Inzwischen hätte der Bichlberger aber wirklich eine ordentliche Mahlzeit vertragen können. Es war fast Mittag.
Er wunderte sich über den Salinger, der keinen Hunger zu haben schien. Der Mann sah ohne Zweifel aus wie ein Sportler und man sagte doch, Sportler würden eine ganze Menge essen. Aber davon, das musste der Bichlberger sich eingestehen, verstand er nichts. Vom Sport. Nicht vom Essen!
Aber der Salinger schien keine Pause zu brauchen. Nachdem er den Hang mit zusammengebissenen Zähnen wieder hinuntergeschlittert war, blätterte er, betont lässig an sein Auto gelehnt, in einem aufgeweichten Notizblock. "Hier sind wir wohl fertig." In seiner Stimme klang fast so etwas wie Erleichterung mit. "Bichlberger? Diese Frau da - von vorhin. Ich will sie heute noch sprechen." Es war nicht unbedingt so, dass der Salinger Hannas Aussage dringend gebraucht hätte. Sie würde vermutlich nicht mehr sagen können, als sie es bisher bereits getan hatte. Aber die Art, wie sie ihn heute morgen da oben einfach hatte stehen lassen, hatte sein Ego empfindlich verletzt.
"Da wird sie aber keine Freude haben!"
"Wie bitte?"
"Naja. Wenns extra nach Vöcklabruck kommen muss. Besser wär's, wir fahren kurz vorbei. Bei ihr." Der Bichlberger rechnete fest damit, bei Hanna ein Mittagessen zu bekommen. Sein Magen drängte ihn zu einem weiteren Versuch: "Ihren Gast sollte man vielleicht auch. Naja. Fragen. Wegen dem. Und so." Das Wort "Gast" betonte er dabei besonders.
"Ach! Da wohnt noch einer?"
Wenige Minuten später hielt der Bichlberger das Polizeiauto vor einem kleinen Bauernhaus, das alleine in einem hübschen Obstgarten stand. Der Salinger war ihm gefolgt und parkte seinen Porsche unmittelbar dahinter. Er war an der Busgarage gestartet, vorbei an der Stelle an der der steile Waldweg anfing der ihm endgültig den Tag versaut hatte, und dann weiter in einer langgezogenen Kurve ständig bergauf gefahren.
Orientierung schien nicht unbedingt eine Stärke des jungen Kollegen zu sein, denn er sah sich ratlos um. Dabei blieb sein Blick an dem Weg hängen, der unweit des Hauses in den dichten Wald führte.
"Der geht rüber bis zum Chris. So 400 Meter. Ziemlich in der Mitte ist der Tatort. Also - der zweite. Unterhalb vom Chris wohne dann eh schon ich."
"Was?"
"Ich sagte, unterhalb vom Chris wohne dann eh schon ich. Christoph. Der Fotograf. Von vorhin ...?"
"Nein, vorher!"
"Ich weiß jetzt nicht ..." der Bichlberger war verunsichert.
"Wollen sie mir gerade ernsthaft erzählen, ich hätte bis hier her fahren und dann gemütlich zum Tatort hinüber spazieren können, anstatt einen rutschigen, dreckigen Hang hinauf zu klettern?! Und wieder hinunter!"
"Oder bis hin halt."
Der Jüngere wirkte plötzlich enorm Schlaganfall-gefährdet. Bichlberger sagte lieber nichts mehr. Statt dessen verschwand er zügig um die Ecke, öffnete mit leichtem Druck eine Terrassentür und ging ins Haus. Dem Solinger blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterher zu laufen.
In einer überraschend modernen, hellen Küche stand Bichlberger vor dem Herd, und unterhielt sich mit einer Frau auf der anderen Seite der Kochinsel. In blond hätte sie genau in das Beuteschema vom Salinger gepasst. Zumindest würden jene die meinen ihn zu kennen, das über ihn sagen. Die Wahrheit ist, dass er noch nie besonders wählerisch war.
Am Anfang hatte er sich noch gefragt, wo all die Frauen überhaupt her kamen und sich gewundert, dass es gar so leicht war. Aber irgendwann war es nur noch, als würde er die Gezeiten beobachten: Ebbe und Flut. Sie kamen und gingen, es war praktisch immer das selbe, und endete nie.
Wenn man überhaupt eine Art Vorliebe erkennen könnte, wäre sie kaum von der Haarfarbe abhängig. Die Kriterien waren anderer Art. Sein System hatte noch Schwächen, war aber inzwischen so weit ausgereift, dass die Trefferquote recht zufriedenstellend war: Ausgelassen feiernd, Handtasche von George Gina und Lucy, Parfum von Donna Karan waren ein vielversprechender Anfang. Warum das so war, wusste er selbst noch nicht so genau.
Wenn er ein klares Ziel vor Augen hätte und es einmal nicht reichte sich nur auf sein gutes Aussehen zu verlassen, konnte der Salinger sogar umwerfend charmant sein!
Ein eindeutiges k.o.-Kriterium wäre ein Wiener Dialekt: Je weiter entfernt desto lieber, und vorzugsweise verheiratet. Die Damen wurde er relativ sicher ohne größere Probleme am nächsten Morgen wieder los.
Für schwierigere Fälle hatte er eine Reihe von Floskeln parat, die er bedarfsorientiert verwendete: "Hey! Ich verstehe doch, dass du zu deiner Familie zurückkehren musst. Auch, wenn es mir das Herz bricht. Du bist etwas so Besonderes. Nie würde ich dir weh tun, oder dein Glück zerstören wollen. Ich will dich, und die Erinnerung an unsere gemeinsame Nacht in meiner Seele tragen, so lange ich lebe." Sehr anrührend. Vor allem wenn geflüstert, in Verbindung mit einer festen aber zärtlichen Umarmung und einem letzten, leidenschaftlichen Kuss. Die Betonung liegt auf "letzten". Da war der Salinger gewöhnlich mit den Gedanken schon längst woanders...
Die Frau hinter der Kücheninsel nickte ihm andeutungsweise zu. "Ich hätte früher mit ihnen gerechnet. Wollen sie was?"
"Wie, Bitte?"
"Gemüselasagne. Wollen sie was?"
Der Bichlberger schaufelte sich gerade eine ordentliche Portion aus einer weißen Keramikform auf einen Teller.
"Und sie sind...?" fragte der Salinger leicht irritiert.
Hanna sah den Bichlberger fragend an. Der zuckte mit den Schultern, und beförderte sein Essen in Richtung Tisch.
"Magst eh ein Bier dazu?" Schon öffnete sie eine Flasche und goß den schäumenden Inhalt in ein hohes Glas. "Ihm sollten wir auch eines geben. Der sieht nicht gut aus!" Dabei musterte sie den Salinger von Kopf bis Fuß. Er hatte wohl versucht, sich die Schuhe sauber zu machen. Weil das nicht geglückt war, ergaben sie gemeinsam mit dem Dreck an beiden Hosenbeinen ein überraschend harmonisches Gesamtbild.
"Setzen sie sich." Die Frau nahm das Bierglas, ging damit um die Kücheninsel herum und stellte es vor dem Bichlberger wieder ab. Von hinten hätte der Salinger gar nichts von einer Schwangerschaft gemerkt. Wenn er sie sich in einem weiten Regenmantel vorstellte ... Da hatte er wohl nicht so genau hingesehen. Aber auch wenn er es getan hätte, den Unterschied zwischen schwanger und dick hatte er ohnehin nie wirklich verstanden. Für ihn gab es nämlich keinen. Ihm dämmerte aber langsam, wen er vor sich hatte.
Sie war etwas kleiner als der Salinger und blickte ihn aus grünen Augen direkt an. Eine Strähne hatte sich aus dem lockeren Knoten gelöst, der ihr braunes Haar am Hinterkopf zusammen hielt. Fast wäre er versucht gewesen, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen.
"Sie machen mich ganz nervös!" Sie hatte leise gesprochen und stand dabei so nah vor ihm, dass er meinte, ein leichtes Parfum an ihr zu riechen. Nur ein paar Sekunden lang, aber die hatten ausgereicht, um ihn für eine gefühlte Ewigkeit vollends aus dem Konzept zu bringen. Erklärung hatte er keine dafür.
"Wir wollen versuchen", fuhr sie ebenso ruhig fort, "ihre Schuhabdrücke auf eine möglichst kleine Fläche zu beschränken, ja? Setzten sie sich. Bitte!"
Alexander Salinger sah zu Boden. Unter seinen Sohlen hatte sich eine unschöne, matschige Stelle gebildet, die sich mit jedem Schritt auf den hellen Küchenfliesen vergrößerte. Mit einem mal war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Alex konnte nur noch an eines denken: die Fußmatte in seinem Sportwagen.