahren, als unser Vater Prasutagus seinen letzten Atemzug tat. Bedenkt man die Zeiten, in denen wir leben, war sein Ende recht angenehm. Er war alt, hatte keine grossen Beschwerden und glaubte, sein reich sei gesichert. Ich gönne ihm diesen letzten ruhigen Gedanken, denn wäre ihm bewusst gewesen, in welches Chaos sein Ableben uns stürzen würde, hätte er sich nur unnötig lange gequält.
Jener Tag, der den Weg Richtung Krieg ebnete, war angenehm warm. Es war September und ich sass mit meiner jüngeren Schwester Floraidh vor dem Haus.
Vor seinem Ableben hatte unser Vater uns als seine Erbinnen eingesetzt, doch so lange unsere Mutter da war, brauchten wir uns darum keine Sorgen zu machen. Sie unterwies uns- insbesondere mich- zwar regelmässig in den politischen Feinheiten, doch alles was von Bedeutung war, wurde von ihr geregelt. Und dafür war ich dankbar. Ich hatte zu jener Zeit zwar fest vor, mein Erbe eines Tages anzutreten, aber mit meinen damals siebzehn Jahren hätte ich mich der Verantwortung noch nicht gewachsen gefühlt. Nun, drei Jahre später tue ich das sogar noch viel weniger.
Wir hörten Stimmen aus dem Besprechungsraum unserer Mutter, nichts Ungewöhnliches. Als Herrscherin eines Volkes gab es viele Verhandlungen zu führen- und diese lief eindeutig nicht so, wie sie es sich erhoffte. Ich verstand nicht genau, über was gesprochen wurde, aber ihre Stimme klang gefährlich ruhig. Wenn sie mich anschrie, fiel es mir leichter, zurückzuschreien. Doch wenn sie diese gewisse ruhige Stimme einsetzte, wie sie es jetzt gerade tat, dann wusste ich, dass ich vorsichtig sein musste.
«Egal wo diese Römer auftauchen, immer gibt es Streit.» Verblüfft sah ich Floraidh an.
«Woher weisst du, dass es sich um einen Römer handelt?»
«Sie sind vorhin durch die Seitentür rein. Hast du das denn wirklich nicht mitbekommen?» Nein, hatte ich nicht. Wenn ich wirklich tief in meinen Gedanken versunken war, schaffte ich es erstaunlich gut, alles um mich herum auszublenden.
«Hast du erkannt, wer es war?»
«Keiner den ich schon mal gesehen hätte. Aber sie wirkten ziemlich aufgeblasen, also sind es wohl Gesandte von Nero.»
Kaiser Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus. Wusste der Teufel, was unseren Vater dazu getrieben hatte, diesen Mann als Miterben zu bestimmen. Sein Plan, nach seinem Ableben die Ruhe in seinem Volk zu bewahren war jedenfalls kläglich gescheitert, das wussten wir schon damals. Es gab kaum einen Landstrich, der nicht von den Römern geplündert worden war.
Mir und meiner Schwester war trotz unseres jungen Alters und unserer Position als Prasutagus´ Töchter nicht entgangen, wie angespannt die Stimmung in unserem Land war, nicht nur bei den Icenern. Aber bis zu jenem Tag hatten wir es noch nicht selbst mit angehört. Im Nachhinein muss ich sagen, dass wir wirklich sehr gut behütet aufgewachsen sind. Doch selbst das Leben in normalen Verhältnissen hätte uns nicht auf das Grauen vorbereitet, welches uns noch erwartete.
Ich hatte nicht gesehen, wie die Gesandten Roms unser Heim betreten hatten, doch umso genauer beobachtete ich die Römer nun, als sie geradezu davonstürmten.
Augenblicklich erhob ich mich, dicht gefolgt von meiner Schwester. Es gab zu jener Zeit eigentlich kaum etwas, das wir nicht gemeinsam taten. Es ging sogar so weit, dass wir uns noch immer das Zimmer teilten, obwohl längst jede ihr eigenes hatte.
So stand sie also direkt neben mir, als ich an die Tür zum Arbeitszimmer unserer Mutter klopfte.
«Kommt rein.» Selbst durch das dicke Holz war die Wut in ihrer Stimme vernehmbar, da diese aber ganz offensichtlich nicht uns galt, traten wir ohne zu zögern ein.
«Was wollten die Römer?»
Sie blickte von der Karte auf und sah mich direkt an. «Du bist nicht dumm Yelva, sag du es mir.» Meine Unterrichtsstunden liefen oft genau so ab, sie liess mich die Antwort auf meine Fragen selbst finden.
Meine Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, was sie von Nero und den Römern im Allgemeinen hielt, also ging es dem Kaiser wohl nicht viel anders.
«Sie wollen dich nicht als Herrscherin. Aber das ist keine neue Nachricht, was wollten sie vorhin?»
«Das ich zurücktrete und wir alle auf unseren Anspruch verzichten. Sie haben unsere Ländereien bereits eingenommen, aber das Volk ist unzufrieden. Sie hoffen, wenn wir sie öffentlich als Herrscher anerkennen, legen sich die Unruhen wieder.» Es erschien mir schon damals nicht fair. Doch nicht, weil ich Angst hatte Macht zu verlieren, diese hatte noch immer unsere Mutter inne, es lag eher daran, dass wir immer in dem Glauben aufgewachsen waren, irgendwann zu regieren.
«Und du gehst darauf ein?»
«Natürlich nicht! Das werde ich niemals zulassen.»
Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass sie wirklich daran geglaubt hat, aber schon eine Woche später wurde sie- und auch meine Schwester und ich- eines Besseren belehrt.
Alles begann wie an jenem ersten Tag, Floraidh und ich sassen vor dem Haus, diesmal über ein Brettspiel gebeugt. Ich weiss nicht mehr welches Spiel es war, ich habe vieles von jenem Tag vergessen. Vor kurzem habe ich einmal mit einer Heilerin darüber gesprochen und sie meinte, es sei eine Reaktion meines Körpers. Was wir nicht verarbeiten können, verdrängen wir.
Nur leider scheint mein Körper in dieser Hinsicht nicht richtig zu arbeiten, denn an die Schrecken erinnere ich mich noch in jedem Detail, nur das Nebensächliche ist in Vergessenheit geraten.
Ich weiss noch, wie vor unserem Anwesen ein Tumult ausbrach, sehe deutlich vor mir, wie Myrddin, ein Wachmann, der länger als ich lebte unter meinem Vater gedient hatte, von einem Gladius durchbohrt zusammensackte. Ich erinnere mich noch an einen Schrei, weiss aber nicht mit Sicherheit, ob er von mir oder meiner Schwester kam.
Der Unterricht den ich in jungen Jahren erhalten hatte, hatte meinen Geist geschärft, nicht meinen Körper. Wir hatten nicht den Hauch einer Chance, als sie kamen, um uns zu holen. Gerne würde ich behaupten, wir hätten uns deshalb nicht gewehrt, in Wahrheit war es wohl aber eher so, dass wir schlichtweg zu überrumpelt waren. Zumindest ich, denn Floraidh versuchte wenigstens noch wegzulaufen, ehe sie an den Haaren zurückgeschleift wurde.
Eine der deutlichsten Erinnerungen an jenen Tag ist diejenige, wie sie unsere Mutter aus dem Haus zerrten- die Hände auf den Rücken gefesselt, wie eine Gefangene. Doch sie hielt den Kopf nach wie vor hoch erhoben, weshalb auch ich versuchte, mir meine Furcht nicht allzu sehr anmerken zu lassen- ich wollte unserer Familie ja keine Schande bereiten.
Wir wurden mitten in die Siedlung geführt, genauer gesagt auf den Dorfplatz, wo sich neben den Römern auch immer mehr Einheimische zu drängen begannen.
«Boudicca, Witwe des Prasutagus. Ihr werdet beschuldigt, euch dem Willen des römischen Kaisers, Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus zu widersetzen und euch als Königin der Icener auszugeben. Bekennt Ihr euch schuldig?» Sie streckte sich, so weit es mit ihren gefesselten Händen ging und sprach laut und deutlich, damit auch wirklich möglichst viele der Leute sie hören konnten.
«Schuldig? Wenn es eine Schuld ist, sein Recht schützen zu wollen, dann ja, aber vergesst nicht, dass dies hier Britannien ist und nicht Rom. Ihr könnt hier nicht so verfahren, wie es euch beliebt.» Der Römer wirkte nicht besonders überrascht und ich glaube mittlerweile sogar, die folgenden Worte bereiteten ihm eine grosse Genugtuung. So hatte er einen offensichtlichen Grund, sie zu bestrafen.
«Für diese Worte und eure Aufsässigkeit erhaltet Ihr zwanzig Peitschenhiebe. Es sei denn, Ihr bekundet öffentlich eure Reue und akzeptiert Kaiser Nero als den alleinigen Herrscher.»
«Und wenn ihr mir hundert Hiebe gebt, eher verschlucke ich meine Zunge.» Ein winziger Teil von mir wünscht sich nun, sie hätte tatsächlich ihre Zunge verschluckt, denn bis auf abertausende Leichen hatte uns der Aufstand, der auf diesen Tag folgte, nichts gebracht.
«Ich habe euch gewarnt.» Er nickt einem seiner Männer zu, der mit einer Peitsche hinter unsere Mutter trat. Schon das erste Klatschen liess mich zusammenzucken und das, obwohl ich nicht diejenige war, welche die Hiebe erhielt. Mutter stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben, doch sie schrie nicht. Auch beim zweiten und dritten Hieb nicht, auch nicht bei allen anderen, die darauf folgten. Erst beim achtzehnten Schlag entrang sich ihrer Kehle ein schmerzerfülltes Stöhnen, dies war das einzige Geräusch, das sie während der ganzen Zeit vernehmen liess. Am Ende hing sie schlaff in den Armen der beiden Wachen, die sie zwangen, auf den Füssen zu bleiben.
«Habt Ihr eure Worte überdacht?» Sie spuckte ihm ins Gesicht und ein Raunen ging durch die Menschenmenge, die ich bis zu jenem Zeitpunkt fast vollständig ausgeblendet hatte.
Mit einer langsamen Bewegung wischte sich der Römer den Speichel weg. «Nun gut, euere Unversehrtheit mag euch nichts bedeuten, doch wie steht es mit der Ehre eurer Töchter?»
Wie sich nun herausstellte, war ihr selbst dieses Opfer wert- ohne, dass wir einmal gefragt worden wären. Denn sie schwieg noch immer, was der Befehlshaber als Aufforderung auffasste.
«Icener, nehmt folgendes als Warnung. Die Freunde Roms werden von unseren Legionen beschützt, doch stellt ihr euch uns ebenso offensichtlich entgegen wie dieses Weibsstück, blüht euren Töchtern dasselbe.»
Er sah zu seinen Männern. «Es gibt sicher zwei unter euch, die schon mal eine Jungfrau nehmen wollten.» Nun kam doch noch Leben in unsere Mutter. Sie kämpfte gegen die Wachen, verfluchte sie in mehreren Sprachen, doch sie unterwarf sich nicht und so war unser Schicksal besiegelt.
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Irgendwann während der darauffolgenden Marter musste ich wohl in die dunkle Umarmung der Bewusstlosigkeit eingetaucht sein, denn das nächste woran ich mich erinnere ist, dass ich in unserem Zimmer aufgewacht bin – neben meiner Schwester. Zuerst glaubte ich, dass alles nur ein Traum gewesen war, ein schrecklicher, widerwärtiger Albtraum- doch das Brennen zwischen meinen Schenkeln und der stechende Schmerz in meinem Unterleib belehrte mich eines Besseren. Man hatte uns saubere Leinenhemden angezogen, doch hätte ich mich nicht schmutziger fühlen können, wäre ich in einem Schweinestall gelegen.
Jener Tag hatte uns nicht nur unsere Unschuld, sondern auch den verbliebenen Rest unserer Kindheit geraubt. Ich war immerhin schon siebzehn, doch Floraidh war beinahe vier Jahre jünger als ich. Dennoch vergoss sie weniger Tränen und statt wie ich, über den Sinn und Unsinn des ganzen Krieges nachzudenken, konzentrierte sie sich auf ein einziges Gefühl, welches von nun an ihr ganzes Leben zu bestimmen schien. Hass. Wie tief dieser ging, erfuhr ich, als unsere Mutter einige Tage nach der Tat mit uns das Gespräch suchte.
«Ich verstehe, wenn ihr euch von mir abwenden wollt. Alle Wege stehen euch offen und auch wenn die Römer glauben, euch vor den Augen aller Menschen blossgestellt zu haben, die einzigen, die ihr Gesicht verloren haben, waren sie selbst.» Das wiederum war mir herzlich egal, ich fühlte mich trotz täglichen mehrstündigen Bädern immer noch schmutzig, da konnte die Meinung des Volkes nichts daran ändern.
«Ich werde das Anwesen morgen verlassen und muss wissen, ob ihr hinter mir steht oder nicht.» Ich wusste nicht recht, was ich darauf erwidern sollte, aber Floraidh nahm mir die Entscheidung ohnehin ab.
«Du weisst nicht mal, was du uns da angetan hast, nicht wahr, Mutter? Hast du eine Vorstellung davon, wie ich in den letzten drei Tagen geschlafen habe? Gar nicht.» Da hatte sie Recht, hin und wieder war zwar eine von ihnen eingenickt, nur um kurz darauf wieder aus dem Schlaf zu schrecken. «Trotzdem werde ich bei dir bleiben. Nicht weil ich dir vergebe, sondern weil das Einzige, was ich mehr verachte als dich die Römer sind. Und bis wir diese besiegt haben, werde ich bleiben. Aber keinen Tag länger.» Mutter nahm die Worte gefasst entgegen. «Das ist dein gutes Recht.» Nun wandten sich beide mir zu. Ich selbst hatte eigentlich gehen wollen. Zwar hatte ich keine Idee wohin, einfach nur fort. Doch ohne Floraidth war das ein Ding der Unmöglichkeit und so fügte ich mich.
«Vielleicht werden wir bald die Möglichkeit haben, uns an den Römern zu rächen. Ich habe mich heute mit Drystan beraten. Er kommt aus Camulodunum und laut ihm regt sich dort schon erster Widerstand. Und nicht nur dort. Glaubt mir, mit seinem Befehl hat Gereon den Römern mehr Schaden als Nutzen gebracht. Die Icener stehen geschlossen hinter uns.» Das einzig Wichtige an ihren Worten schien mir in jenem Moment der Name Gereon. Endlich hatte das Monster, welches unsere Schändung befohlen hatte, einen Namen.
Es war unsere Mutter, welche das Gesicht der Rebellion wurde. Sie war die Anführerin, sie war die Gallionsfigur. Meine Schwester und ich waren die zur Schau gestellten Opfer, das lebendige Beispiel dessen, was die Römer Britannien antaten. Doch die Opferrolle gefiel mir ebenso wenig wie ihr und während ich dem zu entgehen versuchte, in dem ich mich zurückzog, stürzte sie sich mitten in die Rebellion.
Sie machte sich daran, die unentschlossenen Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen und sogar Kampfunterricht erhielt sie von nun an. Es war nicht üblich, dass Frauen kämpften, aber da unsere Mutter einen ganzen Aufstand befehligte, konnte sie ihrer Tochter diesen Wunsch nicht abschlagen. Hätte sie es getan, wäre Floraidh heute vielleicht noch am Leben. Aber darüber nachzudenken, was hätte sein können, bringt sie auch nicht zurück.
Zu Beginn, wenn auch nicht aktiv dabei, unterstütze ich die Pläne meiner Mutter und meiner Schwester. Die Römer mussten für das, was sie unserem Land antaten bestraft werden. Ich hörte von dem Sieg, den unsere Stämme in Camulodunum errangen und feierte mit allen anderen. Während der Schlacht hatte ich mich in einer Siedlung südlich der Stadt aufgehalten und so war ich nie in die Verlegenheit gekommen, die Zerstörung mit eigenen Augen zu sehen.
Anders in Londinium. Diesmal bestand unsere Mutter darauf, dass wir uns öffentlich am Rande des Schlachtfeldes zeigten. Erst als die Schlacht begann, zogen wir uns zurück, denn sie mochte zwar eine Anführerin sein, doch keine Kriegerin. Ebenso wenig ich und Floraidh, obwohl letztere das Gefühl hatte, sich beweisen zu müssen. Diesmal liess sie sich von unserer Mutter aber noch in die Schranken weisen und wir beobachteten das Blutbad von Weitem.
Das Einprägsamste waren nicht die Schreie und Rufe, nicht das Klirren von Stahl. Es waren die Rauchschwaden, welche zuerst vereinzelt aufstiegen und nach und nach zu einer grossen Rauchsäule verschmolzen. Die Hitze, die selbst aus der grossen Entfernung auf ihrer Haut brannte. Der Geruch nach verbranntem Fleisch.
Je weiter die Nacht fortschritt, desto grösser wurde mein Grauen. Irgendwann wandte ich mich ab, allerdings war das Bild noch immer so deutlich, dass es auch keinen Unterschied mehr gemacht hätte, wäre ich geblieben.
Als ich mich in jener Nacht unter meinen Decken wand, galt mein einziger Gedanke der Flucht. Ich wollte mir ein Pferd schnappen und einfach weg, egal wohin, egal mit wem. Ja, selbst meine Schwester hätte ich in jenem Moment zurückgelassen. Doch obwohl wir uns in den letzten Monaten entfremdet hatten, musste unsere Verbindung doch noch irgendwo vorhanden sein, denn gerade als ich in Gedanken durchging, wie ich unentdeckt das Lager verlassen konnte, begann sie zu sprechen.
«Ich weiss, der Anblick heute war schrecklich. Aber es gibt keinen Krieg ohne Opfer.» Die Decken raschelten als sie sich aufsetzte und ich tat es ihr gleich, obwohl wir uns in der Dunkelheit kaum erkennen konnten
«Das ist kein Krieg, das ist ein Blutbad. Und ich bin nicht bereit, weiter dabei zu stehen und die Männer auch noch dabei zu ermutigen, sich in den Tod zu stürzen.»
«Dann willst du sie also dazu ermutigen, weiter in Knechtschaft zu leben?»
Es war nicht dieser Satz, der die Erkenntnis in mir hervorbrachte, es war die triefende Verachtung in ihrer Stimme, die so sehr jener von Gereon glich, als er versucht hatte, uns vor dem Volk blosszustellen.
«Wir sind nicht besser als die Römer.» Innerhalb eines Wimpernschlages war Floraidh auf den Beinen.
«Wie kannst du das sagen! Gerade du hast am eigenen Leibe erfahren, wie barbarisch sie sind. Von ihrer so hoch gepriesenen Zivilisation war nichts zu spüren, als sie uns genommen haben. Oder hast du es etwa geno…» Sie hielt zwar inne, aber es war zu spät. Zu spät, um den begonnenen Satz zurückzunehmen. Auch das gestammelte «Du weisst ich wollte nicht…» war vergebens. Doch zu meinem eigenen Erstaunen blieb ich ruhig. Das Band unserer innigen Verbindung war mit diesem Satz für immer durchtrennt worden, aber ich konnte sie nicht anschreien. Ich wollte, dass sie begriff.
«Denkst du unsere Männer sind besser? Was glaubst du, machen sie dort mit den jungen Römerinnen, hm? Führen sie aus der Stadt hinaus? Oder lassen sie alle unberührt?» Nun erhob ich mich doch. «Du wolltest doch unbedingt zum Schlachtfeld, dann komm. Lass uns nachsehen wie ruhmreich unsere Truppen heute gewonnen haben.»
Floraidh zögerte kurz, ehe sie mir aus dem Zelt folgte. Es war früher Morgen, was durch die immer noch schwelenden Feuer beinahe in Vergessenheit geriet. Mir war auf einen Blick klar, dass es uns nicht gelingen würde, ungesehen an die Pferde heran zu kommen, also wählte ich den offiziellen Weg.
«Raik.» Der junge Mann von knapp zwanzig Jahren wandte sich überrascht um.
«Was kann ich für euch beide tun?» Auch wenn wir einander nicht gleichgestellt waren, als Myrddins Sohn war er in unserer Kindheit immer in der Nähe gewesen und so war eine Art Freundschaft zwischen dem Sohn des Wachmannes und mir entstanden. Es war keine allzu tiefgehende Freundschaft, aber ich hoffte, dass sie ausreichte, um ihn dazu zu bewegen uns zu helfen.
«Ich möchte mit Floraidh an den Rand des Schlachtfeldes reiten, wenn ich das richtig gesehen habe, ist der Kampf vorüber.» Er wirkte nicht verärgert, eher überrascht, wahrscheinlich weil die Worte von mir und nicht von meiner Schwester kamen.
«Was wollt ihr dort?»
«Ich will nicht mehr nur Geschichten hören, ich will es mit eigenen Augen sehen. Von Nahem.» Den wahren Grund behielt ich für mich, Raik hatte seinen Vater erst vor kurzer Zeit an die Römer verloren und ich war mir nicht sicher, ob er für meine Argumente viel zugänglicher war als Floraidh.
Unsicher sah er sich um, aber kaum jemand schenkte uns Beachtung und Mutter war auch nicht zu sehen. «Ich weiss nicht…»
«Jetzt zier dich nicht so. Mutter hat uns dazu gezwungen, das Gemetzel von Weitem mit anzusehen, da können wir jetzt genau so gut etwas näher herangehen.» In jenem Moment war meine Entschlossenheit um einiges stärker als mein sonstiges Pflichtgefühl und Raik schien einzusehen, dass es besser war uns zu begleiten, als zu riskieren, dass wir uns von selbst davon machten.
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«Und?» Ich erhielt keine Antwort, hatte aber auch nicht wirklich eine erwartet. Doch ihr Anblick als ich mich umwandte, liess mich fast ein schlechtes Gewissen verspüren. Vielleicht trat ihre Blässe auch nur so stark hervor, weil alles andere um sie herum russgeschwärzt war.
Ich entschied, dass es genug war und führte sie vom Schlachtfeld, nicht nur ihr zu liebe, auch ich spürte, wie meine Beine langsam weich wurden. Wir hatten zwar genau das zu sehen bekommen, was ich erwartet hatte, doch die Realität gestaltete sich in diesem Fall noch um einiges brutaler als die kühnste Vorstellung.
Leichen türmten sich wie Sandsäcke, zumindest diejenigen, welche nicht den Flammen zu Opfer gefallen waren. Unter ihnen waren unzählige Frauen und Kinder. Sie erwischten sogar noch einige ihrer Soldaten dabei, wie sie die Leichen plünderten. Selbst Raik, der selbst einen schwelenden Hass gegen die Römer hegte, war angewidert. Schweigend machten wir uns auf den Rückweg zum Lager.
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Nach einer Schlacht dieses Ausmasses hatte ich gehofft, dass nun endlich wieder Ruhe einkehren würde, da beide Seiten begreifen mussten, dass es keinen Gewinner geben konnte. Doch die Stämme hatten Blut geleckt und so war es nur eine Frage weniger Wochen, bis unsere Truppen Verulamium überfielen und auch dort alles dem Erdboden gleichmachten.
Ja, ich war zu jenem Zeitpunkt noch immer bei den Truppen meiner Mutter. Denn nach dem Anblick des Schlachtfeldes war Floraidh noch verstörter als zuvor und ich wollte sie nicht alleine lassen. Auch wenn ihre Worte mich tief verletzt hatten und es niemals mehr werden konnte wie zuvor, sie war nunmal meine kleine Schwester und ich trug die Verantwortung. Ich hätte sie nicht auf das Schlachtfeld mitnehmen dürfen... Was ich bis heute von alledem am meisten bereue ist, dass wir nie mehr die Gelegenheit erhielten, uns auszusprechen.
Da ich schon seit Wochen nicht mehr geschlafen hatte, hatte ich mich dazu hinreissen lassen, hin und wieder etwas Mohn in meinen abendlichen Tee zu geben, denn die Wochen des Schlafmangels zerrten nicht nur an meinen Nerven, sondern auch an meiner Gesundheit. Der Mohn sorgte jedoch dafür, dass ich erst erwachte, als ein ohrenbetäubender Tumult um unser Zelt herum ausgebrochen war.
Ein Blick nach draussen zeigte, dass die Männer sich kampfbereit machten, was mich doch wunderte, denn der «Sieg» über Verulamium lag erst wenige Tage zurück.
«Was ist los?», fragte ich noch während ich ein Tuch um meine Schultern schlang. Mutter stand nahe von meinem Zelt und ich brauchte nur wenige Schritte, um den Abstand zu ihr zu überbrücken.
«Unsere Späher sind zurückgekehrt, die Römer sammeln sich zur Schlacht.» Die Männer wirkten zwar hektisch, ansonsten aber nicht weiter beunruhigt. Ich hörte sogar, wie einige von ihnen scherzten. Wahrscheinlich darüber, wer die meisten Römer ermordete.
Was mir in jenem Moment Kopfzerbrechen bereitete waren aber nicht diejenigen Menschen die da waren, sondern einer der fehlte. «Und wo ist Floraidh?» Mit einem Schlag wich jegliche Farbe aus Mutters Gesicht.
«Sie ist nicht bei dir im Zelt?»
«Nein…» Panik befiel mich, doch war mir da schon klar, dass wir sie nicht mehr rechtzeitig finden würden. Die ersten Reihen machten sich bereits auf den Weg.
Die Stunden vergingen und ich wich Mutter nicht von der Seite. Trotz allem war sie noch immer die Frau, die mich auf die Welt gebracht hatte und das einzige Familienmitglied, das mir noch verblieben war. Von ihrer Stärke, die sie in den vorangegangenen Monaten ausgestrahlt hatte, war jedoch nicht mehr viel zu sehen und ich sah keinen Weg, ihre Sorgen zu zerstreuen. Ich wollte weder ihr noch mir selbst etwas vorlügen.
Obwohl die Streitmacht der Römer unserer zahlenmässig unterlegen war, hielten wir uns deutlich weiter vom Schlachtfeld entfernt als in Londinium. So erfuhren wir erst vom Ausgang der Schlacht, als eine Handvoll verletzter Soldaten herangeritten kam. Den einzigen Rat den sie uns geben konnten war, zu verschwinden, ehe die Römer uns in die Finger bekamen.
Es war keine gewöhnliche Niederlage, unsere Armee war zerschmettert. Das wussten die Römer und das wussten wir. Rückzug war die einzige Möglichkeit, um dem verbliebenen Rest eine Chance zum Überleben zu liefern und nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte, gab Mutter dann auch tatsächlich den Befehl zum Rückzug.
In einer Art Trance schwang ich mich auf den Rücken meines Pferdes. Die junge Stute war unruhig, fügte sich aber, als ich sie mit den Füssen zum Galopp antrieb. Nur schlug ich nicht dieselbe Richtung ein wie die anderen. Ich war nicht so lebensmüde, dass ich direkt auf das Schlachtfeld zuritt, aber in mein gewohntes Leben zurückkehren erschien mir genau so verrückt.
Erst nach langer Zeit bemerkte ich, dass ich verfolgt wurde, war aber verwirrt, dass der Verfolger nichts getan hatte um mich aufzuhalten. Das Pferd wurde langsamer und ich nahm mir die Zeit, einen Blick über die Schulter zu werfen.
«Wohin soll es denn gehen?» Raik war von oben bis unten mit Blut befleckt und sein etwas gezwungenes Lächeln zeigte mir, dass sicher nicht alles vom Feind stammte.
«Keine Ahnung.»
«Dann haben wir wohl dieselbe Richtung.»
Offenbar hatte ich unsere Freundschaft unterschätzt. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir niemanden ausser einander mehr haben, aber jetzt, drei Jahre nach dem Krieg, sind wir immer noch gemeinsam unterwegs. Natürlich habe ich gehört, dass auch meine Mutter von dieser Welt schied. Ich hoffe, sie hat dort ihren Frieden gefunden.
Manchmal bereue ich es noch, dass ich nicht doch auf das Schlachtfeld zurückgekehrt bin und wenigstens versucht habe Floraidh zu finden, aber ich glaube sie hätte nicht gewollt, dass auch ich mein Leben aufgebe.
Der Krieg, so schrecklich er war, wurde von beiden Seiten geführt und obwohl unsere Stämme verloren haben, liegt mein einziger Trost darin, dass das Gemetzel vorbei ist – vorerst.