»Geh da weg, Evyn!«, grollt mein Vater wild gestikulierend und klettert hinter mir her über die Steine.
Das Spritzwasser macht deren Oberfläche glitschig. An Land gespülte Gräser und Schlangpflanzen, die an der rauen Felsenhaut haften bleiben, erschweren ihm die ungewollte Verfolgungsjagd.
Ich drehe mich um, sehe, wie er mit den Armen rudert und die Lippen zu einem Lächeln verzieht, während er breitbeinig von Fels zu Fels hüpft und dennoch nicht zu mir aufschließen kann.
»Du wirst ins Wasser fallen!«, warnt er mich, aber ich lache nur über ihn.
Was nass ist, kann trocknen. Diesen Weg nicht zu gehen, wäre das größere Übel. Ein vergeudeter Tag ohne Lachen. Und mein Vater weiß das. Er weiß es, weil der Spruch von ihm stammt. Weil er der letzte Mensch auf Erden ist, der sich Sorgen um ein paar nasse Schuhe macht.
»Du kleines Ungeheuer!«, ruft er mir nach. »Es wird bald dunkel und kalt. Wir müssen-«
»Ich will die Lichter sehen!«, widerspreche ich stur. »Sie werden bald hier sein.«
»Das kann noch dauern, bis es dunkel wird.«
»Dann warten wir eben, bis es dunkel wird.«
Ich beharre darauf, während ich mit einem Satz auf den nächsten Felsen springe. Mein Vater ist ein kluger Mann, ein geschickter Zauberer mit den Händen, aber ein furchtbar unbegabter Kletterer. Allein, dass er versucht, mich einzuholen, und wie eine bleierne Ente über die Steine wackelt, wirkt, als würde er sich selbst verspotten.
Wenn man etwas nicht kann, sollte man es lassen, sagt er immer, aber wenn man es versuchen will, dann ist es fatal, einfach aufzugeben.
»Vom Strand aus kann man die Lichter genauso gut sehen, du sture Kröte!«
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen und verliere das Gleichgewicht. Mit den Armen rudernd gelingt es mir, mich auf den nächsten Felsen zu retten. Meine Stiefel rutschen ab. Je weiter wir uns in die Hände des Meeres begeben, desto schwieriger wird es, auf den glitschigen Steinen Halt zu finden.
Wir sind allein. Nur er und ich und das Meer, so wie immer. Der Rest der Familie hat kein Interesse daran, den sicheren Hafen zu verlassen. Vater und ich sind anders. Wir brauchen das Rauschen der Wellen, das Flattern dichtgewachsener Baumkronen im Wind, das Knistern frisch gefallenen Schnees unter den Schuhen. Wir sind Abteurer, Entdecker. Wir sind nicht wie die Anderen bei uns im Dorf. Was den Rest unserer Leute glücklich macht, ist für uns nur ein Käfig, in dem wir langsam sterben.
Ab und an, wenn uns das Fell juckt und der Alltag unerträglich wird, packt mich Vater ein, ein paar Vorräte und reist mit mir ans Meer. An schneebedeckte Strände, die steifgefrorene Grashalme überwuchern, bis der Sand zwischen ihnen zur Nebensache wird.
Die salzige Seeluft reißt an unseren Haaren, sie peitscht uns ins Gesicht. Ich fühle mich lebendiger, als im ganzen letzten Jahr. Im Sturm steckt Freiheit, im Wasser das Leben. Ich wusste schon sehr früh, dass ich nicht wie die anderen Mädchen bin, dass einen Mann finden und eine Familie haben, mir nicht ausreichen, mich nie ganz erfüllen wird. Es ist das Meer, nach dem ich mich sehne, seine unüberwindbare Weite, die Schönheit des glänzenden Wassers und seine Kraft, alle Mauern zu durchbrechen. Ich will ein Schiff sein, das auf den Fluten tanzt und sich knirschend im Wind wiegt, ohne Hafen, ohne Ziel. Ruhelos dahintreiben. Jeden Tag an einen anderen Ort. Ich will dem Ruf der Weite folgen und sehen, wohin mich die Winde lenken.
Und tief in seinem Herzen ist mein Vater genauso.
Als der dämmrige Himmel plötzlich nicht weiter finster wird, bleibe ich stehen, öffne den Mund und hebe das Gesicht dem Himmel entgegen. Ich höre auf, davonzulaufen und warte, bis Vater mich lachend einholt. Nun, da der Rückweg länger ist, als der Weg hinaus aufs Wasser, fürchte ich nicht mehr, dass er mich zurückziehen und in Sicherheit bringen könnte.
Er nimmt meine Hand fest in seine und folgt meinem Beispiel. Gedankenverloren starren wir in den violetten Abendhimmel, in den sich sanft erste Schlieren aus hellem Grün und gleißendem Blau mischen. Hier, über dem Wasser sind die Bilder, die das Universum auf die Haut Andheras malt, am stärksten zu sehen. Hier, fernab der Welt, wo niemand ist und niemand hinkommt, scheinen die Himmelswinde bunte Farben in die Wolken zu malen.
»Sag mir, wie«, murmel ich.
Mein Vater lacht. Es ist ein helles, freundliches Lachen. Zuhause lacht er selten und wenn, dann nicht so frei. Die Arbeit ist hart, nur wenn die Lichter der Hütten nicht mehr brennen und Stille um uns ist, empfinden wir wahre Freiheit. Meine Familie kommt aus den Bergen. Wir sind wild, naturverbunden und spielen nicht nach den Regeln der Menschen. Die gläserne Stadt ist weit entfernt. Ihr wachsames Auge streift uns nur selten. Wir sind uninteressant für den Rest der Welt, weil wir nichts besitzen und nichts verlangen. Was immer wir brauchen, wir sorgen selbst dafür.
Das Leben im Ödland hat seinen Preis. Harte, körperliche Arbeit, aufstehen, wenn die Sonne aufgeht und einschlafen, wenn die Kerzen erlöschen. Aber hier draußen sind wir frei.
»Wie ist es möglich, dass all diese Lichter da oben sind?«, stelle ich meine Frage neu und beobachte immer mehr Himmelswinde, die sich in Form vieler bunter Farben zwischen den Wolken hindurchschlängeln.
Himmelslichter. Unendlich viele von ihnen.
Wenn jemand die Antwort kennt, dann er. Vater kennt all die kleinen Wahrheiten und Geschichten, die das Universum birgt.
»Diese Lichter entstehen, wenn der Wind aus dem schwarzen Mantel außerhalb dieser Welt an der Oberfläche Andheras kratzt«, erwidert Vater und drückt meine Hand fester. »Wäre es dir lieber, wenn die Götter sie gemacht hätten?«
»Nein«, antworte ich andächtig.
»Gut. Schließlich gab es schon ein Leben vor Göttern, vor uns, vor diesen Lichtern.«
Aus den Augenwinkeln blicke ich zu ihm hin und sehe ein Echo des Farbensturms auf seinem Gesicht. Obwohl er dieses Spektakel schon Hunderte von Malen gesehen hat, wird er niemals müde, es zu betrachten und ich weiß genau, was er dabei empfindet.
»Denkst du das wirklich?«
Vater nickt. Er schließt die Augen und ich fühle, wie das Farbenspiel in seine Seele dringt. »Wer weiß«, sagt er. »Vielleicht wirst du sie sehen, eines Tages. Vielleicht hält Andhera für dich längst eine Geschichte bereit, die meinen Horizont überschreitet.«
Ich nicke, tu es ihm gleich und schließe die Augen. Bis die Dunkelheit uns einholt, steht dieser Gedanke zwischen uns. Er verbindet uns, jetzt und für immer. Unter diesem und jedem anderen Himmel.