Der Bichlberger ist ja, so wie die meisten Österreicher, ein latenter Rassist: Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörigkeit eines Menschen waren ihm schon immer herzlich egal. Aber die Wiener hätte er nicht gebraucht. Und diesen hier ganz besonders nicht.
Für einen, der unter einem schwarzen Anzug ein pink-gestreiftes Hemd anhatte war es zwar reichlich gewagt, trotzdem hatte der Kollege sofort den Chef raushängen lassen. So weit war der Plan also aufgegangen. Dummerweise schien der Mann aber ein gewisses Mass an Mitarbeit zu erwarten, was der Bichlberger eigentlich hatte vermeiden wollen. Es war nämlich sein freier Tag.
Blitze erhellten die Halle, der Wiener flippte umgehend aus: "Was soll denn das bitte? Wo kommt denn der Pressefutzi auf einmal her! Raus hier, aber schnell!"
Da war es. Das Wienerische. Das für nicht-Hauptstädter grantig und arrogant klingt, mit deutlich genervtem Unterton.
"Das ist der Christoph." Erklärte sofort, und nicht ohne Stolz, eine betagte Dame im altrosa Morgenmantel mit sehr vielen Rüschen. "Weil der Junge doch gerade erst angefangen hat bei der Zeitung und wir praktisch Nachbarn sind, dachte ich ..."
"Das darf ja wohl nicht wahr sein. Und überhaupt", der Salinger hatte sich zum Bichlberger umgedreht, "sagen Sie, wo kommen denn die ganzen Leute da draußen her? Sehen Sie zu, dass die verschwinden, bitte!"
Weil im Wienerischen das Wort "Bitte", vor allem wenn es am Ende eines Satzes steht, ebensogut durch das nicht weniger wienerische "du Vollkoffer" ersetzt werden kann, und daher nicht mit restösterreichischen Maßstäben zu messen war, beschloss der Bichlberger instinktiv nicht näher auf den Vorschlag einzugehen.
"Die Reisegruppe von der Burgi", beeilte sich die Dame in Rosa.
"Und auf was warten die, bitte?"
"Na, auf den Bus nach Medjugorje. Also den Karli eigentlich. Der den Bus fahren wird. Er ist mein Enkelsohn, wissen Sie?"
"Das ist ein Tatort. Hier fährt bis auf weiteres niemand irgendwo hin."
Diese Gefahr bestand seit über einer Stunde nicht mehr. Seit der Karli nämlich beschlossen hatte, noch ein Schläfchen zu machen. Bis zum Eintreffen der Spurensicherung war er natürlich geblieben, und hatte sich ernsthaft bemüht Anteilnahme und aufrichtiges Mitgefühl auszustrahlen. Er wusste schließlich, was sich gehörte. Da der Karli es aber mit Menschen nicht so hatte, die aber immer mehr wurden, befand er nach einiger Zeit er könne genau so gut von Bett aus weiter strahlen, und legte sich wieder hin.
Er war ja damals sowieso nicht ganz freiwillig in das Familienunternehmen eingestiegen. Der Busführerschein war ihm einfach in die Wiege gelegt worden. Nachdem er zum achten mal zur Prüfung angetreten war, hatte er ihn herausnehmen müssen. Leider hatte sein Vater die sieben dezenten Hinweise davor nicht verstanden. Karli hatte sich im Anschluss gezwungen gesehen, zu härteren Maßnahmen zu greifen. Bis sein alter Herr endlich ausgeflippt war und ihm verboten hatte, sich jemals wieder hinter ein Steuer zu setzten.
Ganze drei Buse hatte Karli dafür schrotten müssen. Dem ersten war eine zu niedrige Unterführung zum Verhängnis geworden. Der zweite war irgendwie in die Donau gerollt, und der dritte war auf einem Autobahnparkplatz ausgebrannt, während Karli ein Toilettenhäuschen hatte aufsuchen müssen. Natürlich waren alle drei Fahrzeuge leer gewesen. Der Karli hatte ja keinerlei Ambitionen in Richtung Massenmörder.
Oder überhaupt Ambitionen.
Unglücklicherweise brachte der darauf folgende, und in der Familiengeschichte einzig bekannte Wutausbruch des Vaters Karlis Oma zum Weinen. Was in Karlis Leben in etwa einem mittleren Supergau gleich kam. Darum musste er sich bis auf weiteres zusammenreissen. Zumindest, bis die Lage sich entspannte, oder Omi das Zeitliche segnete. Je nach dem, was zuerst der Fall wäre.
Sein letzter Funken Hoffnung war erloschen, als sein Vater sich aus dem Staub machte. Einfach alles hinschmiss, und nur, weil er das Pensionsalter erreicht hatte. Nie im Leben hätte er ihm so viel Egoismus zugetraut, mit dem Motorrad zu einer Weltreise aufzubrechen und ihn, den kleinen Karl, mitsamt der Firma kaltblütig im Stich zu lassen. Na gut. Er war damals 32 Jahre alt gewesen und hatte schon die meisten seiner Tätowierungen gehabt. Aber trotzdem!
Karlis Arbeitseifer hatte sich also im Laufe der Jahre den Umständen entsprechend auf etwa knapp über Bodenniveau eingependelt.
"Da wäre", setzte ein junger Streifenpolizist an, der leider an diesem Tag Dienst hatte und wurde sofort von einem unwirschen, "Was ist denn?" unterbrochen.
"Die Hanna", er deutete vorsichtig in Richtung Hintertür, "wartet schon geraume Zeit, weil sie ihnen etwas sagen möchte."
"Die Dicke da auf der Seite? In dem gelben Regenmantel? Was will sie denn, die Hanna?" Der Salinger war halt so - genervt.
"Keine Ahnung. Sie will es nur Ihnen sagen."
Das war gelogen. Sie wollte es dem Bichlberger sagen. Aber der Bichlberger wollte es, einer seltsamen Vorahnung folgend, lieber nicht wissen.
"Was ist denn?", blaffte der Salinger in Richtung draußen. "Was wollen sie mir denn erzählen, das so wahnsinnig interessant ist?"
"Ach. Nur", meinte Hanna beiläufig unter dem gelben Regenmantel, "dass der Nikolaus mit heruntergelassenen Hosen in meinem Weidezaun hängt. Aber", sie machte eine kurze Pause, "ich kann es natürlich auch dem Pressefutzi erzählen. Vielleicht findet der es ja spannend."
Dem Salinger entgleisten die Gesichtszüge.
"Eier?", fragte der Bichlberger in einem seltenen Anfall von Professionalität.
"Keine Eier", verneinte die Frau unter der Kapuze nachdenklich und ließ ihren Blick ein letztes mal über diese unwirkliche Szene schweifen. "Ostereier auch nicht."