Es war einmal eine überaus schöne junge Frau, die sich in einen ebenso gutaussehenden jungen Mann verliebte.
Sie war das süßeste Mädchen, das er nur kennen konnte: Wann immer sie nervös wurde, lutschte sie einen kirschroten Lolly. Wann immer sie traurig wurde, lutschte sie einen kohlrabenschwarzen Lolly. Wann immer sie sich glücklich fühlte, lutschte sie einen regenbogenfarbenen Lolly.
Sie war wirklich süß, dachte er sich. Auch ihre Freunde nannten sie nur Lolly, weil sie ein durch und durch süßer Mensch war. (Außerdem führte der Name Loreley, wie sie mit vollem Namen hieß, für gewöhnlich nicht in eine glücklichen Beziehung.)
Wie es oft mit gutaussehenden Menschen ist, verlobte sich auch dieses glückliche Paar. Die junge Lolly begnügte sich Monate lang mit regenbogenfarbenen Lutschern. Dieser Mann war die Liebe ihres Lebens!
Sie aber nicht seine.
Eines Tages hatte er von ihrer zuckersüßen Art genug. Es kam, wie es kommen musste: Er verließ sie ohne Vorwarnung und suchte sich ein anderes Mädchen, das er begehren konnte.
Als sie erfuhr, welch frevelhafte Tat ihr Geliebter begangen hatte, brach für Lolly eine Welt zusammen. Sie war am Boden zerstört. Musste es an ihrem Hochzeitstag passieren? Nach einer Nacht des nervösen Kirschlutscherkauens?
Ihr Herz drohte in ihrer Brust zu zerspringen, ihre Seele drohte sie zu verlassen. Sie weinte und weinte und weinte...
Bis sie sich eines sehr frühen Morgens dazu entschied, einen Spaziergang zu unternehmen. Doch war sie noch immer blind für die lebendige Schönheit, die sie umgab. Gerade, als die Sonne den Horizont in morgendlicher Zärtlichkeit küsste, überquerte sie die Golden Gate Bridge.
Das Licht schien aus den Nebelschwaden zu kommen, die vom Wasser aufstiegen und um die Brücke waberten. Die Sonnenstrahlen schienen sie einzuhüllen und ihr den Weg zu zeigen. Auf der Hälfte der Brücke hielt sie inne. Sie sah sich nach allen Seiten um. Sie war allein. Allein, wie sie noch nie zuvor gewesen war.
Mit Leichtigkeit erklomm sie das Brückengeländer und blickte in das ewige, rauchige Wasser hinab.
Es ist ein weiter Weg nach unten.... aber... es ist mein Weg, erkannte sie.
Ein letztes Mal sah sich die junge Lolly um, dann stieß sie sich ab und sprang in den Abgrund.
Minuten später öffnete sie ihre Augen. Weiße Wolken und weicher federleichter, fluffiger Stoff hüllten sie ein.
Das muss der Himmel sein!, dachte sie. Es fühlt sie an wie der Himmel.
Ein Mann trat mit Vorsicht auf sie zu. Er sah alt aus, hatte freundliche, silbern schimmernde Augen und einen weißen, gewellten Bart, der sein Gesicht umrahmte und bis sich bis auf seinen Bauch ausbreitete. Sanft sprach er sie an und lauschte ihr traurigen und schmerzvollen Erzählung.
Dann zog er eine Pfeiffe hervor, zündete sie an und erklärte ihr, ein Baumwollschiffer zu sein, der ihren Sprung nur durch Zufall abgefedert hatte. So war dies doch nicht der Himmel. (Wenn er neben Baumwolle auch Zuckerwatte schiffte, dann wäre sie recht zufrieden mit ihrer neuen Umgebung.)
Der alte Mann mit den silberscheinenden Augen und dem weißen Bart zog noch einmal an seiner Pfeiffe.
"Lass dich nicht fallen, mein Mädchen. Das Leben ist wundervoll."
Obwohl sie mit Enttäuschung feststellen musste, dass er tatsächlich nur Wolle und keine Zuckerwatte fuhr, nahm sie doch gern das Jobangebot an, das er ihr unterbreitete: Lolly würde Kuratorin des goldenen Scheins der Golden Gate Bridge sein und begann schon am nächsten Morgen damit, das Brückengeländer in goldener Farbe zu streichen.
Während sie malte, stand ein großer, mit goldener Farbe gefüllter Eimer neben ihr und in ihrer Hand hielt sie stets einen goldbeklecksten Pinsel, auf ihrem Kopf saß ein großes Paar Kopfhörer, mit dem sie zum Zeitvertreib Musik hörte. Gelegentlich sang sie mit, wenn ihr die Lieder gefielen. Und immer öfter tanzte sie hoch oben über das Geländer, während sie die Streben über ihrem Kopf strich.
Da sie vollkommen in ihrer neuen Tätigkeit gefangen war, bemerkte sie nicht ihren ehemaligen Verlobten, der sich der Brücke näherte.
Natürlich erkannte er sie sofort - und beinahe blieb sein Herz stehen. Sie könnte jeden Moment von der Brücke springen! Das dürfte er nicht zulassen! Ihr süße Persönlichkeit würde, wenn nicht ihm, dann der Welt fehlen.
So rannte er los und kletterte eilig das Brückengeländer hinauf, um sie zu fassen zu kriegen, eh sie sich in den sicheren Tod stürzen würde.
Unglücklicherweise jedoch rutschte er auf der frischen goldenen Farbschicht aus, stieß einen Schrei der Überraschung aus und stürzte hinab in die Tiefen. Minuten später traf er die Wasseroberfäche.
Als Lolly nach getaner Arbeit ihr Werk begutachtete, entdeckte sie Fußspuren in der goldenen Farbe. Sie runzelte die Stirn, seufzte und begann von Neuem.
Tag für Tag erklommen Männer das Brückengeländer, um sie von ihrem vermeintlichen Ende abzuhalten. Doch jedes Mal, wenn sie ihr nahe kamen, rutschten sie auf der frisch verteilten Farbe aus und fanden ihr eigenes Ende im kalten Wasser unter ihnen.
Gelegentlich hörte sie Rufe und Schreie, doch sobald sie sich umsah, konnte sie niemanden entdecken. Wollte Lolly dort weiter machen, wo sie ihre Arbeit unterbrochen hatte, entdeckte sie Schmierereien und Unebenheiten in der aufgetragenen Farbe. Doch woher sie kamen, das konnte sie nicht sagen.
Lolly schürzte die Lippen, drehte die Musik noch ein Stückchen lauter und begann von vorn.
Und so sang die Loreley fröhlich ihre Lieder.