Auf dem Parkplatz vor der Busgarage, auf dem sich ursprünglich fromme Pilger versammelt hatten, oder zumindest ein überschaubares Grüppchen von Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen so taten als ob, drückte inzwischen ein sensationslüsternder Mob gegen das polizeiliche Absperrband.
Manchmal ist die Neugier einfach größer als das Entsetzen. Wer eine derartige Kulisse nicht sofort verlässt, hält sich in der Regel für abgebrüht genug, um das Geschehen bis zum bitteren Ende mit wohligem Schaudern zu beobachten und da und dort einen fachlichen Kommentar für seine Mitmenschen anzubringen. Fernsehen bildet.
Der Bichlberger war am Tatort geblieben. Auch zwei Männer der Spurensicherung waren noch da. Und Christoph. Der Fotograf. Und Journalist. Und Layouter. Die Vöcklabrucker Tips ist eine kleine Zeitung. Da sind Alrounder gefragt.
Eines Tages, da war er sicher, würde er es mit einem Foto in den Spiegel schaffen. Oder für die Presse schreiben. Ja, Chris hatte langfristig vor, nach den Sternen zu greifen.
Weil die Gratiszeitung ihn natürlich nicht wirklich bezahlte, wohnte er bis dahin kostenlos bei seinem Opa.
Der Zufall hatte ihm diese riesen Chance beschert, zu einer Uhrzeit, die er sonst nur von Hörensagen kannte. Und doch war er hier. Als erster. Hellwach! Gott sei Dank war ihm heute Morgen das Gras ausgegangen!
Gerade, als der Bichlberger sich überlegte, ein paar Kerzen vor das Tor zu schmeißen, die durchaus für kurzfristige Ablenkung der Betschwestern hätten sorgen können, erzielte er den entscheidenden Durchbruch! Die Identifizierung des Toten sei absolut vorrangig, hatte der Kollege noch gesagt, bevor er sich mit Hanna und dem Rest des Teams so unauffällig wie möglich durch die Hintertür in Richtung Weide davongemacht hatte.
Das Absperrband spannte sich bedrohlich vor den euphorisierten Wallfahrern, die sich Zentimeter für Zentimeter den Weg in das Innere der Fahrzeughalle vorarbeiteten. Davon unbeeindruckt schlossen die Herren von der Spurensicherung in aller Seelenruhe ihre Untersuchungen ab. Dabei verrutschte am unteren Ende der Leiche die Abdeckplane und gab den Blick auf eine Schuhsohle frei, an deren Absatz deutlich ein lilafarbener Klecks zu sehen war. Mehr hatte es nicht gebraucht.
"Jesus, Maria und Josef! Basti!", kam von draußen ein erstickter Schrei.
Der Bichlberger entschied sich für Letzteren.
Die gute Nachricht war, dass der Regen nachgelassen hatte. Die Schlechte, dass der Weg hinauf zur Weide trotzdem noch ein Bächlein war.
Alex fluchte leise vor sich hin, während sich seine Socken mit dreckigem Wasser vollsaugten. Die Stelle war keine zehn Minuten von der Garage entfernt. Aber ihm kam es vor, wie ein Tagesmarsch.
Er hatte es verflucht nochmal kommen sehen. Genau so. Er stapfte inmitten von Nichts einen Hang hinauf. Nichts außer Natur, und die hatte er noch nie leiden können. Jetzt kroch sie ihm in kalten Rinnsalen in den Nacken.
Als erste war Hanna oben angekommen. Der Gerichtsmediziner und das Team der Spurensicherung folgten unmittelbar dahinter. Mit leichtem Abstand hatte es auch der Salinger endlich geschafft.
Bis dahin hatte er noch geglaubt, der Hase wäre der skurrile Höhepunkt seiner einst so vielversprechenden Karriere gewesen. Oder wenigstens deren passendes Ende. Jetzt war er sich nicht mehr sicher.
Mit ausgestreckten Armen hing ein Toter in einem weit offenen roten Weihnachtsmann-mantel rücklings über einem Zaun, Hose und Unterhose an den Fußknöcheln.
Auf den ersten Blick hätte der Mann als Exhibitionist durchgehen können. Wenn er erstens nicht tot gewesen wäre, und zweitens noch etwas zum Herzeigen gehabt hätte. das Problem für den Salinger war definitiv zweitens.
Er spürte augenblicklich ein schmerzhaftes Brennen in der Lendengegend, das sich rasend schnell ausbreitete und Sekunden später die Speiseröhre hoch kam. Es erinnerte ihn unweigerlich an damals, als er den Nikolaus auf dem Weihnachtsmarkt beim Steffl hinter ein Glühweinstandl hatte kotzen sehen.
Als kleiner, als siebenjähriger Alex, hatte er an jenem Abend seinen Glauben verloren. Heute, mehr als dreißig Jahre später, hatte er die Hoffnung verloren. Die Hoffnung, diesen trostlosen Ort jemals wieder in Richtung Zivilisation, also Wien, verlassen zu können genauso, wie die Hoffnung jemals wieder trockene Füsse zu haben.
Darüber dachte er immer noch nach, als die Spurensicherung mit der Arbeit längst begonnen hatte.
"Ich gehe jetzt." Die Frau im gelben Regenmantel hatte sich bisher, soweit der Salinger es mitbekommen hatte, ein wenig abseits gehalten. Ihre Kapuze war noch immer tief ins Gesicht gezogen.
Er runzelte überrascht die Stirn. "Sie bleiben so lange, bis ich Ihnen sage, dass sie gehen können."
"Das sehe ich anders." Damit drehte sie sich um, ging ein paar Meter weiter bergauf und wandte sich dann nach links. "Ich habe alles gesagt. Aber wenn sie unbedingt meinen, können sie mir ihre Fragen auch zuhause stellen. Wo es warm ist. Und trocken." Und schon war sie zwischen Bäumen und Gebüsch aus seinem Blickfeld verschwunden.
Der Gerichtsmediziner grinste ihn blöde an.
Auf einmal stand der Bichlberger neben ihm. Ebenso, wie die beiden Herren, die vorhin mit ihm unten geblieben waren. Einer davon, der ältere, informierte den Salinger knapp, dass der Tote von dessen Ehefrau als Sebastian Lechner identifiziert worden sei.
"Hm." Na das ging schnell. Wenigstens etwas.
"Naja. Sie war zufällig schon da."
"Also dann." Er räusperte sich. "Hätten wir noch diesen hier."
Der Bichlberger riskierte einen genaueren Blick. Er würde sich ausschließlich auf die obere Körperhälfte konzentrieren!
"Mei", murmelte er. "Der Fenninger!"
Der Salinger dachte nach. "Sie kennen den Mann?"
Ein bedächtiges Nicken war die Antwort.
"Und den anderen? Kennen Sie den auch?"
"Schon."
"Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?!"
Das ganze Ausmaß dieser Sache, das sich langsam aber sicher abzuzeichnen begann, gefiel dem Bichlberger überhaupt nicht. Er wollte mit all dem nichts zu tun haben und überhörte den Salinger absichtlich.